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Kapitel 1

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Zürich, Schweiz

Juli 2016

»Guten Tag, was darf es für Sie sein?« Hanna blieb vor dem Fremden an Tisch Sieben stehen und wartete geduldig auf Antwort. Normalerweise schweifte ihr Blick, abgelenkt durch das bunte Treiben auf dem Vorplatz der Universität, in die Ferne ab. Erst wenn der Kunde die Bestellung aufgab, wandte sich ihm Hanna wieder zu und lächelte höflich. Nicht so heute.

Vielleicht war es die Art, wie er sie begrüßte. Der Klang seiner melodiösen Stimme.

Oder dass seine schwarzen, halblangen Haare im Licht der Julisonne beinahe bläulich schimmerten.

Vermutlich aber lag es an der Art, wie er gleich bei ihrer Ankunft an seinem Tisch den Blick hob. Ein warmes Glitzern in zwei geheimnisvollen, dunklen Tümpeln, umrahmt von einem Kranz dichter Wimpern.

Er strich sich unentschlossen über die Stoppeln seines Dreitagebarts. Ein feines Lächeln umspielte die Mundwinkel.

»Was würden Sie denn empfehlen?«

»Nun, das ist einfach. Ich liebe den Café au Lait mit ordentlich Zucker und dazu ein Croissant mit dunkler Schokoladen-Glasur.« Sie fuchtelte mit der Hand durch die Luft, als müsse das Schokoladen-Topping erst noch auf dem Gebäck verteilt werden. Als sich Hanna dessen bewusst wurde, war es leider zu spät. Ihre Mutter hatte sie weiß Gott oft genug auf ihre Marotte hingewiesen. Offenbar ohne Erfolg. Sie strich sich eine imaginäre Haarsträhne hinters Ohr und schwieg.

Der Fremde musterte sie amüsiert, sagte aber kein Wort. Das löste in Hanna unweigerlich einen Plapperimpuls aus. »Man kann sich jetzt selbstverständlich darüber streiten, ob Milch eher für Kälber oder für uns Menschen ist. Ein Croissant ist auch nicht gerade die figurbewusste Variante einer Zwischenmahlzeit ... wenn ich Sie so ansehe, na ja, Sie sind sehr sportlich. Beneidenswert sportlich. Wir haben natürlich auch Karotten-Rote-Beete-Saft und vegetarische Vollkorn-Bagel. Ist sogar unser Monatshit, finden Sie auf Seite ...«, sie beugte sich über den Tisch, blätterte in der Menükarte und tippte mit dem Finger auf besagte Stelle, »Drei. Voilà.«

Er stieß ein belustigtes Lachen aus. »Herzlichen Dank, aber wissen Sie was? Ich verlasse mich auf Ihr Urteil. Ich nehme den gezuckerten Milchkaffee und die figurschädigende Snack-Variante.« Er schmunzelte, wandte den Blick jedoch keine Sekunde von ihr ab.

Hanna grinste und kritzelte die Bestellung geschäftig auf ihren Notizblock. Nicht weil sie sich diese beiden Dinge nicht hätte merken können, sondern weil sie Zeit gewinnen wollte. Der Fremde hatte eine magische Anziehungskraft auf sie. Sie fand keine passenderen Worte. Irgendetwas an ihm war anders. Die meisten gut aussehenden Männer, die Hanna traf, hätten nach dem Kompliment für ihre sportliche Figur mit ihrem regelmäßigen Fitnesscenter-Besuch geprahlt und daraufhin irgendwelche zweideutigen Bemerkungen gemacht. Sie hätten sich vermutlich tapfer den schrecklichen Gemüsesaft zu Gemüte geführt und sie spätestens beim Bezahlen nach ihrer Telefonnummer gefragt. Nicht dass Hanna sie ihnen gegeben hätte. Sie war wählerisch. Sie flirtete gern, aber am Ende bevorzugte sie doch ihre Freiheit. Kokettieren gehörte einfach zu ihrem aktuellen Job. Meistens dachte sie sich dabei nicht besonders viel.

»Sie scheinen unentschlossen. Gefällt Ihnen meine Wahl nicht?«

Der Fremde riss sie jäh aus ihren abschweifenden Gedanken. »Selbstverständlich!«, beeilte sie sich zu sagen, steckte den Notizblock ein und eilte ins Innere des Cafés. Dabei hätte sie beinahe einen Stuhl umgestoßen. Es gelang ihr gerade noch, das Gleichgewicht wiederzufinden und ihre Kellnerschürze würdevoll glatt zu streichen. Die Terrasse war um diese Tageszeit, es war neun Uhr morgens, rappelvoll. Natürlich ruhten jetzt alle Blicke auf ihr.

»Geht schon wieder!« Hanna kicherte verlegen und strich sich – bereits zum zweiten Mal – eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. Was war heute mit ihr los? Sie war zweifellos chaotisch, gelegentlich sogar unkonzentriert, aber definitiv nicht tollpatschig. Das war nicht ihre Art.

Möglicherweise war es dieses hypnotische Augenpaar an Tisch Sieben. Jedenfalls war Hanna nicht entgangen, dass eine Gruppe junger Frauen, vermutlich Studentinnen, am Nebentisch angeregt tuschelten. Dabei schweiften ihre Blicke immer wieder zu dem Mann in dunklen Jeans und dem steinfarbenen T-Shirt. Ihre leicht geröteten Wangen und das zweideutige Grinsen offenbarten ihre Gedanken, ohne dass sie sie laut auszusprechen brauchten.

»Gott, der sieht aber gut aus!« Das war Elsa, die füllige Buffet-Mitarbeiterin, die den Milchkaffee zubereitete und sich den Hals verrenkte, um auf die Terrasse sehen zu können. Sie zwinkerte Hanna verschwörerisch zu. »Wenn ich noch etwas jünger wäre, wäre das meiner, das verspreche ich dir! Ich mag diese südländischen Casanovas. Man sagt, die seien ...«

Der Café au Lait und das Croissant waren fertig. »Danke Elsa, der Kunde wartet.« Hanna wandte sich ab, bevor sie noch anfing, sich Elsas Ausführungen bildlich vorzustellen. Sie besaß eine sehr lebhafte Fantasie. Ihr Alltag vermochte es meistens nicht, dieser zügellosen Imagination gerecht zu werden, weshalb sie sich oft in Tagträumereien verlor. Da sie heute schon verwirrt genug war, musste das nicht auch noch sein. Schließlich bezahlte man sie für das Bedienen der Kundschaft, nicht für das Wolkenlesen. Obwohl sie Letzteres sehr gut beherrschte.

»So, bitte schön!« Hanna stellte Kaffee und Gebäck vor den Fremden. Dabei nahm sie seinen Duft wahr. Oliven, ein Hauch Zitrone, eine herbe Würze. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gerochen. Um sich nicht noch mal zu blamieren, wandte sie sich hastig ab und bediente weitere Kunden. Ihr Blick schweifte jedoch immer wieder zu dem Neuling mit dem geheimnisvollen Lächeln hinüber. Eine Sehnsucht machte sich in ihr breit, die sie nicht benennen konnte. Der Fremde kritzelte konzentriert etwas in ein Notizbuch und nippte an seinem Kaffee.

»Schmeckt das Croissant?« Hanna war über sich selbst erstaunt. Bevor er etwas sagen konnte, fragte sie: »Unterrichten Sie an der Uni? Quälen Sie die armen Studenten derzeit auch bei den Semesterprüfungen?« Sie zeigte mit der Hand über die Straße auf das massive Steingebäude gegenüber. Bestimmt war er einer dieser beneidenswert intelligenten Menschen, die sich im Gegensatz zu ihr ohne große Probleme für ein Studium entschieden und es auch zu Ende geführt hatten.

Hanna war keinesfalls dumm, auch wenn man sie aufgrund ihrer naturblonden Haare und ihrer azurblauen Augen oft in die Schublade der hirnzellenarmen Blondinen steckte. Sie war bestenfalls unbeständig. Sie hatte schon zahlreiche Studiengänge angefangen ... und wieder abgebrochen.

Sie war der Meinung, dass man einen Ort verlassen sollte, wenn man alles gelernt hatte, was man dort zu lernen beabsichtigte. Das galt für Ausbildungen, Berufe und natürlich auch Beziehungen.

»Ich bin Gastreferent für Völkerkunde und gebe gelegentlich Kurse an der Uni. Ich nutze die vorlesungsfreie Zeit, um mit den Professoren-Kollegen das kommende Herbstsemester und meine Einsätze zu planen. Und Sie? Sind Sie Studentin?«

Erneut diese wohlklingende Stimme. Eine Frequenz, die dafür sorgte, dass sich bei Hanna sämtliche Nackenhaare aufstellten. Ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihr aus.

»Nein, das war einmal. Wird vielleicht wieder. Ich war schon überall. Hier, in Paris, London, sogar in den Vereinigten Staaten. Ich mag Universitäten, nur sind mir ihre Bildungsverordnungen zu kompliziert. Es gibt keine Kurzstudien, keine Sauerkraut-und-Pralinen-Studien ... verstehen Sie?« Erneut fuchtelte sie durch die Luft, als müsse sie ihren Worten Gestalt verleihen. Vermutlich ist das Ganze genetisch, also wozu sich die Mühe machen, es zu unterdrücken?, dachte Hanna.

»Kurzstudien? Sauerkraut-und-Pralinen?« Der Fremde grinste amüsiert, seine Augen funkelten. »Das müssen Sie mir genauer erklären.« Er lehnte sich entspannt auf dem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war wirklich auffallend athletisch gebaut. Ein Eyecatcher ...

»Nun, das ist ganz einfach: Es gibt doch Power-Naps, nicht wahr? Kurze, intensive Schlafphasen, die wirkungsvoller sind, als wenn man mehrere Stunden Zeit zum Schlafen hätte. Genauso verhält es sich mit dem Wissen. Man sollte die Möglichkeit haben, komprimiert zu lernen. Dafür vermehrt mit Querverbindungen. Sauer mit Süß mischen, Philosophie mit Physik. So alchemistisch. Man braut scheinbar Unvereinbares zusammen und kreiert dadurch etwas vollkommen Neues. Etwas Mysteriöses.« Sie hielt verwirrt inne. »Entschuldigen Sie, ich rede dummes Zeug.« Das waren jedenfalls meistens die Kommentare, die Hanna auf ihre Ausführungen zu hören bekam. Begleitet von einem mitleidigen Stirnrunzeln und einem höflichen Lächeln.

»Ich bin Valerio und wer ...«

»Hanna! Ich bin Hanna.« Sie streckte ihm die Hand hin. Eine Spur zu euphorisch vielleicht.

»Du hast interessante Ansichten, Hanna

Ihr Name aus seinem Mund. In Hannas Ohren klang es wie eine exotische Melodie. Sinnlich und warm.

Seine Hand war so groß, dass ihre zierlichen Finger problemlos darin Platz fanden. Die Berührung war angenehm. Schon wieder das undefinierbare Kribbeln in ihrem Bauch.

»Hanna! Der Tee für Tisch Vier!« Das war Elsas dröhnende Stimme. Hanna wandte sich hastig ab und beeilte sich, ans Buffet zu gelangen.

»Ganz schön rote Wangen, meine Liebe.« Elsa verzog ihr Mondgesicht zu einem schalkhaften Grinsen. »Ich sagte ja, der Charme der Südländer ...«

Hanna lud die Bestellung für Tisch Vier auf ihr Tablett und servierte den Gästen ihre Getränke. Danach wagte sie erneut einen Seitenblick zu Tisch Sieben.

Er war leer!

Einen Moment lang war es, als ziehe ihr jemand den Boden unter den Füßen weg. Angestrengt kniff sie die Augen zusammen und suchte die Gegend ab. Wie in Zeitlupe sah sie einige aufgeregt gestikulierende Studentinnen zur Eingangstür laufen. Die Sonne stand am Himmel und spiegelte sich am Glas der Armbanduhr eines älteren Herrn ...

Valerio war weg. Einfach weg.

Enttäuschung machte sich in Hanna breit.

Möglicherweise kam er nach Beendigung seiner Gastreferate-Planung wieder? War sie ihm womöglich doch auf die Nerven gegangen, und er war froh gewesen, sich ohne ein Wort des Abschieds davonstehlen zu können?

Hanna spürte, wie ihr Lächeln an Echtheit verlor, als sie sich, um einen höflichen Gesichtsausdruck bemüht, an den überfüllten Tischen der Gäste vorbeizwängte. Sie stellte ihr Tablett auf Tisch Sieben ab und räumte die leere Kaffeetasse und den mit Krümeln bedeckten Croissant-Teller ab. Immerhin hatte ihm ihre Empfehlung geschmeckt. Hanna steckte die Münzen, die sogar noch für ein großzügiges Trinkgeld reichten, ein. Vielleicht war er einfach in Eile gewesen und hatte sich deshalb nicht von ihr verabschiedet?

Plötzlich fiel ihr Blick auf die zusammengeknüllte Papierserviette, auf der das Croissant serviert worden war. Langsam faltete sie das Papierknäuel auf und strich es glatt.

Eine wirre Anzahl von Punkten, dazu vier Zahlen.

Sie steckte die Serviette in ihre Hosentasche. Vermutlich Notizen. Valerio hatte ja die ganze Zeit konzentriert irgendetwas notiert.

Allerdings in ein eigens dafür vorgesehenes Notizheft. Wozu also hätte er die Serviette gebraucht?

Hanna blieb mitten auf der Terrasse stehen und lauschte dem Rattern ihrer neurologischen Zahnräder. Schließlich machte sich ein zufriedenes Grinsen auf ihrem Gesicht breit.

Sie kramte nach der Papierserviette in ihrer Hosentasche und knallte sie Elsa triumphierend auf die Theke.

»Na, was denkst du? Was ist das?«

Irgendwo hinten links verlangte jemand nach der Bedienung. Hanna ignorierte den Gast und blickte Elsa, die sich neugierig über das Gekritzel beugte, gespannt an.

»Eine Telefonnummer?«, schlug sie vor.

»Zu banal«, antwortete Hanna, ohne nachzudenken.

Elsa zuckte nur ratlos mit den Schultern und druckte die Rechnung für den hektisch mit der Hand fuchtelnden Kunden an Tisch Drei aus.

»Hier Schätzchen, beeil dich, sonst rastet der Anzugträger noch aus.«

Hanna grinste und tat es.

Gegen vierzehn Uhr war Hannas Schicht beendet. Sie bevorzugte die Frühschicht. So blieb ihr nachmittags noch genug Zeit, sich mit einem Buch und einem kühlen Getränk ans Ufer des Zürichsees zu setzen und die Sonne zu genießen. Genau das tat sie jetzt. Allerdings fehlte ihr die Konzentration, um in ihrem Roman weiterzulesen. Immer wieder wanderten ihre Gedanken zu Valerio. Zwischen ihnen war etwas, sie konnte es aber nicht richtig in Worte fassen. Verbundenheit? Eine stumme Übereinstimmung? Sie hatte den Eindruck, als wäre sie Valerio schon einmal begegnet, als wären sie bereits Freunde gewesen. Verwandt im Geiste, vereint im Herzen. So etwas in der Art. Viel wahrscheinlicher war jedoch, dass Hanna allmählich einsam war. Ihre letzte Beziehung lag immerhin zwei Jahre zurück. Die einzige Form von Romantik, die sie in ihrem momentanen Leben genoss, war hin und wieder ein Trivialroman. Heroische Männer, problemlose Liebeleien, zügellose Leidenschaft. Möglicherweise war sie mittlerweile schon so realitätsfremd, dass sie einen gewöhnlichen Flirt für ein schicksalhaftes Aufeinandertreffen oder für Bestimmung hielt.

Eine blinde Frau setzte sich mit ihrem Hund auf dieselbe Bank wie Hanna. Sie kramte in ihrem Rucksack nach einem Buch und schlug die erste Seite auf.

Punkte, lauter Punkte.

Plötzlich durchfuhr es Hanna siedend heiß, und sie wühlte hastig in ihrer Hosentasche nach der zerknüllten Croissant-Serviette.

Aber natürlich! Braille-Schrift! Warum war sie nicht eher darauf gekommen? Aufgeregt durchsuchte sie ihre Handtasche. Mit zittrigen Fingern entsperrte sie ihr Handy und googelte das Braille-Alphabet.

Schiff Bürkliplatz. Neun Uhr dreißig.

Und die Zahlen? Vermutlich Koordinaten, denn sie hatte ja keine Ahnung, welcher Schiffskurs gemeint war. Normalerweise begann man bei Norden, oder nicht? Also musste die erste Ziffer für Nord stehen, gefolgt von den Graden, Ost, Süd und West.

Kurze Zeit später besaß Hanna die Lösung.

Die Insel Ufenau.

Ihr Puls raste. Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Valerio hatte ihr doch tatsächlich ein Rätsel dagelassen, um sie zu einem gemeinsamen Treffen zu locken! Was für eine außergewöhnlich kreative Art, eine Frau zu einem Date einzuladen!

Sie musste also am Bürkliplatz ein Kursschiff nehmen, das um halb zehn in Richtung der Seeinsel Ufenau losfuhr.

Hanna überlegte. Eine solche Rundfahrt auf dem Zürichsee entsprach einem Tagesausflug. Es war Freitag, und ihre freien Tage waren dieses Mal Montag und Dienstag. Ihr Abenteuer musste also noch zwei volle Arbeitstage warten. Sie seufzte. Und Valerio? Woher wusste er, an welchem Tag sie das Kursschiff besteigen würde? Ob er wohl überhaupt zu besagtem Treffen auftauchte?

Der Schatzjäger - Gesamtausgabe

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