Читать книгу Der Schatzjäger - Gesamtausgabe - Ladina Bordoli - Страница 16

Kapitel 8

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Valerio blieb so abrupt stehen, dass Hanna stolperte und beinahe hingefallen wäre. Selbst wenn sie keine erfahrene Schatzjägerin war, erkannte sie, dass diese drei Schemen nicht in das idyllische Dorf Kaiseraugst gehörten. Hier spazierte niemand mitten in der Nacht – es war gegen zwei Uhr – im Anzug durch die Gegend. Es sei denn, er kam gerade von seiner eigenen Hochzeit, was eindeutig nicht der Fall war. Die drei Herren wirkten weder ausgelassen noch betrunken und steuerten zielstrebig auf Hanna und Valerio zu. Einer griff mit der Hand unter sein Jackett. Vermutlich trug er dort eine Waffe. Hanna lief es kalt den Rücken hinunter, und sie begann zu zittern. Man hatte absichtlich gewartet, bis sie das Mysterium in ein transportierbares Artefakt umgewandelt hatten. Ihre Gegner hatten sie die heikle Arbeit verrichten lassen und dann beschlossen, ihnen aufzulauern.

»Es ist Zeit für Hugin und Munin«, kommentierte Valerio trocken.

»Odins Raben?« Hanna verstand nicht, was er damit sagen wollte. Er hielt den Blick starr auf die sich nähernden Gestalten geheftet und schwieg angespannt.

»Hanna ... lauf.« Er schrie nicht, es war keine Spur von Hysterie in seinen Worten. Sein Tonfall war kristallklar, keinen Widerstand duldend und beängstigend ruhig. Bevor sie Luft holen und zu einer Erwiderung ansetzen konnte, stieß er sie in eine Seitengasse, sodass das Haus an der Ecke sie vor den sich nähernden Angreifern schützte. Noch immer wie gelähmt vor Schock, blieb sie stehen.

Erst jetzt fiel ihr auf, dass Valerios Rucksack kein gewöhnlicher war. Auf der Oberfläche gab es eine Vorrichtung, die speziell für zwei Gegenstände angefertigt worden war. Valerio griff mit beiden Händen gleichzeitig über die Schultern, als zücke er zwei Pfeile oder Schwerter.

Stattdessen sah Hanna, dass er zwei Bumerangs aus der Stofftasche des Rucksacks zog.

Hugin und Munin.

Valerio wandte sich ihr kurz zu und warf ihr einen glühenden Blick zu. »Lauf endlich, verdammt noch mal!«

Mit diesen Worten schleuderte er die beiden Bumerangs auf die Angreifer, duckte sich unter einem Kugelhagel hinweg und sprang nach vorne – aus Hannas Sichtfeld.

Sie drehte sich um und rannte.

Keuchend rang sie nach Atem, begleitet vom schmerzhaften Hämmern ihres Herzens. Die wie Peitschenknalle widerhallenden Schüsse durchbrachen die Stille und waren weithin zu hören. Es würde nicht lange dauern, bis ganz Kaiseraugst auf der Straße stand. Fragte sich, ob das Valerio noch in irgendeiner Weise helfen würde oder ob ihn bis zu diesem Zeitpunkt bereits eines der tödlichen Geschosse getroffen hatte.

Hanna spürte, wie die Angst ihr die Kehle zuschnürte und eine Panikwelle von ihr Besitz ergriff. Sollte sie zurückgehen?

Sie rannte weiter, das hektische Trommeln ihrer Schuhe auf dem Asphalt hallte durch die nächtliche Stille.

Valerio hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Sollte sie auch noch auf der Bildfläche auftauchen, würde er sich vermutlich nicht mehr konzentrieren können, sondern sich auch noch um ihren Schutz kümmern müssen. Das war keine Option. Sie konnte nur darauf vertrauen, dass das, was er gesagt hatte, stimmte und die Bruderschaft ihre Schatzjäger wirklich in Kampfkunst und weiteren nützlichen Fertigkeiten schulte.

Hanna bog in eine Seitenstraße ab, durchquerte einen Garten und rannte eine andere Gasse entlang. Sie wollte ihre Route möglichst Haken schlagend und unberechenbar gestalten, sollte einer der Anzug tragenden Männer trotz allem die Verfolgung aufgenommen haben.

Sie wandte den Kopf und blickte gehetzt über die Schulter zurück. Sie hörte von überall her Schritte, und noch immer fiel gelegentlich ein Schuss.

Plötzlich durchschnitt ein jäher Aufschrei die Nacht. Hanna konnte in ihrer Panik nicht sagen, wessen Stimme das war.

Sie hielt den Kopf starr geradeaus gerichtet und rannte weiter. Ihre Lunge brannte wie Feuer, und das Blut rauschte, vermischt mit Adrenalin, durch ihre Adern. Sie wischte sich den Schweiß aus den Augen und blinzelte. Erst dann fiel ihr auf, dass sie weinte.

Sie bekam keine Luft mehr und wäre beinahe über eine Bordsteinkante gestolpert. Sie wusste nicht, wo sie war. Orientierungslos musterte sie die sich ähnelnden Fassaden der Einfamilienhäuser.

Ihre Lippen bebten, als sie sich keuchend an den Boden setzte. Sie konnte nicht mehr.

Die plötzlich eingekehrte Stille machte ihre Situation auch nicht besser. Wo war Valerio? Würde er sie suchen und holen kommen? War er verletzt, oder hatten ihn die Schattenmänner entführt?

Den schlimmsten aller Gedanken wagte Hanna in ihrem Kopf nicht auszuformulieren.

Sie stand auf und lief weiter, langsamer dieses Mal.

Sie versuchte, sich irgendwie zu orientieren.

Nach einer halben Stunde erkannte sie den Landgasthof wieder, in dem sie am Abend zuvor gegessen hatten. Hanna musste den Gasthof Romulus, in dem Valerio und sie logierten, in einem großen Bogen umgangen haben. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, sah sie endlich das flackernde Schild ihrer Unterkunft. Sie ließ den Blick in beiden Richtungen durch die Straßen streifen, sah jedoch keine Menschenseele. Immer noch lastete diese bedrückende Stille auf den Gassen von Kaiseraugst. Als bestätige die Natur Hannas mulmiges Gefühl, bildete sich nun ein milchiger Hof um den Vollmond. Sie beeilte sich, ins Innere des Gasthauses zu gelangen.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«, fragte der Nachtportier und blickte von seinem Computerbildschirm auf.

Hanna konnte sich lebhaft vorstellen, welch verwahrlostes und verwirrtes Bild sie abgeben musste. »Alles bestens.« Sie versuchte, zuversichtlich zu lächeln. Ein Kontrollblick in den mannshohen Spiegel im Flur verriet ihr jedoch, dass sie sich die Mühe hätte sparen können. Ihre Haare standen in wirren Strähnen vom Kopf ab, und Schweiß glänzte auf ihrem Gesicht. Ihr Blick flackerte unruhig, und ihre Augen waren schreckhaft geweitet. Teile ihrer Kleidung waren von ihren Sprints durch die Privatgärten zerrissen, da sie an einigen Büschen hängen geblieben war.

Wäre sie der Nachtportier gewesen, hätte sie sich auch Sorgen gemacht und ihr Lächeln als billige Ausrede aufgefasst. Immerhin besaß der ältere Herr genug Diskretion, um sie mit ihrem Elend allein zu lassen.

Die letzten Schritte zu ihrem Zimmer rannte sie.

Ihr Herzschlag und ihr Atem beruhigten sich erst wieder, als sie die Tür sicher verriegelt und sich auf das Bett gesetzt hatte. Erneut kehrte der messerscharfe Schmerz in ihrer Brust zurück. Sie stand auf und ging ans Fenster. Sie hatte kein Licht angemacht. Vorsichtig spähte sie durch die Vorhänge auf die Straße.

Der blassgelbe Schein der Straßenlaternen verlieh den Gassen mit seinen Kegeln einen unwirklichen Anstrich. Die Welt außerhalb von Hannas Hotelzimmer wirkte wie ein Paralleluniversum.

Eine volle Stunde stand sie am Fenster. Irgendwas in ihr hoffte inständig, Valerio möge jeden Augenblick um die Ecke biegen.

Doch nichts geschah.

Sie kontrollierte ihr Handy, doch auch das blieb stumm. Sollte sie ihn anrufen oder ihm eine SMS senden? Sie verwarf den Gedanken: zu gefährlich. Wer auch immer hinter ihm her war, könnte so auf sie aufmerksam werden. Dasselbe galt für diese geheime Bruderschaft. Hanna wusste nicht genau, inwieweit sie Valerio kontrollierten.

Plötzlich fiel ihr ein, dass ihr Smartphone über die Meine-Freunde-finden-App mit Valerios verbunden war.

Mit zittrigen Händen tippte sie den Code ein und wählte die App an.

Sie hielt den Atem an und lauschte dem schneller werdenden Pochen ihres Herzens.

Ein enttäuschter Seufzer entrang sich ihrer Kehle. Er hatte die Standortfreigabe unterbrochen.

Vermutlich wäre er ein schlechter Schatzjäger, wenn er nicht daran gedacht hätte.

Was, wenn er sein Mobiltelefon gar nicht mehr hatte? Wenn er sich in der Gewalt dieser fremden Männer befand? Vielleicht hatten diese ja sein Smartphone gefilzt und die Verbindung gekappt, damit Valerio nicht auffindbar war?

»Mist!« Hanna warf ihr Handy frustriert auf das Bett.

Und jetzt? Ihre Gedanken rasten, und ihr Kopf begann schon wieder zu schmerzen. Sie legte sich auf das Bett und starrte an die Decke. Fahles Mondlicht erhellte den Raum.

An Schlafen war nicht zu denken.

Sollte sie versuchen, Kontakt zum Orden herzustellen?

Sie verwarf diese Idee kopfschüttelnd. Die Bruderschaft hatte sicher ihre eigenen Methoden, Valerio aufzuspüren und ihn zu beschützen. Gelegentlich machten aber auch solche Institutionen Fehler. Das Leben eines Schatzjägers war genauso gefährlich wie das eines Agenten. Immer wieder bezahlte man die Einsätze mit dem Tod ... oder nicht?

Hanna dachte an die letzten Bildfetzen, die sie von Valerio in Erinnerung hatte.

Odins Raben, die in Wahrheit traditionelle Aborigine-Waffen waren.

Die Sicherheit und Geschmeidigkeit, mit der er die beiden Wurfgeschosse aus dem Rucksack gezogen und wie er sich danach mit einem athletischen Sprung ins Kampfgetümmel gestürzt hatte ...

Zweifellos machte er sowas öfter, was Hanna nun auch seinen augenfällig guten Körperbau erklärte. Sie erinnerte sich an ihre erste gemeinsame Nacht. Tränen rannen ihr beim Gedanken an die bedingungslose Leidenschaft dieser kostbaren Minuten über die Wangen.

Irgendwann musste sie doch eingeschlafen sein.

Die ersten Sonnenstrahlen, die ihre Finger in Hannas Zimmer streckten, weckten sie.

Von Valerio fehlte nach wie vor jede Spur.

Physisch und Digital.

Hanna sollte außerdem in einer Stunde in Zürich bei der Arbeit sein ...

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