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Kapitel 9

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Jasmin hatte sich zur Sicherheit ins Badezimmer eingesperrt – und mit rasendem Puls gewartet. Als nichts geschah, zog sie die schmutzigen, verschwitzten Kleider aus und kämmte ihre nassen ebenholzfarbenen Haare.

Während sie mit immer gleichen, routinierten Bewegungen Strähne für Strähne ihres langen Haares durchkämmte, wurde sie ruhiger und begann, über die Geschehnisse des Abends nachzudenken.

Noch nie war sie einem Mann wie Ben-Yamin begegnet.

Er kämpfte erbarmungslos gegen seine Feinde und war gleichzeitig sanft und rücksichtsvoll zu ihr, was das Getränk im Auto zeigte oder die Augenbinde, die er ihr nicht umgebunden hatte. Auf der Krankenstation wäre sie wahrscheinlich bald umgekippt, hätte er ihr nicht einen Stuhl geholt. Außerdem war er besorgt gewesen, dass sie sich verletzt haben könnte, und hatte sogar gefragt, ob sie hungrig war.

Ben-Yamin war der erste Mann, der nach ihren Bedürfnissen fragte, und selbst ihre Angst war ihm nicht gleichgültig. Aber er wurde auch sehr oft und schnell wütend auf sie, was bei Männern üblicherweise schmerzhaft für Frauen endete.

Doch wenn es nun tatsächlich daran lag, wie sie ihn behandelte? Schließlich hatte er keine Ahnung von ihrer Kultur und was sich für sie als Frau im Harem des Königs gehörte.

Sein Gesicht sah so wunderschön aus und sanft, ebenso wie seine Hände. Ein warmes Kribbeln breitete sich in ihrem Unterleib aus, als sie sich vorstellte, wie es wäre, wenn seine Hand liebevoll ihre Wange streicheln würde.

Nur einen Wimpernschlag später brach jedoch die Erinnerung an andere Hände durch und alles in ihr wurde eiskalt.

Ohne Gesichtsschleier hätten die Leute auf dem Markt damals Woche für Woche in ihrem Gesicht sehen können, was ihr Ehemann mit seinen Händen anstellte.

„Ich fordere nur, was mir zusteht!“, hatte er immer gebrüllt.

Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass es in der Hochzeitsnacht einmal wehtun würde, und ihr dafür etwas zum Einreiben zwischen den Beinen gegeben. Aber ihre Mutter hatte unrecht – es hatte nicht nur in dieser Nacht geschmerzt.

Dabei hatten ihre Eltern die Ehe mit dem wohlhabenden Mann aus dem reichen Nachbarstaat in dem Glauben arrangiert, ihr dadurch ein besseres Leben zu ermöglichen, bei Weitem besser, als sie es mit einem der jungen Männer aus ihrem Dorf hätte treffen können. Dort gab es noch nicht einmal fließendes Wasser, dafür war der Hunger für viele, wenn auch nicht für ihre eigene Familie, ein Problem.

Im Gegensatz zu ihrem Ehemann war Ben-Yamin zwar wunderschön, doch auch ihr Mann war nett gewesen – bevor er sie endgültig in die Finger bekam und allein mit ihr war.

Während der beiden Besuche zur Eheanbahnung war er sehr freundlich gewesen und hatte großzügige Geschenke für ihre Familie mitgebracht. Sie war damals erst sechzehn Jahre alt gewesen, aber ihre Mutter meinte, ein älterer Mann wäre ruhiger und umgänglicher als ein junger, der ständig seinen männlichen Trieb ausleben wollte.

Ihr Vater hätte den Ehevertrag wohl niemals unterschrieben, wenn er gewusst hätte, was sie erwartete.

Ja, vielleicht hätte sie daran glauben können, dass Ben-Yamin ebenso sanftmütig war, wie er aussah, obwohl sein Verhalten dem widersprach, wenn sie nicht seit ihrer Heirat eines Besseren belehrt worden wäre. Und so gern sie es auch wollte: Die Erinnerung daran konnte niemand auslöschen, nicht einmal ein Vampir.

***

Zuerst stand Ben mit dem Tablett vor der Verbindungstür und wollte klopfen. Dann blickte er jedoch auf den hübsch angerichteten Teller, das Mousse au Chocolat, den von ihm frisch angemachten Salat, und ihm wurde klar, dass Jasmin sich das Tablett schnappen und ihm die Tür gleich wieder vor der Nase zuschlagen würde.

Der Gedanke, dass sie sich in ihrem Quartier einigeln würde wie in einer Festung und er sie weder sehen noch in ihrer Nähe sein konnte, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Nach einem Moment des Überlegens trat er schmunzelnd von der Tür zurück und deckte für Jasmin den Tisch in seinem Esszimmer.

Nach einem wohlwollenden Blick aufs Etikett öffnete er den 82er Bordeaux vom Château Lafite-Rothschild. Er war nicht so verrückt wie John, diese Flasche lag noch unterhalb des Monatseinkommens eines Arbeiters – na ja, wenn er gut verdiente.

Aber er liebte eben den Geschmack von gutem Rotwein auf seiner Zunge, auch wenn ihm nur ein paar Schlucke vergönnt waren, weil sein Stoffwechsel nicht in der Lage war, Flüssigkeit zu verarbeiten. Er schenkte zwei edle Kristallgläser ein und blickte neidisch auf Sarahs leckeres Essen. Elia profitierte vom Hautkontakt mit Sarah, seiner Frau und Symbiontin, durch den ihre chemischen Botenstoffe übertragen wurden, was dem Computercrack vorübergehend ermöglichte, normale Nahrung zu verdauen. Als Lissi noch hier im Gästequartier wohnte, hatte sie ihm immer den Nacken massiert oder bei den Mahlzeiten seine Hand gehalten, damit auch er in der Lage war, etwas zu essen, was seinen Bedarf an frischem Blut natürlich erheblich reduziert hatte.

Zufrieden betrachtete Ben den gedeckten Tisch und nahm sich fest vor, nett zu sein und die besten Manieren an den Tag zu legen.

Höflich klopfte er an die Verbindungstür.

„Jasmin, das Essen ist da. Ich hab den Tisch gedeckt, kommst du bitte?“

„Zu dir?“ Sie klang ebenso erstaunt wie unwillig. Widerspenstiger Kaktus!

„Ja“, erwiderte er und zwang seine Stimme zur Freundlichkeit. Allerdings schob er zur Sicherheit gleich hinterher: „Und beeil dich. Sarah ist eine super Köchin und sie hasst es, wenn ihr Essen kalt wird.“

Er lauschte und hörte mit Zufriedenheit das Rascheln von Stoff. Sie zog sich also an, prima.

Als Jasmin eine Minute später zögernd die Verbindungstüre öffnete, fand er das Rascheln von Stoff im Nachhinein nicht mehr prima. Vor ihm stand eine komplett in Schwarz gehüllte Gestalt: Sie trug eines dieser ultraweiten, konturlosen Kleider, Kopfschleier und einen Gesichtsschleier, der nur einen Sehschlitz frei ließ. Und weil das anscheinend noch nicht reichte, lag über ihren wunderschönen, strahlend hellen Augen zusätzlich ein dünnes Tuch.

Dabei hatte er sich so gefreut, sie zu sehen – und nun das.

Ihm musste unbedingt etwas einfallen!

Ganz gemäß seiner guten Erziehung wies er ihr den Weg zum Tisch, bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und schob ihr beim Hinsetzen den Stuhl unter. Er blieb hinter ihr stehen und spürte, dass sie sich augenblicklich versteifte.

„Du respektierst doch die Anweisungen deines Königs, oder?“, fragte er nonchalant.

„Natürlich“, antwortete Jasmin vorsichtig, als würde sie den Braten riechen.

„Gut“, erwiderte er und musste sich ein Grinsen verkneifen. „Ich erinnere mich nämlich daran, dass dein König sagte: Ehre ihre Gastfreundschaft, indem du dich ihren Gebräuchen anpasst.“

Wie gut, dass seine Vampirohren jedes Wort mitgehört hatten!

„Und wir essen hier nicht mit Kopftuch und Schleier. Außerdem habe ich dich schon ohne Schleier gesehen und bin doch offiziell jetzt dein Verwandter. Es ergibt also gar keinen Sinn mehr.“

Wie in der Krankenstation saß sie nur stocksteif da und umklammerte krampfhaft ihr Besteck. Er würde nicht warten und war beinahe froh, dass sie nicht selbst zur Tat schritt, denn das gab ihm die Gelegenheit, sie wenigstens ein bisschen zu berühren.

Langsam hob er das große, durchsichtige Tuch, das lose über ihrem Kopf lag, und legte es zur Seite. Anschließend löste er mit sanften Bewegungen an ihrem Hinterkopf den Knoten des Gesichtsschleiers. Nun zog er vorsichtig die lange und zugegebenermaßen kunstvoll verzierte Kopftuchnadel auf Höhe ihrer Wange heraus und wickelte das Kopftuch ab.

Ihre noch feuchten Haare, die in langen Wellen herabfielen, lockten ihn beinahe unwiderstehlich. Zu gern hätte er seine Finger hindurchgleiten lassen, doch er spürte, dass sie kurz davorstand, ihren Dolch zu ziehen und in ihr Zimmer zu flüchten.

Er schloss seine Hand, die bereits über ihrem ebenholzfarbenen Haar geschwebt hatte, unterdrückte ein Seufzen und setzte sich ihr gegenüber. Dort nahm er sein Glas, verschränkte die Arme und lehnte sich entspannt auf seinem Stuhl zurück.

„Guten Appetit.“

Sie nickte stumm und begann zu essen.

Er genoss jeden einzelnen Moment, folgte ihren Bewegungen mit seinen Augen.

Leider hielt sie ihren Blick gesenkt und blieb stumm, aber das würde er ändern.

„Zu unserer Kultur gehört es auch, dass man sich bei Tisch unterhält und sich wenigstens ab und zu dabei ansieht. Außerdem hast du selbst gesagt, dass es an unseren unterschiedlichen Kulturen liegt, weswegen wir beide nicht klarkommen. Deshalb halte ich es für gut, wenn wir miteinander reden.“

„Mit fremden Männer zu reden, ist in unserer Kultur nicht erlaubt und ich befürchte, ich könnte falsche Hoffnungen in dir wecken.“

Er schmunzelte. „Keine Sorge, Jasmin, du hast mit deinem Dolch mehr als einmal deutlich gemacht, dass ich mir keine Hoffnungen machen soll. Und ich akzeptiere das Nein einer Frau.“

In seinem Inneren regte sich Protest, doch er ignorierte ihn. Er wollte Jasmin aus ihrem Schneckenhaus locken und diese Zusage schien ihm essenziell zu sein.

Da Jasmin weiter beharrlich schwieg, fuhr er fort: „Dieser Abadin hätte dich vorher fragen sollen, ob du hierbleiben willst.“

Jasmin schnaubte, ohne den Blick von ihrem Teller zu nehmen. „Er ist ein mächtiger, unumstrittener Herrscher in seinem Land und nicht gewohnt, jemanden vorher zu fragen.“

„Das glaube ich dir aufs Wort“, erwiderte Ben amüsiert. „Und wenn es dich tröstet, ich wurde vorher auch nicht gefragt.“

Sichtlich überrascht blickte sie ihn an.

„Tja, stell dir vor, dein König wollte das so. Wir müssen also wohl oder übel für die nächsten Tage miteinander auskommen, Jasmin. Lass uns deshalb das Beste daraus machen.“ Sein Blick fiel auf ihr unberührtes Glas. „Willst du gar nichts trinken?“

„Das ist Alkohol!“

Er lehnte sich mit seinem langstieligen Glas zurück und schwenkte den rubinroten Wein, während er genüsslich den Duft einatmete.

„Ich würde es eher einen hervorragenden Bordeaux nennen, der den Gaumen verwöhnt. Man sagt ihm eine leichte Kirschnote nach.“

„Es ist verboten, Alkohol zu trinken. Menschen tun schreckliche Dinge, wenn sie Alkohol trinken.“

Ihm lag es auf der Zunge zu sagen, dass Menschen auch Furchtbares taten, ohne Alkohol zu trinken, zum Beispiel Frauen zu verprügeln, wie in ihrem Fall. Anders waren die alten Brüche nicht zu erklären. Doch er spürte, dass er vorsichtig sein musste, um nicht die Büchse der Pandora zu öffnen.

„Keine Sorge. Ich bin ein Vampir, auf mich hat Alkohol fast keine Wirkung, und was dich angeht, glaube ich kaum, dass du mir etwas Schreckliches antun könntest.“ Er lächelte amüsiert. „Außer ich lasse dich mit deinem Dolch an meine Kehle.“

Ben meinte, den Ansatz eines Lächelns zu erahnen.

Verstohlen blickte sie zu ihrem Weinglas.

„Ein Glas wird dich nicht betrunken machen und ich werde es niemandem verraten.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Zögernd ergriff sie das Weinglas – beinahe wie ein Kind, das verbotenerweise von Fremden Süßigkeiten nimmt – und nippte daran.

Ben hob eine Augenbraue. „Und?“

„Er streichelt die Zunge und mir wird ganz warm“, flüsterte Jasmin so leise, als würden Spione vor der Tür horchen. Dann blieb sie wieder still, ein Gespräch entwickelte sich nicht.

Als er nachdenklich an seinem Lederarmband herumspielte, kam ihm eine Idee.

In Windeseile holte er das gerahmte Bild vom Klavier und stellte es vor Jasmin auf den Tisch. Das Foto zeigte Lissi, die auf seinen Schultern saß, und sie strahlten beide vor Freude.

„Das ist meine Schwester Lissi. Nachdem ihr der Doktortitel verliehen wurde, haben wir einen Freudentanz veranstaltet.“

Jasmin berührte mit ihren Fingerspitzen beinahe ehrfurchtsvoll das Foto.

„Sie sieht glücklich aus.“

„Das war sie. Lissi hat nach dem Tod unseres Vaters im Gästequartier gewohnt, wo du jetzt untergebracht bist. Du wirst dort noch einige Fotos von uns an der Wand finden.“

„Wo ist deine Schwester jetzt?“

„Verheiratet.“

Jasmins Gesichtsausdruck wurde kalt.

„Hast du sie verheiratet?“

„Oh nein“, meinte er schmunzelnd und schüttelte den Kopf. Lissi hätte sich nie einen Ehemann von ihm vorsetzen lassen! „Ich hab nur dafür gesorgt, dass es ihr möglich war, den Mann zu heiraten, den sie liebt und mit dem sie bis heute glücklich ist.“ Um ihr einen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben, ergänzte er: „Und wenn ihr Mann jemals wagen sollte, sie zu schlagen, dann würde ich ihm sämtliche Knochen im Leib brechen.“

Jasmin strich geradezu zärtlich über das Foto.

„Deine Schwester hat großes Glück, einen solchen Bruder zu haben.“

„Weißt du, mit Lissi bin ich immer wunderbar zurechtgekommen und wir hatten viel Spaß zusammen. Wenn ich versuche, dich wie meine Schwester zu behandeln, könntest du dann nicht versuchen, in mir so etwas wie einen Bruder zu sehen?“ In der Hoffnung, dass sie wenigstens keine schlechte Erfahrung mit Brüdern hinter sich hatte, fragte er: „Du hast doch Brüder, oder?“

„Nur einen kleineren Bruder. Nach seiner Geburt war meine Mutter leider nicht mehr in der Lage, Kinder zu bekommen.“

„Erzähl mir von ihm“, ermunterte er sie.

„Sein Name ist Sami, das heißt der Erhabene. Die anderen Jungs in unserem Dorf haben ihn wegen seines Namens immer geärgert. Denn erhaben passte überhaupt nicht zu ihm. Er konnte durch eine Kinderlähmung kaum laufen und keiner der anderen wollte mit ihm spielen. Also hab ich ihn die ersten Jahre auf meinen Schultern getragen, wie du deine Schwester an diesem Tag. Jetzt bist du größer und erhabener als alle anderen, hab ich dann gerufen und er hat lauthals gelacht. Wenn ich nicht dabei war, haben die anderen ihn oft geärgert und auch schon mal verprügelt. Bis ich einmal dazukam und dem Größten mit einem Stock die Nase gebrochen habe.“

Oh ja! So wie sie heute dem Vampir entgegengetreten war, konnte er sich das gut vorstellen.

Dennoch hatte sie zig alte Brüche und eine panische Angst vor Männern, was ihn ungeheuer zornig machte und ihm verriet, dass irgendwann irgendetwas gewaltig schiefgelaufen war, und er wollte unbedingt wissen, was.

Heute würde sie es ihm sicher noch nicht erzählen – aber er war ein geduldiger Jäger …

Ben lehnte sich lässig zurück und schlug vor: „Wie wäre es, wenn du für die nächsten Tage einfach so tust, als wäre ich dein kleiner Bruder?“

Jasmin musterte ihn amüsiert von oben bis unten und schmunzelte doch tatsächlich. Es gefiel ihm ungemein und verlieh ihrem Gesicht einen entspannten Ausdruck. Vielleicht lag es auch an dem Glas Wein, das sie viel zu schnell getrunken hatte.

Er füllte ihr sofort nach und lächelte verschmitzt.

„Na ja, dein kleiner Bruder hat eben immer brav seinen Teller leer gegessen und ist deshalb groß und stark geworden.“

Da, ein erstes kleines Lächeln, aber dann senkte sie schon wieder den Blick und wurde ernst.

„Wir beide wissen, dass du nicht mein Bruder bist und nur auf dem Papier zur Familie gehörst.“

Er versuchte, dieses Argument mit einem Witz auszuhebeln: „Hey, dafür kann ich nun wirklich nichts! Ich bin weder dein Vater noch ein alter tattriger Greis und heiraten willst du mich ja auch nicht.“

„Mein König wäre damit wohl kaum einverstanden.“ Und leiser fuhr sie fort: „Ich sehe ihm an, dass er mich …“

Sie ließ den Satz offen, aber er war ja nicht blöd. Um sie aus ihrer bedrückten Stimmung zu reißen, fuhr er auf witzige Art fort: „Also, du siehst: Die einzige freie Rolle, die noch übrig bleibt, ist die deines Bruders. Und bevor du mir widersprichst, erzähle ich dir, wie viel Spaß Lissi und ich früher gehabt haben …“

Sanft berührte Narben

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