Читать книгу Sanft berührte Narben - Lara Greystone - Страница 5
Kapitel 1
ОглавлениеBen roch das Blut schon von Weitem.
Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Deshalb rannte er so schnell, dass er mit bloßem Auge kaum noch zu erkennen war, dem Blutgeruch durch die menschenleeren, dunklen Straßen entgegen.
Aus der Ferne hörten seine übernatürlich scharfen Ohren hysterische Frauenstimmen und schmatzende Geräusche. Im Laufen entsicherte er seine Neunmillimeter und zog sein Wurfmesser aus der Scheide, dessen rasiermesserscharfe Stahlklinge er eigenhändig mit filigranen Rankenmustern überzogen hatte.
Mit unglaublichem Tempo bog er schließlich in eine abgelegene Sackgasse ein, die von hohen Mauern umgeben war und damit jede Flucht unmöglich machte. Dort bot sich ihm ein gleichermaßen dramatisches wie faszinierendes Bild.
Am Ende der Gasse stand eine komplett schwarz verschleierte Frau mit einem nicht gerade kleinen Damaszenerdolch in der Hand. Trotzig und kampfbereit stellte sie sich dem Angriff eines Vampirs entgegen, von dessen Fangzähnen bereits das Blut eines anderen Menschen tropfte.
Eine wahrhaft tapfere Frau!
Hinter ihr hatten drei hysterisch kreischende Frauen Deckung gesucht. Eine weitere Frau lag blutend und bewusstlos an der Steinmauer schräg links hinter ihr.
Wenige Meter entfernt, neben einer Stretchlimousine, sah er zwei muskulöse Männer in schwarzem Anzug, vermutlich Bodyguards. Sie befanden sich bereits in der tödlichen Umarmung zweier Vampire. An ihrer zerfetzten Kehle und dem augenscheinlich fast blutleeren Körper erkannte er, dass ihr Todesurteil bereits gefällt war.
Dabei musste kein Mensch sterben, wenn ein Vampir auf die Jagd ging, um sich zu ernähren. Man nahm, was vertretbar war, und ließ die Menschen ohne Erinnerung und sichtbare Spuren wieder gehen. Nur so war es möglich, dass Vampire unerkannt in der Gesellschaft lebten und nicht selbst zu Gejagten wurden. Dafür gab es eiserne Gesetze, doch die drei hier scherten sich einen Dreck darum.
Solche sogenannten Gesetzlosen gaben sich der Gier nach Blut völlig hin, entweder bewusst oder weil sie in eine Art Sucht verfallen waren. Statt sich mit dem Nötigen zufriedenzugeben, ließen sie erst von ihren grausam zugerichteten Opfern ab, wenn auch der letzte Tropfen des kostbaren Lebenssafts ihre Kehle hinuntergeflossen war. Nicht wenige dieser Vampire weideten sich dabei an den Todesqualen ihrer Beute oder vergewaltigten die weiblichen Opfer, während sie starben.
Der blutgierige Vampir vor der verschleierten Frau setzte gerade zum Sprung auf sie an.
Auf ihn zu schießen, war für Ben leider keine Option. Sein Schuss hätte den Körper des Vampirs durchschlagen und die Frau dahinter tödlich verwunden können. Er steckte die Pistole zurück ins Holster, und begleitet von einem wütenden, markerschütternden Knurren, beschleunigte er zum schnellsten Sprung seines Lebens.
Nur Zentimeter bevor der Vampir die Frau erreichte, fing er den Blutsauger im Flug ab und riss ihn mit sich zu Boden.
Das Überraschungsmoment ermöglichte ihm, dem Mörder mit seiner Klinge die Kehle zu durchtrennen, ehe der zu irgendeiner Gegenwehr fähig war. Aber noch während er dem Vampir sofort darauf den Todesstoß ins Herz versetzte, nahte bereits neue Gefahr für die mutige Frau in Schwarz.
Die anderen beiden Vampire hatten ihr blutiges Mahl an den nun toten Männern beendet und dürsteten nach mehr.
In ihren Augen stand pure Gier, als die zwei sich blutbesudelt und mit voll ausgefahrenen Fangzähnen der Gruppe von Frauen näherten.
Ohne zu zögern, zog Ben seine ebenso kunstvolle wie tödliche Klinge aus dem Mann unter ihm und warf sie zielsicher nach einem der Gesetzlosen. Seine Position machte es ihm unmöglich, das Herz zu treffen, doch sein Messer schnitt wie beabsichtigt den Hals des Angreifers bis zur Hauptschlagader auf. Der presste verzweifelt seine Hand auf die Wunde und flüchtete, um sich mit der lebensgefährlichen Verletzung in Sicherheit zu bringen.
Leider warf sich der zweite Vampir mit gefletschten Zähnen auf Ben, bevor er seine Pistole ziehen konnte. In wilder Raserei versuchte der Vampir, seine mörderischen Fänge in Bens Hals zu schlagen. Ben gelang es gerade noch, seinen Nacken außer Reichweite zu bringen, er erntete jedoch zwei tiefe, schmerzhafte Furchen in der Schulter. Um die Frau nicht zu gefährden, setzte er alles daran, sich mit dem Angreifer so weit wie möglich von ihr wegzurollen, während er gleichzeitig den Attacken der Reißzähne zu entgehen versuchte.
Inzwischen öffnete sich die Fahrertür der verdunkelten Limousine und Ben registrierte, dass noch ein weiterer Vampir mit von der Partie war. Der leblose, blutüberströmte Chauffeur kippte halb aus dem Wagen, als der skrupellose Mörder über ihn hinweg nach draußen stieg.
Im Zweikampf gefangen hatte Ben keine Chance einzugreifen, als dieser Vampir zielstrebig auf die Frau mit dem Dolch zuging. Nur einen Moment später holte der Typ aus und schlug sie mit einem Hieb so heftig zur Seite, dass ihr Körper ein Stück durch die Luft flog, bevor er etwas abseits auf den Boden krachte.
Ben roch ihr frisches Blut und brüllte vor Wut auf, doch sein Gegner hatte ihn dermaßen fest im Griff, dass er nicht an seine Pistole herankam.
Die Frau in Schwarz rappelte sich sofort wieder auf. Allerdings war ihr der Schleier über die Augen gerutscht.
Glücklicherweise lenkte der Blutgeruch der Bewusstlosen die Aufmerksamkeit des gierigen Vampirs von der tapferen Orientalin ab, während die drei anderen Frauen kreischend auseinanderstoben.
Mit einem zornigen Aufschrei und einer ruckartigen Bewegung riss die mutige Frau sich die schwarzen Stoffteile vom Kopf. Der Inbegriff einer arabischen Schönheit, faszinierend und zugleich geheimnisvoll, kam zum Vorschein.
Trotz der Situation musste Ben lächeln. Das verging ihm jedoch im nächsten Moment, denn wegen der atemberaubenden Ablenkung kassierte er einen brutalen Kinnhaken.
„Lauf! Los, lauf weg!“, brüllte Ben der Frau zu. Der Geruch ihres Blutes alarmierte ihn, denn er wurde intensiver.
Die Orientalin tat jedoch genau das Gegenteil und griff erneut nach ihrem Dolch, während das Grüppchen der drei Frauen wieder hinter ihr Schutz suchte.
Mitsamt seinem Gegner, der ihn immer noch im Griff hatte, versuchte Ben, zu seinem Messer zu rollen, das einsam in der Gasse lag, nachdem der am Hals Getroffene geflüchtet war. Mittlerweile ging es um Sekunden, denn die Frau in Schwarz hatte dem Vampir, der sich über die Bewusstlose hermachen wollte, mit einem zornigen Schrei eine herumliegende Schnapsflasche an den Kopf geworfen und die Hand, mit der sie ihre Waffe hielt, war blutüberströmt.
Doch obwohl diese Furcht einflößende Bestie mit den blutigen, rasiermesserscharfen Fangzähnen nun auf sie zukam und sie wie ein Riese überragte, wich die orientalische Schönheit keinen Zentimeter zurück. Ihre hinreißend grünen Augen funkelnden vor Zorn.
„Lauf weg! Du hast keine Chance!“
Doch sie folgte seinem Rat nicht, duckte sich nur in Erwartung eines Angriffs.
Ben war tief beeindruckt. Sie hatte wirklich Mut, das musste er ihr lassen.
Aber ebendas wäre ihr Todesurteil.
Der Geruch ihres Blutes war mittlerweile zu intensiv und nach ihrer vorherigen Attacke würde der Vampir sie dieses Mal nicht zur Seite schleudern, sondern ihr direkt das Genick brechen oder ihre Kehle herausreißen und sich sofort an ihrem Blut ergötzen.
Ben war fast in Reichweite seines Messers.
Er streckte seinen Arm weit aus, um es mit den Fingerspitzen zu erreichen. Das machte ihn für einen Augenblick wehrlos und sofort traf ihn ein brachialer Schlag in die Rippen – er hörte das Knacken. Ein scharfer Schmerz jagte durch seinen Brustkorb, doch er biss die Zähne zusammen und bekam endlich sein Messer zu fassen.
Anstatt damit seinen eigenen Gegner zu töten, schleuderte er die lange Klinge zum Angreifer der Orientalin. Ben zielte auf den linken, oberen Rücken des Vampirs und legte all seine Kraft hinein – jetzt schickte er ein Stoßgebet zum Himmel.
Nur knapp vor der schwarz gekleideten Frau brach der Vampir wie ein nasser Sack zusammen. Er musste wie erhofft das Herz durchbohrt haben – ein kleines Wunder unter diesen Umständen.
Erst jetzt gelang es ihm, sich voll auf seinen eigenen Kampf zu konzentrieren. Mit einem geschickten Manöver zwang er den blutrünstigen Feind schließlich unter sich. Das verschaffte ihm den nötigen Spielraum, um seine Neunmillimeter mit dem aufgeschraubten Schalldämpfer aus dem Holster zu ziehen. Drei Schüsse ins Herz bereiteten dem Gesetzlosen ein jähes Ende.
Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang Ben auf und blickte, auf der Suche nach weiteren Angreifern, prüfend nach allen Seiten.
Ihm war bewusst, dass er nach diesem Kampf einen ebenso schlimmen Anblick bot wie zuvor die mörderischen Vampire. Aus diesem Grund bemühte er sich, ruhig und unbedrohlich auf die Orientalin zuzugehen, die immer noch abwehrbereit mit dem Dolch dastand.
Ihr Atem kam stoßweise und er spürte förmlich, wie das Adrenalin durch ihren Körper rauschte. Während des Kampfes hatte er den Eindruck gewonnen, dass sie ihre Angst in Wut umwandelte und diese Wut dann nutzte, um daraus Kraft zu schöpfen.
Vor ihm stand die mutigste Frau, der er je begegnet war – und sie sah umwerfend aus.
Wie ein heller geschliffener Smaragd strahlten die Grüntöne ihrer Augen, eingerahmt von wunderbar geschwungenen, tiefschwarzen Wimpern und formvollendeten Augenbrauen. Ihre sinnlichen Lippen wirkten auf ihn wie die reinste Verführung inmitten eines anmutigen Gesichts mit makellosen Zügen. Am liebsten wäre er mit seinen Fingern durch ihr welliges Haar gefahren, das die Farbe von dunklem Ebenholz hatte und ihr bis zur Hälfte des Rückens reichte.
Schönheit in jeder Form übte von jeher einen besonderen Reiz auf ihn aus. Durch sein Hobby, das Bodypainting, war er vielen Frauen begegnet, die dem allgemeinen Schönheitsideal entsprachen. Doch diese tapfere und zugleich wunderschöne Orientalin war die erste, die ihn ganz und gar überwältigte. Er bedauerte zutiefst, dass er noch nicht einmal die Umrisse ihrer sicherlich ebenso verlockenden, weiblichen Figur unter dem weiten arabischen Gewand erkennen konnte.
Obwohl seine feine Nase ihre Todesangst deutlich roch, blieb sie tapfer zwischen ihm und den drei Frauen stehen, die dicht aneinandergedrängt hinter ihr Schutz suchten.
Als sie ihn mit ihren umwerfenden Augen fixierte, fühlte er sich gefesselt und in den Bann gezogen wie vom Gesang einer Sirene. Ohne ihn auch nur für einen Wimpernschlag freizugeben, befahl sie etwas mit fester Stimme den völlig verängstigen Frauen in einer kehlig klingenden Sprache. Während ihre Begleiterinnen daraufhin zur Limousine flüchteten und sich dort in verständlicher Panik einschlossen, hob sie drohend den Dolch in ihrer Hand. Dabei spannten sich ihre Muskeln an und sie duckte sich kaum merklich, wohl um sich auf seinen Angriff vorzubereiten.
Langsam und sichtbar steckte er seine Pistole weg und hob beschwichtigend die Hände.
„Hey, ganz ruhig. Der Kampf ist vorbei. Ich werde dir nichts tun.“
Um seine Absicht zu unterstreichen, zog er sich einen Schritt zurück. Um die Situation weiter zu entschärfen, zog er sein Handy heraus und rief erst mal im Hauptquartier an.
„Hallo, Elia, ich brauche Unterstützung. Hier gab es eine ziemliche Sauerei, die wir beseitigen müssen. Insgesamt sechs Tote: drei Vampire, drei Männer und eine vermutlich schwer verletzte Frau. Alles in allem haben wir fünf Augenzeugen, aber um die kümmere ich mich gleich.“
„Und keiner wollte ein Autogramm von dir, Bran?“
Bran – ein wiederkehrender Scherz, denn seine Freunde mixten die Vornamen Ben und Brad, um ihn damit aufzuziehen, dass er Brad Pitt zum Verwechseln ähnlich sah. Gewöhnlich gab er dann humorvoll zurück, dass das Problem in fünfzig Jahren ohnehin auf natürlichem Weg gelöst sei, weil seine Vampirnatur ihn dann immer noch jung aussehen lassen würde. Jetzt war er dazu jedoch nicht in der Stimmung und gab dem stets gut gelaunten Elia nur seine Position durch.
„Du hast Glück, Ben. Agnus wollte sich mit einem alten Bekannten treffen und ist gerade ganz in deiner Nähe. Ich sage ihm Bescheid.“
Ben beendete das Gespräch und schaute sich noch einmal aufmerksam um. Nebenbei zog er sein langes Messer aus dem Herz des letzten Gegners. Die filigranen Ranken, die er mit viel Liebe eingearbeitet hatte, waren blutrot – nicht seine Art von Kunst. Notgedrungen wischte er die Klinge an der Kleidung des Toten ab. Notgedrungen hatte er damals auch das Töten dieser blutgierigen Mörder erlernen müssen. Nur so hatte er seine – von Vampiren verfolgte – menschliche Schwester beschützen und ihr das sicherste Zuhause der Welt bieten können: das Hauptquartier der Wächter.
Beim Anblick seines Messers wich die Frau in Schwarz zurück, bis die Mauer in ihrem Rücken jede weitere Flucht verhinderte.
„Schon gut“, versuchte er, sie zu beruhigen, „Ich wollte es nur wegstecken. Siehst du?“
Er schob seine Klinge in die Scheide und ging langsam auf sie zu.
„Komm nicht näher!“
Froh, dass die Orientalin seiner Sprache mächtig war, wies er auf ihre Hand, an der Blut heruntertropfte, und entgegnete mit ruhiger Stimme: „Du blutest stark. Lass mich das mal ansehen. Außerdem hältst du dein Messer falsch, falls du wirklich vorhast, mich anzugreifen.“
Für einen Moment schaute sie mit einem Stirnrunzeln auf ihren Dolch, senkte ihn aber nicht und warf dann einen besorgten Blick zu der bewusstlosen Frau schräg hinter ihr.
Er seufzte und trat auf sie zu.
„Lass mich dir helfen. Du hast mein Wort: Ich werde dir nichts tun und du wirst all das hier in ein paar Minuten vergessen haben.“
Wie fast alle Vampire hatte er in seiner Jugend gelernt, Erinnerungen zu löschen, die kurz zurücklagen. Nur so war es ihm und seinen Artgenossen möglich, trotz des unvermeidlichen Bluttrinkens unentdeckt unter den Menschen zu leben.
Am Herzschlag der wunderschönen Frau hörte Ben, dass sie sich leider kein bisschen beruhigte. Im Gegenteil, ihr Puls wurde sogar noch schneller und dazu auch flacher, während ihr Gesicht deutlich an Farbe verlor. Er fürchtete, dass sie gleich einen Schock bekommen oder wegen des Blutverlusts ohnmächtig werden würde, also handelte er.
Im Bruchteil einer Sekunde überwand er die restliche Distanz und nahm sie zwischen seinem Körper und der Mauer gefangen. Sanft, aber unnachgiebig, hielt er ihre Hand samt dem Dolch fest und streifte den langen Ärmel ihres schwarzen Gewandes zurück. Auf der Innenseite ihres Unterarms war ein langer Schnitt. Vermutlich war sie bei ihrem Sturz in eine der Glasflaschen am Boden gefallen.
Er beugte sich zu ihrem Arm herunter und strich mit seiner Zunge langsam über die Schnittwunde. Die heilende Wirkung seines Speichels verschloss die hässliche Wunde innerhalb von Sekunden. Normalerweise wendete seine Spezies diese Methode an, um die kleinen, aber unumgänglichen Bisswunden verschwinden zu lassen, und so würde auch keine Narbe bei ihr zurückbleiben.
Wer würde auch Narben auf so einer vollkommenen Schönheit zurücklassen wollen?
Leider begann die arabisch aussehende Frau nun am ganzen Körper zu zittern, reine Panik stand in ihren Augen. Genau die gleiche abgrundtiefe Angst hatte Ben auch in ihrem Blut wahrgenommen, als er ihre Wunde mit seiner Zunge geheilt hatte. Aber warum hatte sie vor ihm, der ihr doch offensichtlich half, mehr Angst als vor den blutrünstigen Mördern, die sie hatten angreifen wollen?
„Sch!“, versuchte er, sie zu beruhigen.
Er wollte sie in eine leichte Trance versetzen, um ihr die Angst zu nehmen, bevor er dieses furchtbare Geschehen gleich für immer aus ihrer Erinnerung löschen würde.
Die Existenz von Vampiren musste unter allen Umständen geheim bleiben, dafür gab es eiserne Gesetze. Gesetze, an die sich die allermeisten Vampire hielten, andernfalls bekamen sie es auch mit den Wächtern zu tun und landeten vor dem Tribunal – falls sie dann noch lebten.
Um den Angriff aus ihrem Gedächtnis zu löschen, benötigte Ben Hautkontakt und strich deshalb sanft mit seinem Handrücken über ihre Wange.
Ihre Haut fühlte sich so weich und unwiderstehlich an, als verströmte sie eine Droge, die ein unstillbares Verlangen nach Berührung auslöste. Etwas in dieser Art hatte er noch niemals empfunden – und das obwohl er sehr oft die Haut von Frauen berührte, wenn er sie mittels Bodypainting in lebende Kunstwerke verwandelte. Aber diese Orientalin schien sowieso alles, was er bisher mit Frauen erlebt hatte, in den Schatten zu stellen. Auch sein Versuch, sie in Trance zu versetzen und vergessen zu lassen, blieb bei ihr völlig wirkungslos. So etwas hatte er ebenfalls noch nie erlebt.
Stattdessen versteifte sich der weiche weibliche Körper – den er durch den blickdichten, aber sehr dünnen Stoff nur allzu deutlich spürte – jetzt auch noch völlig.
„Ich kenne deine Art! Du kannst mich nichts vergessen lassen! Deine Kräfte sind bei mir wirkungslos“, keuchte sie und ihre Stimme zeugte von abgrundtiefer Furcht.
Auch sein nächster Versuch scheiterte und ihre Worte, die ein Geheimnis preisgaben, von dem die Welt nichts wissen durfte, stellten ihn vor ein noch größeres Problem.
Was sollte er jetzt nur mit dieser wunderschönen, aber völlig verängstigten Frau anstellen?
Bis auf das heftige Zittern war ihr Körper mittlerweile komplett erstarrt. Vermutlich stand sie kurz vor einem Schock oder einer extremen Panikattacke.
Diese hinreißende Orientalin musste ihn für ein wahres Monster halten und aus irgendeinem Grund frustrierte ihn das über die Maßen.
Bemüht, alles zu tun, um sie zu beruhigen, strich er sanft über ihr ebenholzfarbenes Haar und ihre leichenblasse Wange.
„Sch! Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten. Bei mir bist du in Sicherheit.“
Die Frau sah ihm dermaßen verblüfft in die Augen, als hätte er verkündet, er wäre ein Tiger, der Gras frisst.
Vermutlich hatte sie seine ausgefahrenen Fangzähne gesehen.
„Glaub mir, ich bin nicht wie diese gewalttätigen, blutgierigen Bestien. Alles wird gut. Sieh dich doch um. Die Gefahr ist vorbei. Jeden eurer Angreifer, bis auf den einen der geflüchtet ist, habe ich unschädlich gemacht.“
Keine Reaktion.
Ohne ihre zitternden Arme loszulassen, trat er einen Schritt zurück und musterte sie von oben bis unten. Durch das schwarze Gewand erkannte er aber rein gar nichts.
„Hast du noch andere Verletzungen?“
Zumindest schüttelte sie jetzt den Kopf zur Antwort.
„Du fühlst dich kalt an und du zitterst. Das liegt vermutlich am Blutverlust und am Adrenalin. Ich gebe dir meine Jacke.“
Während er seine Lederjacke auszog und um ihre Schultern legte, glitt ihr Blick wieder besorgt zu der bewusstlosen Frau.
„Lass uns zu deiner verletzten Freundin gehen und nach ihr sehen, ja?“
Als Antwort schenkte sie ihm nur ein steifes Nicken. Er wandte sich ab und ging in Richtung der Verletzten. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass die Orientalin Anstalten machte, ihm zu folgen. Als sie jedoch mit dem ersten Schritt die stützende Mauer in ihrem Rücken verlor, gaben ihre Beine nach.
Dank seiner übermenschlichen Geschwindigkeit fing er sie gerade noch ab, bevor sie auf dem harten Asphalt aufschlug. Mühelos hob er sie auf seine starken Arme.
„Das wird schon wieder. Ich kümmer mich um dich.“
In diesem Moment hatte er das Gefühl, als würde in seinem Inneren etwas Fundamentales geschehen, doch er konnte nicht definieren, was es war.
Für einen langen Augenblick verschwand die ganze Welt um ihn herum und er sah und fühlte nur noch diese eine Frau in seinen Armen. Mit einem Schlag war er übersensibel und spürte jedes Detail: nicht nur die Konturen ihres durch und durch weiblichen Körpers, der leider mit dem schwarzen, edlen Tuch verhüllt war – nein, auch ihren Duft nach Jasminblüten und Sandelholz, mit einer Spur Vanille und Bergamotte, ihren Herzschlag, ihr Aus- und Einatmen.
Natürlich hatte er in den letzten hundert Jahren ab und zu einen Frauenkörper gehalten, aber das hier war etwas ganz anderes.
Eine seltsame, aber angenehme Wärme durchströmte ihn, die nichts mit ihrer Körpertemperatur zu tun hatte, und ein überwältigendes Glücksgefühl erfasste ihn, als hätte er den wertvollsten Schatz aller Zeiten gefunden.
Ihn überkam das dringende Bedürfnis, diese Frau in seinen Armen zu wärmen und zu beschützen. Hätte ihm in dieser Sekunde jemand erklärt, das wäre seine Bestimmung für den Rest seines Lebens – er hätte einfach genickt.
Überwältigt von den Eindrücken zog er sie unwillkürlich näher an sich.
Vermutlich waren nur ein paar Sekunden verstrichen, doch nun wurde er wieder brutal in das Hier und Jetzt gerissen. Die wunderschöne Orientalin verkrampfte sich nämlich in seinen Armen und wurde zu einem steinharten Bündel.
„Nein – bitte nicht …“, bettelte sie und blanker Horror spiegelte sich in ihren Augen.
Ein paar Minuten zuvor hatte sich diese Frau noch tapfer dem mörderischen Angriff eines Vampirs entgegengestellt, aber vor ihm fing sie an zu betteln, als drohte ihr von ihm ein weitaus schlimmeres Schicksal.
Warum hatte sie ausgerechnet vor ihm solche Angst?
Was machte er nur falsch?
Dieser abgrundtiefe Horror, der in ihrem Blick lag, bohrte sich wie ein glühender Dolch in seine Seele.
Bevor er jedoch die Gelegenheit bekam, etwas zu sagen, flatterten ihre Lider und sie wurde ohnmächtig.
„Ich bin kein Monster“, murmelte er zutiefst enttäuscht, „und das würde ich dir gern beweisen.“
Ein leises, gekränktes Knurren drang aus seiner Kehle.
Die Ohnmacht ließ ihren weiblichen Körper in seinen Armen wieder weich und anschmiegsam werden und er saugte diese Wahrnehmung förmlich in sich auf. Ihm kam es auch so vor, als schmeckte er ihr Blut noch immer auf seiner Zunge und diese Erinnerung würde er für immer bewahren.
Was um alles in der Welt war bloß mit ihm los?
Warum fühlte und verhielt er sich so merkwürdig?
Er schüttelte den Kopf in dem Versuch, die viel zu intensiven Eindrücke wieder loszuwerden – ohne Erfolg.
Eine flüchtige Ahnung streifte sein Bewusstsein, während er die Arme der Orientalin auf ihren Bauch legte und dabei etwas Entscheidendes entdeckte: Auf der Innenseite ihres linken Handgelenkes zeichnete sich ein kleines, sehr filigranes Branding ab. So hätten es zumindest die Menschen bezeichnet. Vampire nannten die beiden Blättchen die Blüte der Ewigkeit. Diese Frau war also die eine unter Abertausenden, der eine tiefe Verbindung, eine Symbiose, zu einem Vampir möglich war.
Ehe er Zeit hatte, über die Tragweite dieser Entdeckung nachzudenken, alarmierten ihn plötzlich seine Instinkte.
Ein Raubtier, mächtiger und viel älter als alle, die er je besiegt hatte, näherte sich in tödlicher Absicht.