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Kapitel 5

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Etwa zwei Stunden später führte Agnus Abadin in die große Bibliothek mit den deckenhohen Bücherregalen aus dunklem Palisander. Sein alter Freund hatte ihn darum gebeten, ungestört mit ihm zu reden. Da sein Büro mit Glaswänden ausgestattet war, schien ihm dieser Raum passender.

Agnus steckte gerade sein Handy weg. Auf Abadins ausdrücklichen Wunsch hatte er Elia angerufen und ihn mit Sarah ebenfalls herbestellt. Elia wusste noch nicht, wer ihn hier erwartete, und das war auch besser so.

Sie setzen sich auf die edlen Seidensessel, Originale aus der Zeit und im Stil Louis XV. mit zugehörigem Beistelltisch. Agnus hasste diese vergoldeten Dinger mit den dünnen Beinchen, doch sein Freund mit dem goldverzierten Gewand passte hervorragend dazu. Abadin wirkte genau so, als würde er auf seinem Thron sitzen und Audienz halten – ein Herrscher, durch und durch.

Agnus begann, sich unwohl zu fühlen. Die ganze Sache bescherte ihm ein mieses Bauchgefühl …

„Ich danke dir für die Dienste deiner Heilerin. Eine so erfahrene Frau mit solch einer kostbaren Gabe wüsste ich sehr zu schätzen. In meinem Land würde ich sie mit Ehre und Reichtum überschütten.“

„Alva ist meine Frau. Vergiss das nicht, Abadin. Oder hast du vor, um sie zu kämpfen?“

Agnus glaubte das nicht wirklich, aber immerhin hatte er es mit Abadin Said zu tun und eine kleine Warnung konnte nicht schaden.

Abadin grinste amüsiert. „Es wäre äußerst unklug, sich mit dem Anführer der Wächter messen zu wollen.“

Agnus grinste zurück, aber eher mit dem Charme eines angriffslustigen Grizzlys.

„Ich möchte dir auch für deine Gastfreundschaft danken, Agnus, und dass meine Frau Aisha bei dir in Ruhe genesen darf.“

„Du warst es, der mich die Bedeutung der Gastfreundschaft vor langer Zeit gelehrt hat, Abadin. Außerdem hast du meine Frau ja gehört: Aisha darf vorerst nicht bewegt werden und sie möchte den Heilungsprozess ihrer Nervenbahnen im Auge behalten.“

Außerdem hätte Abadin in einem Krankenhaus sicher Erklärungsnöte, was die wundersame Knochenheilung betraf.

„Ja, die Gastfreundschaft ist eines der wichtigsten Dinge in unserer Kultur und ich freue mich, dass du dich daran erinnerst. Ich habe eine große Bitte an dich, mein Freund.“

Aha – irgendwas war im Busch, das hatte er doch gleich geahnt.

„Meine politischen Verpflichtungen und Termine in Europa zwingen mich dazu, noch heute dieses Land zu verlassen. Darf ich dir meine verletzte Lieblingsfrau anbefehlen?“

Agnus nickte in einer angedeuteten Verneigung.

„Dein Vertrauen ehrt mich.“

„Du wirst verstehen, dass ich Aisha nicht allein hierlassen kann.“

„Natürlich.“ Doch er würde irre werden, wenn sich hier tagelang ein schnatterndes, kicherndes Haremsrudel an Frauen in den Gängen tummelte. Hatte er nicht etwas Dringendes in der Arktis zu erledigen?

„Wie viele?“, fragte Agnus mürrisch.

„Nur Jasmin. Sie wird ihr Gesellschaft leisten, kann für Aisha sorgen und übersetzen. Aber wenn du Sehnsucht nach Gespielinnen hast …“, schloss Abadin mit einem vielsagenden Blick.

„Nein, bloß nicht!“

„Schon gut, alter Freund. Jasmin hat übrigens ein besonderes Talent, jede Sprache in sehr schneller Zeit zu erlernen. Sie ist oft als Übersetzerin auf meinen vielen Reisen dabei.“

Warum betonte Abadin das so?

Wollte er sie etwa verkaufen?

In Abadins Königreich gab es so einige Bräuche, die im Rest der Welt kaum noch praktiziert wurden.

Das Klopfen an der Tür unterbrach Agnus’ Gedanken. Elia, sein stets gut gelaunter Computercrack mit den dunkelblonden Wuschelhaaren betrat die Bibliothek. An seiner Seite befand sich Sarah, eine blonde, wenn auch sehr zarte Schönheit. Ihre langen schlanken Glieder und ihre hellblauen Augen unterstrichen ihr sensibles, freundliches Wesen.

Agnus machte sich auf alles gefasst, und kaum hatte Elia den König erkannt, reagierte dessen Vampirinstinkt.

Im Bruchteil einer Sekunde stellte sich sein nicht gerade mit Größe gesegneter Schreiber vor seine verletzliche Menschengefährtin und ein warnendes Knurren drang aus seiner Kehle.

Die förmliche Vorstellung von Abadin würde er sich sparen können. Elia hatte die mörderische Begegnung mit dem heutigen König trotz all der vergangenen Jahrhunderte anscheinend nicht vergessen.

Abadin war wesentlich größer und breiter gebaut als Elia, doch Agnus würde nicht den Fehler begehen, jetzt zwischen die beiden zu treten. Ein Funke, und Elia würde sich ganz der Bestie in ihm überlassen. Agnus registrierte schon jetzt, wie sich unter der Haut von Elias Unterarmen und Händen etwas bewegte, und seine Fingerkuppen zuckten bereits. Es wirkte, als wollte etwas ausbrechen – etwas, um das sich seit ihrer letzten Begegnung im Mittelalter unzählige düstere Legenden rankten.

„Der Schreiber, der sich wieder todesmutig vor die wunderschöne Lady Sarah stellt“, meinte Abadin mit einem kalten Lächeln.

Elias Augen wurden schmal und die Freundlichkeit darin war längst einem tödlichen Versprechen gewichen, das selbst Agnus erkannte.

Die geballten Fäuste und leicht gebeugten Knie verrieten Agnus, dass im Inneren seines Schreibers ein wahrer Vulkan brodelte, der jeden Moment auszubrechen drohte.

„Ich wollte deiner Gefährtin eine Frage stellen.“

„Sarah wird nie mit dir gehen! Nicht damals und nicht heute! Sie ist meine Gefährtin und ich werde das verhindern, genau wie einst.“

Der König seufzte. „Diese Sache aus dem 14. Jahrhundert steht also immer noch zwischen uns?“

„Du wolltest Sarah damals mit Gewalt zur Gefährtin nehmen!“

Agnus registrierte, dass die inzwischen ausgefahrenen Reißzähne seines relativ kleinen Schreibers gewaltiger waren, als er sie je gesehen hatte – um genau zu sein: gewaltiger, als alle, die er jemals gesehen hatte.

„Ja, in der Tat“, bekannte Abadin, „Ich war eben ein junger Narr.“

Und ein sehr gefährlicher Narr, dachte Agnus. In der Kampfkunst mit Zwillingsschwertern hatte Abadin schon damals tödliche Perfektion erreicht, und nach dem zu urteilen, was er heute im Kampf mit Benjamin gezeigt hatte, würde er Elia nicht den Hauch einer Chance einräumen – unter normalen Umständen. Aber Elias Zustand war momentan alles andere als normal, genau wie vor so vielen Jahrhunderten.

Der König erhob sich von seinem Stuhl und verneigte sich tief vor Elia, viel tiefer als üblich.

„Wie gesagt: Ich war ein Narr.“

Als Abadin anschließend auf Sarah zuging, hielt Agnus nichts mehr auf seinem Stuhl. Er stand auf und verfolgte mit Adleraugen die Szene.

Sarah legte Elia eine Hand auf den nackten Unterarm und die Berührung schien seinen Schreiber Gott sei Dank zu beruhigen und Sarah Sicherheit zu geben.

Der Herrscher ergriff Sarahs freie Hand und küsste sie respektvoll. „Ich freue mich, Euch, Lady Sarah, heute glücklich zu sehen. Ihr wart einst eine sterbende Blume, aber Euer Gefährte ließ Euch zu großer Pracht aufblühen.“

Sarahs Wangen färbten sich rot.

„Stellt Eure Frage, Abadin bin Jussef.“

Abadin, Sohn des Jussef – sein Name damals, lange vor seiner Zeit als König, erinnerte sich Agnus.

„Mich würde Eure Einschätzung zu dem Krieger Ben-Yamin interessieren. Ich habe vor, ihm den Schutz von zwei meiner Frauen zu übertragen.“

Nein, nicht Benjamin! Er wird in Teufels Küche kommen!

„Abadin“, protestierte Agnus sofort, doch der König sah ihn scharf an und hob abwehrend eine Hand.

Frustriert fuhr sich Agnus durch seine wilden Wikingerlocken. Er würde sich dermaßen die Hand verbrennen! Er glaubte, das Brennen bereits jetzt zu spüren.

Sarah antwortete sehr vorsichtig, was er ihr nicht verdenken konnte: „Benjamin – er mag auf Euch wie ein Krieger wirken, aber ich kenne keinen mit einem sanfteren Gemüt, von meinem Gefährten einmal abgesehen. Er ist nur zum Wächter geworden, damit seine Schwester unter dem Schutz von Agnus steht.“

Der gleiche Grund, warum auch Elia die ersten Jahrhunderte bei Agnus geblieben war. Jeder wusste, dass Lady Sarah eine Symbiontin war, und im Mittelalter hätten viele, die sich stärker glaubten als Elia, versucht, sie ihm zu rauben. Dass Elia sein Schreiber war, hatte sich durch alle Jahrhunderte hinweg als großer Vorteil für beide erwiesen. Und im neuen Zeitalter war Elia zu einem Computergenie geworden und das Internet ein Schlachtfeld, das er meisterte wie kein anderer.

„Würdet Ihr mich Ben-Yamins Schwester vorstellen? Ich bin ein mächtiger Herrscher. Keiner würde es wagen, sie aus meiner Hand zu rauben.“

Benjamin allein wäre chancenlos gegenüber Abadin, ebenso wie der Ehemann von Lissi, dachte Agnus.

„Sie ist nicht hier, Abadin. Sie hat sich einen Menschen zum Partner erwählt und wohnt weit weg an einem geheimen Ort.“

„Dann danke ich Euch, Lady Sarah. Es ist Euer Mund, aus dem ich ein Urteil über Ben-Yamin erfahren wollte.“

So langsam dämmerte Agnus, warum Abadin ausgerechnet Sarahs Einschätzung interessierte. Der König wusste, dass sie vor Elia durch einen gewalttätigen Vampir traumatisiert worden war, und wenn ausgerechnet sie Benjamin als sanftmütig beschrieb …

Der König küsste noch einmal ehrerbietig Sarahs Hand.

„Habt Dank für Euer Kommen.“

Die beiden verstanden den Wink mit dem Zaunpfahl und verließen die Bibliothek. Als sich die Tür schloss, seufzte Abadin.

„Ich beneide Elia um sein Glück. Ich hätte Sarahs Herz damals vielleicht gewonnen, wenn ich sanfter und geduldiger gewesen wäre.“ Und mit einem sarkastischen Lächeln ergänzte er: „Aber wir wissen beide, dass ich das bis heute nicht geworden bin.“

„Wir haben alle unsere Schwächen, alter Freund“, versuchte Agnus es ausnahmsweise mal diplomatisch.

„In der Tat.“

Gedankenverloren wandte sich Abadin den Büchern im Regal zu.

„Deine Wächter waren schon immer Männer von Ehre, nicht nur im Kampf. Sie haben ihre Frauen bereits in den alten Zeiten mit Liebe gefangen genommen und nicht mit Gewalt.“

Agnus wurde hellhörig.

„Ja, und das ist bis heute so. Etwas anderes würde ich auch nicht dulden.“

Der König nickte nachdenklich. „Gute Dinge sollten sich nicht ändern, mein Freund, nur die schlechten. Ich werde mich noch von meiner Frau Aisha verabschieden und dann Jasmin in die Obhut deines Wächters Ben-Yamin übergeben.“

Agnus wurde noch hellhöriger.

„Du willst diese wunderschöne Jasmin in die Hände eines jungen Mannes geben, Abadin?“

„Du vertraust Ben-Yamin doch, oder?“

„Wie allen meinen Wächtern würde ich ihm mein Leben anvertrauen, aber …“

Ben war schließlich ein Mann! Er hatte Augen im Kopf und eine Hose, in der nicht nur Beine steckten.

Abadin unterbrach ihn, doch der wusste mit Sicherheit, was er hatte sagen wollen.

„Das genügt mir, Agnus. Dein Schreiber soll ein Dokument aufsetzen …“

„Aber mir genügt das nicht, Abadin! Sag mir den Grund, warum du deine Frau, die noch dazu eine Symbiontin ist, einfach hierlässt.“

„Jasmin ist noch nicht meine Frau, aber ich wünschte, sie wäre es. Meinst du nicht, ich würde gern das Schicksal deines Schreibers teilen und mit ihr als meiner Gefährtin glücklich sein? Aber das ist eine lange Geschichte …“, wiegelte der König ab und wandte sich schon der Tür zu. Agnus ahnte, dass er etwas Wichtiges zurückhielt.

„Das hier ist ein freies Land und wir werden Jasmin hier nicht einsperren“, köderte er Abadin.

„Du darfst auf keinen Fall zulassen, dass sie flieht! Jasmins Gedächtnis kann nicht gelöscht werden und sie kennt das Geheimnis unserer Natur, Agnus.“

„Dann sag mir besser, was du vor mir verschweigst, Abadin.“

Der König nahm so erschöpft wieder in dem vergoldeten Sessel Platz, als trüge er die Last der halben Welt auf seinen Schultern.

„Mein Land ist groß, und was Jasmin widerfuhr, geschah in einer der entlegensten Provinzen im Süden meines Reiches. Als König habe ich unzählige Aufgaben, und als ich durch den ausländischen Zeitungsbericht einer Frauenrechtsorganisation Kenntnis davon erhielt, war das Urteil bereits gesprochen und ein Teil der Strafe schon vollstreckt.“

„Das Urteil war nicht gerechtfertigt?“

„Es war nicht nur das Urteil, mein Freund. In meinem Land leben viele unterschiedliche Stämme, die nur durch die uralten Traditionen und den Koran vereint sind. Das Land würde auseinanderbrechen und sich in Stammeskriegen aufreiben, wenn ich von heute auf morgen alles radikal auf den Kopf stellen würde. Der Wandel muss langsam stattfinden, damit das Herz meines Volkes Schritt halten kann. Und auch wenn ich König bin, könnte ich jederzeit vom Thron gestürzt werden, falls die mächtigen Familienclans sich gegen mich stellen …“

Als Abadin das Ende seiner Geschichte erreichte, ließ Agnus die Stuhllehne los. Aus seiner Hand fiel zerbröseltes Holz.

„Einfach zu zierlich für mich“, meinte er lapidar.

Abadin blickte auf die zerstörten Armlehnen und lachte freudlos. „Als Aisha damals erfuhr, was Jasmin durchgemacht hat, musste sie sich übergeben.“

Agnus war eher danach, ein paar Männern die Knochen in ihrem Leib zu zertrümmern.

„Ich habe ein paar Hebel in Bewegung gesetzt und Jasmin in meinen Palast bringen lassen.“

„Lass mich raten: Sie entdeckte dabei deine Vampirnatur und du konntest sie nicht mehr gehen lassen?“

„Jasmin war in einem erbarmungswürdigen Zustand und vielleicht hätte sie die nächsten Tage nicht überlebt. Sie war wunderschön und noch recht jung, und als ich die Blüte der Ewigkeit an ihr entdeckte, zwang ich sie, mein Blut zu trinken. Ich wollte anschließend ihre Erinnerungen daran löschen, wollte ihr einen neuen Anfang und eine Zukunft in meinem Palast geben – doch das war leider unmöglich.“

Es gab nur sehr selten Menschen oder Symbiontinnen, bei denen das Löschen eines kurzen Zeitraums nicht möglich war, das wusste Agnus.

„Weil sie seit diesem Tag das Geheimnis unserer Natur kennt, behielt ich sie im Frauenbereich meines Palastes, dem Harem, denn dort hat kein Fremder und schon gar kein Reporter Zugang. Ich hoffte, die Zeit würde alle ihre Wunden heilen.“

„Aber das tut sie nicht immer.“

„Ja, das habe ich heute einmal mehr an Sarah erkannt. Ihre Furcht vor mir ist noch fast genauso groß wie vor über 600 Jahren.“

Abadin stand auf.

„Diese ganze Angelegenheit und meine Beteiligung an dieser Sache muss unter uns bleiben, Agnus, denn meine Souveränität als König darf nicht infrage gestellt werden. Ich muss dich deshalb um dein Wort bitten.“

Agnus wäre es lieber gewesen, Ben in alles einzuweihen, doch er sah an Abadins Gesichtsausdruck, dass er nicht mit sich handeln lassen würde.

„Ich werde darüber schweigen, du hast mein Wort.“

Sanft berührte Narben

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