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Kapitel 4

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„Sieh mich an, Jasmin!“

Seine Worte kamen erheblich schärfer heraus als beabsichtigt, was sicher keine gute Grundlage für ein vertrauensbildendes Gespräch war. Es bewirkte aber zumindest, dass sich ihre Angst in Wut verwandelte, denn nun fauchte sie ihn mit zusammengekniffenen Augen an: „Wer hat dir meinen Namen genannt?“

„Dein König.“

Benjamin registrierte die Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck: Verrat – Jasmin wirkte, als hätte ihr König sie verraten. Da er nichts daran ändern konnte und Jasmin ihm endlich mal in die Augen sah, fuhr er wie geplant fort: „Du hast gesehen, was ich bin, und auch, zu was ich fähig bin. Aber nur weil ich dazu fähig bin, mörderische Vampire zu töten, heißt das noch lange nicht, dass ich gegenüber einer Unschuldigen gewalttätig werde! Ich habe dir mein Wort gegeben, dass ich dir nichts tun werde, und ich halte mein Wort. Außerdem wärst auch du in der Lage, mit einem gezielten Stich deines Dolches einen Mann zu töten.“

Ohne den Kopf zu bewegen, blickte er mit hochgezogener Augenbraue nach unten, wo die Spitze ihrer Klinge auf seinen Brustkorb zeigte.

„Aber nicht dort, wo die Klinge gerade hinzielt.“

Er zog sich wieder auf seine Sitzbank zurück.

An Jasmins erschrockener Reaktion erkannte er, dass sie ihre Waffe unterbewusst auf ihn gerichtet hatte.

Er starrte einige Augenblicke aus dem Fenster und versuchte, seine widersprüchlichen Gefühle in den Griff zu bekommen.

Auf der einen Seite wollte er sich von ihr distanzieren, denn er hatte die Nase gestrichen voll davon, dass sie ihn wie ein Monster behandelte. Auf der anderen Seite zog es ihn geradezu magisch zu ihr hin. Das Bedürfnis, erneut ihre verführerisch samtige Haut zu streicheln oder seine Finger durch ihre seidigen, ebenholzfarbenen Wellen gleiten zu lassen, quälte ihn regelrecht. Darüber hinaus wollte er mehr über sie wissen, aus dem Rätsel schlau werden, das ihr Verhalten ihm aufgab.

Wegen Agnus’ früherer Reaktion ahnte er jedoch, dass ihn das in Teufels Küche bringen würde, und zudem erweckte Jasmin nicht gerade den Eindruck, als würde sie gerne etwas über sich preisgeben. Allerdings hatte sie es bei ihm mit einem Vampir zu tun – einem Raubtier, in dessen Natur es lag, Beute mit tödlicher Geduld zu verfolgen und auf eine passende Gelegenheit zu warten.

Nach einer kurzen Stille schien seine Rechnung vorerst aufzugehen, denn Jasmin fragte: „Würdest du mir die Stelle zeigen, an der ich einen Mann töten kann?“

Es ärgerte ihn nur, dass sie den Blick ihrer strahlend smaragdgrünen Augen dabei für den Boden verschwendete.

Mit dem Scharfsinn eines lauernden Raubtiers hatte er sehr wohl registriert, dass sie „Mann“ und nicht „Mensch“ gesagt hatte. Alles wies in die gleiche Richtung und er wollte mehr wissen – unbedingt.

Ihm kam der Einfall, aus ihrer Bitte einen Handel zu schlagen.

„Ich werde dir die Stelle zeigen, wenn du mir erzählst, warum du einen Dolch unter deinem Gewand trägst.“

Jasmin betrachtete ihre Klinge und strich dabei liebevoll über das kunstvolle, graubraune Wellenmuster des Damaszenerstahls. Er beneidete den kalten Stahl.

Wie armselig war das denn?

„Mein König hat mir diesen wertvollen Dolch geschenkt, damit ich jeden töten kann, der mich gegen meinen Willen berührt.“

Bis auf ihren Besitzer selbst, mutmaßte er zynisch.

Sie gehören ihm. Es sind seine Frauen, hallte es erneut wie ein Peitschenschlag in seinem Kopf und dieser Gedanke ließ seinen Zorn sofort wieder hochkochen.

„Du hast ihn also von diesem Tyrannen, der dich als seinen Besitz betrachtet und dich dazu zwingt, deinen ganzen Körper, dein Gesicht und sogar deine Augen hinter schwarzem Stoff zu verbannen?“

„Du verstehst überhaupt nichts!“, fauchte ihn Jasmin mit geballter Wut an.

„Dass sich ein Mann Frauen in einem Harem hält und sie als sein Eigentum betrachtet, will ich sowieso nicht verstehen!“

„Ich lebe sehr gern im Harem meines Königs!“

Fassungslos starrte er sie an.

„Dass er Frauen als seinen Besitz ansieht, dass er denkt, sie gehören ihm, das stört dich also überhaupt nicht?! – Ach was, vergiss es.“

Er schüttelte den Kopf und nahm sich vor, für den Rest der Fahrt zu schweigen und aus dem Fenster zu sehen.

Er musste endlich wieder zur Vernunft kommen!

Es war, als wecke Jasmin die schlimmsten Seiten an ihm, Seiten, die er selbst noch gar nicht gekannt hatte.

Gut, dass diese Fahrt nicht ewig dauerte. Je früher er diese Frau los war, desto besser.

Jasmin tat es ihm gleich und starrte ebenfalls aus dem Seitenfenster. Nach ein paar Momenten der Stille meinte sie aber noch: „In unserem Land gehört eine Frau nie sich selbst. Erst gehört sie ihrem Vater, der sie verheiratet, dann ihrem Ehemann. Ihr Schicksal wird das ganze Leben lang von Männern bestimmt.“

Ben versuchte, sich zusammenzureißen und seinem Verstand wieder die Zügel zu überlassen.

„Du bist seine Frau. Das alles hat mich nichts anzugehen.“

„Ich bin …“ Sie brach den Satz ab.

Er verbot sich nachzufragen, biss beinahe schmerzhaft die Zähne zusammen und blickte stur nach draußen, ohne jedoch etwas wahrzunehmen. Das sanfte Schlagen ihres Herzens ließ sich allerdings nicht ausblenden und streichelte seine Sinne wie ein warmer Sommerwind.

Nein, ich sollte mir das Leben nicht unnötig schwer machen!

Diese Frau und ihr Schicksal gehen mich nichts an!

Seine Zähne knirschten.

Einem Impuls folgend zog er seine Brieftasche heraus, öffnete sie und fuhr mit dem Daumen über das Foto seiner Schwester Lissi. Seine Anspannung legte sich.

Lissis Schicksal hätte Agnus damals auch egal sein können. Doch Agnus hatte ihn – der die feinen Hände eines Klavierspielers und Künstlers hatte – zur Ausbildung als Wächter aufgenommen, natürlich mitsamt seiner Schwester, die in höchster Gefahr schwebte, entführt zu werden.

Agnus war von jeher dafür bekannt, seine schützende Hand nicht nur über seine Wächter, sondern auch über deren Familien zu halten. Wer einen von ihnen angriff, bekam es mit allen Wächtern zu tun und das riskierte kaum jemand.

Sein Vater hatte Lissi auch immer beschützt. Beim letzten Versuch eines mächtigen Vampirs, Lissi zu einer gewaltsamen Verbindung zu zwingen, war er kämpfend gestorben. Mit seinem tödlichen Kampf hatte er ihnen die Zeit für die Flucht erkauft. Mit dem Tod seines Vaters hatte der Schutz von Lissi plötzlich in Bens Händen gelegen – den Händen eines Künstlers. Seine Familie war unter den Vampiren leider sehr bekannt und damit auch die Tatsache, dass Lissi eine der äußerst seltenen Symbiontinnen war.

Für die Vorteile einer Symbiose waren manche Vampire selbst in der modernen Zeit noch bereit zu töten. Im frühen Mittelalter waren solche Kämpfe auf Leben und Tod an der Tagesordnung gewesen, wobei dem Gewinner die Gefährtin und der gesamte Besitz des Verlierers zufielen.

Allerdings konnte eine symbiotische Bindung, die nur durch den Tod eines Partners endete, sowieso nur aus beiderseitiger Liebe entstehen.

Er schaute zu Jasmin hinüber und fragte sich, ob Abadin auf eine symbiotische Verbindung mit ihr spekulierte. Die Blüte der Ewigkeit auf Jasmin war noch nicht erwacht, sonst hätten sich die beiden Blättchen zu einem größeren Bild entwickelt. Eine dauerhafte Bindung war bisher also nicht entstanden, aber Jasmin befand sich sozusagen in Abadins Besitz.

Wieso auch immer: Jasmins Schicksal war Ben nicht egal. Vielleicht ging es ihm ja wie Agnus, dem Lissis Schicksal auch nicht gleichgültig gewesen war.

„Was wolltest du mir vorhin sagen, Jasmin?“

Sie schaute weiter aus dem Fenster, antwortete ihm jedoch: „Ich lebe zwar im Harem des Königs, aber ich bin nicht seine Ehefrau. Er ist nur mein Vormund und ich bete zu Gott, dass nie mehr ein Mann den Wunsch hat, mich zu heiraten.“

Der König war also nur ihr Vormund.

Ben fühlte sich auf seltsame Art zutiefst erleichtert.

Im Geiste ging er ihr Verhalten und ihre Worte noch mal durch. Sie hatte gesagt: „nie mehr ein Mann“, das hieß vermutlich, sie war schon einmal verheiratet gewesen. Und sie wollte wissen, wie man „einen Mann tötet“, und dafür gab es sicher einen Grund.

Die abgrundtiefe Panik, die er in ihren hinreißend grünen Augen gesehen hatte, legte nahe, dass ihr etwas Furchtbares widerfahren sein musste, höchstwahrscheinlich von einem Mann – oder mehreren?

Sofort hatte er zig Bilder von Frauen vor Augen, die mit übelsten Verletzungen in die Notaufnahme eingeliefert worden waren. Dort hatte er eine Zeit lang nachts gearbeitet, um seine Schwester Lissi bei ihrer Ausbildung während der Nachtschichten zu beschützen. Im Prinzip hatte er auch das komplette Medizinstudium mit ihr absolviert.

In diesen Nächten hatte er die ganze Bandbreite männlicher Brutalität zu Gesicht bekommen und dabei heilte der Körper immer schneller als die Seele.

Er war unbestreitbar ein Mann – vielleicht sah sie nur aufgrund dieser Tatsache in ihm ein aggressives Monster.

Er war ein Trottel gewesen, sich persönlich angegriffen zu fühlen!

Was war Jasmin nur zugestoßen?

Diese Frage ließ ihn nicht mehr los, auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass sich ihre Wege in ein paar Minuten trennen würden. Um das Gespräch erneut aufzunehmen, wiederholte er ihre letzten Worte: „Nie mehr soll ein Mann den Wunsch haben, dich zu heiraten? Das wird wohl schwierig werden, so wunderschön, wie du bist.“

Das Thema schien einen Nerv zu treffen, denn sie ballte ihre Hände zu Fäusten.

„Ich trage einen Schleier, und zwar immer“, antwortete sie mit gepresster Stimme, die von mühsamer Beherrschung zeugte.

Er musste einfach mehr wissen und bohrte nach: „In eurem Land ist es aber sehr heiß. Ich kann mir vorstellen, dass man mit einem schwarzen Tuch vor Mund und Nase schlecht Luft bekommt.“

Jasmin atmete hörbar durch.

„Da magst du recht haben, aber bei uns gibt es überall Klimaanlagen.“

Seine Raubtiernatur registrierte aufmerksam, dass ihre Gesichtszüge sich verhärteten und ihre Knöchel mittlerweile weiß hervortraten, weil ihre Hände mit solcher Gewalt Fäuste formten.

Mit bitterer Stimme fuhr sie fort: „Und wenn man dir einen Sack über den Kopf stülpt und du gewürgt wirst, bekommst du noch weniger Luft.“

Ihm blieb ebenfalls die Luft weg. Ein Faustschlag mit voller Wucht auf seinen Solarplexus hätte ihn nicht heftiger treffen können.

Bevor er jedoch etwas sagen konnte, schob Agnus die dunkle Verbindungsscheibe zwischen Fahrerkabine und dem hinteren Teil zurück und warf ihm einen breiten, schwarzen Seidenschal zu.

„Wir sind bald da, Ben. Abadin hat mir gesagt, ein Vampir kann Jasmin weder in Schlaf versetzen noch ihre Erinnerung löschen, also müssen wir ihr die Augen verbinden.“

Kaum dass er es gesagt hatte, schloss Agnus die Scheibe auch schon wieder.

Ein Blick auf Jasmin und ihm war sofort klar, dass das Schwierigkeiten geben würde. In blankem Entsetzen starrte sie auf das schwarze Tuch.

„Die Lage des Hauptquartiers muss geheim bleiben, tut mir leid. Unsere Feinde würden vor nichts zurückschrecken, um an diese Information zu kommen.“

Es frustrierte ihn zutiefst, die Veränderung bei Jasmin zu beobachten. Gerade hatte sie begonnen, sich zu entspannen und wenigstens ein klein wenig zu öffnen – nun schüttelte sie mit vor Schreck geweiteten Augen den Kopf und presste sich an die Wagentür. Alarmiert beobachtet Ben, wie Jasmin, ohne hinzusehen, panisch mit ihrer Hand nach dem Türgriff tastete. Nur noch Zentimeter, dann würden ihre Finger den Griff erreichen.

In ihrer derzeitigen Position würde die Tür durch ihr Gewicht aufschwingen und sie mit dem Rücken voraus auf der Fahrbahn aufschlagen. Mit etwas Pech würden die Hinterräder des SUV oder die eines nachfolgenden Fahrzeugs sie überrollen.

Das würde er auf keinen Fall zulassen!

Nichts und niemand durfte Jasmin verletzen, auch nicht sie selbst!

Ohne sie festzuhalten, gab es auf die Schnelle aber nur eine Lösung: Er drückte die zentrale Verriegelung.

Jasmin begriff sofort, dass sie nun mit ihm eingesperrt war, und begann verzweifelt, mit aller Kraft am Griff zu zerren – natürlich erfolglos.

Nach all dem, was Jasmin im Laufe dieser Nacht schon hinter sich hatte, tat es ihm in der Seele weh, sie erneut in bodenlose Furcht zu versetzen.

„Sch, keine Panik. Ich wollte nur nicht, dass du dich verletzt.“

Er legte den Seidenstoff in einer deutlichen Geste zur Seite und hob beschwichtigend seine Hand.

„Wir können das auch anders regeln, okay?“

Jasmin nickte stumm, ließ ihn aber keine Sekunde aus den Augen.

„Wie wär’s damit: Du legst einfach deinen Kopf in den Schoß und versprichst mir, nicht hochzusehen, bis wir angekommen sind? Wäre das für dich machbar?“

Wieder nickte sie schweigend. Immerhin ließ ihre Hand endlich vom Türgriff ab, doch leider zog sie damit nun blitzschnell den breiten Seidenschal an sich.

Mit ein paar Handgriffen verwandelte sie das Ding innerhalb von Sekunden in einen Schleier, der bis auf die Augen alles vor ihm verbarg – was ihn ausgesprochen ärgerte. Nun legte sie auch noch den Kopf in ihren Schoß und damit hatte er nicht mehr als ein schwarzes konturloses Etwas vor sich.

Er schüttelte den Kopf und nur mit Mühe gelang es ihm, ein erneutes Knurren zu unterdrücken.

Warum rege ich mich eigentlich so auf? In ein paar Minuten gehen wir getrennte Wege, bis dahin werde ich weder ihre Einstellung noch ihr Leben ändern können.

Manche Dinge sind einfach, wie sie sind.

Als er auf seine Hände blickte, stellte er fest, dass sie zu Fäusten geballt waren.

Der Krankenwagen fuhr direkt vor ihnen in die riesige, unterirdische Garage des Wächterhauptquartiers.

Sobald der SUV stand, entriegelte Ben die Autotüren.

„Wir sind da. Du kannst aussteigen.“

Sie schaute auf, aber nur noch die strahlend smaragdgrünen Augen erinnerten an Jasmin, die unter diesem schwarzen Gewand verborgen war.

„Danke“, sagte sie und reichte ihm seine Lederjacke, die achtlos auf dem Boden gelandet war, als sie sich aus seinen Armen gekämpft hatte. Wärme und tiefe Dankbarkeit lagen in diesem einen Wort und in dem Blick aus ihren wunderschönen Augen, den sie ihm für einen kurzen Moment schenkte.

Dann schaute sie wieder zu Boden, drehte ihm den Rücken zu und stieg aus – ohne einen einzigen Blick zurück.

Alles, was er noch sah, war schwarzer Stoff, der sich bewegte. Jasmin hatte sich wieder in eine Anonyme verwandelt, die sich und ihre Schönheit hinter Schleiern versteckte.

Er folgte ihr – nur mit Blicken – als sie schnurstracks zu ihrem König eilte, der neben der fahrbaren Liege stand, auf der seine Lieblingsfrau lag.

Ben schüttelte den Kopf über seinen törichten Wunsch, Jasmin hätte noch etwas zu ihm gesagt. Der angenehm weiche Klang ihrer Stimme hatte ihm so gut gefallen – zumindest, wenn sie ihn mal nicht anfauchte.

Als Ben beobachtete, wie die kleine Gruppe zur Krankenstation aufbrach und Jasmin wie ein wandelnder Schatten wortlos folgte, spürte er einen Stich in seinem Herzen.

„Das geht mich nichts mehr an“, presste er halblaut hervor, stieg aus und schlug mit dem Handballen die Wagentür zu.

Agnus, der ebenfalls ausgestiegen war, hob eine Augenbraue: „Dafür, dass du endlich vernünftig geworden bist, ist die Delle aber ziemlich groß.“

Ben starrte verdutzt auf die Autotür, die er gerade eingebeult hatte.

„Reagier dich gefälligst im Trainingsraum ab.“

Schuldbewusst wollte er sich gerade auf den Weg machen, als Agnus’ Worte ihn noch einmal stoppten: „Nachdem du diese Beule wieder rausgemacht hast!“

Sanft berührte Narben

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