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Erik de Groot hatte es zwar gesehen, aber er vermochte mit seinem intuitiven Verstand nicht zu erfassen, was er im Inneren des Poolbeckens schemenhaft wahrgenommen hatte. Durch die Ansaugkraft, die intervallweise von der Umlaufpumpe des Whirlpools angefacht wurde, und dem Ausstoß von Flüssigkeit, die über die Einspritzdüsen in den Pool zurückgedrückt wurde, bewegten sich in der dampfenden Jauche zwei Körper auf und nieder. Dieses stoßweise Auf- und Abtauchen hatte ihn in einen traumatischen Zustand versetzt. Wie in Trance wankte er zunächst in Richtung der gläsernen Terrassentür. Als er aber bemerkte, dass diese verschlossen war, kehrte er um und irrte weiter in die entgegengesetzte Richtung. Er glaubte, eine Stimme zu hören, aber sie kam von weit her. Qualvolle Sekunden spürte er fast gar nichts mehr. Seine Augen starrten ins Leere und er taumelte ziellos über die regendurchtränkte Wiese. Wim, der belgische Schäferhund seiner Mutter, tobte aufgeregt neben ihm her und bellte unablässig, doch Erik schien ihn nicht wahrzunehmen.

Oxana, die einige Meter hinter ihm hergelaufen war, blieb stehen. „Herr de Groot! Wir müssen die Polizei rufen! - Wir brauchen Hilfe! Verstehen Sie?!” Doch Erik reagierte nicht. Ein Ausdruck des Entsetzens breitete sich auf seinem Gesicht aus, dann knickte sein Oberkörper nach vorn und er sank auf die Knie. Oxana versuchte es erneut: „… die Polizei, ... die Polizei, verstehen Sie?” Ihre Stimme klang diesmal tonlos, war kaum mehr als ein Flüstern. Erik seufzte tief, neigte den Kopf seitwärts, reagierte aber nicht. Wim versuchte unterwürfig, Eriks Gesicht zu lecken, doch er sträubte sich und schob den Hund mit einer abwehrenden Handbewegung von sich. Plötzlich jagte Wim zum Haus und platzierte sich erneut in die Nähe des Outdoor-Whirlpools. Oxana vermied jeden weiteren Blick in diese Richtung. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief den Weg zurück. Hastig eilte sie über den Hof, setzte sich in den Fiat und suchte nach ihrem Mobiltelefon. Erst jetzt fiel ihr ein, dass es gleich in der Nähe, in der Ortschaft Goldenstedt, eine kleine Polizeistation gab. Sie war schon des Öfteren daran vorbeigefahren, wenn sie Einkäufe für ihre Chefin zu erledigen hatte. Oxana startete den Motor und fuhr los.

Als sie den Pastor-Albrecht-Weg erreicht hatte, stoppte sie rasant den Wagen, sprang aus dem Fiat, lief die Stufen zum Eingang hinauf und hämmerte mit der Faust gegen die Tür. Ihr Blick fiel auf ein Hinweisschild mit den Öffnungszeiten: montags bis freitags von 07.30 Uhr bis 16.00 Uhr. Es müsste also ein Polizist anwesend sein, der ihr helfen könnte, dachte sie. Aber es blieb alles ruhig. Sie drückte auf die Klingel und pochte nochmals mit der Faust gegen die Tür, bis endlich ein kleiner untersetzter Polizeibeamter öffnete und sie verwundert ansah. Der gemütlich wirkende Polizist hielt ein Mettbrötchen in der Hand und kaute noch auf einem Bissen herum.

***

Jan und Robert hatten sich inzwischen unter die Menge gemischt und versuchten mit einigen Polizisten aus Groningen Kontakt aufzunehmen. Plötzlich spürte Robert an seinem Uniformärmel ein leichtes Ziehen. Als er seinen Kopf seitlich neigte, entdeckte er eine Frau, die direkt hinter ihm stand. „Sind Sie zufällig Hauptkommissar Robert Rieken?“ Sie sprach diesen einen Satz in nahezu akzentfreiem Deutsch. Als er sich umwandte, reichte sie ihm ihre Hand und stellte sich vor. „Amélie Kuperus, Commissaris bei der Regiopolitie Groningen.”

„Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen“, sagte Robert und stellte gleichzeitig fest, wie albern und stocksteif diese altmodische Höflichkeitsfloskel wirkte. Deshalb beugte er sich leicht zu ihr und flüsterte: „Solche Massenansammlungen sind eigentlich nichts für mich.“

Eine Abordnung des »Nederlands Politie Orkest« hatte inzwischen das Podium bezogen und schmetterte ein stark nach Blech klingendes deutsch-holländisches Weihnachtslieder-Potpourri in die Menge.

„Hätten Sie was dagegen, wenn ich Sie zu einem Glas Glühwein entführe? Hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht mehr.“ Amélie Kuperus lächelte zustimmend. „Also, wohin wollen wir fliehen?“

Robert deutete auf eine am Ende des Marktes aufgestellte Bude, die etwas außerhalb des Schallpegels stand. Sie bahnten sich gemeinsam einen Weg durch die Menge.

„Sie sprechen ein akzentfreies Deutsch. Ich sollte mich eigentlich schämen, dass ich nur ein paar Brocken Niederländisch zusammenbekomme.“

„Schämen Sie sich nur ein bisschen, wenn es Ihnen weiterhilft. Dabei ist das ganz einfach zu erklären“, sagte Amélie Kuperus. „Meine Mutter stammt aus einem kleinen Fischerdorf in der Nähe von Delfzijl, direkt an der Mündung der Ems, und wir haben früher zu Hause immer auch Deutsch gesprochen.“

Robert hörte interessiert zu, dabei ging ihm eine vage Idee durch den Kopf. Er hielt wenige Minuten später zwei dampfende Becher Glühwein in den Händen und stand nun dicht neben ihr. Sie nahm ihm einen der beiden Becher aus der Hand. „Dann könnten wir uns vielleicht auch auf Plattdeutsch verständigen. Das Groningisch-Ostfriesische Substrat ist sich sehr ähnlich.“

„Dat schall wohl so sien.“ Amélie Kuperus versuchte, an ihrem heißen Getränk zu nippen. „Sehen Sie, jetzt haben Sie schon gar keinen Grund mehr sich zu genieren. - Op uw gezonheid!“

„Proost!“, rief Robert ihr zu, dann stießen beide mit ihren Bechern an und tranken einen Schluck.

„Außerdem bin ich ziemlich oft in Oldenburg“, fuhr Amélie Kuperus fort. „Meine Tochter studiert hier an der Fakultät für Medizin und Gesundheitswissenschaften. Sie möchte später mal am Niederländischen Forensischen Institut arbeiten.”

„Ah, verstehe”, sagte Robert. „Die Tochter möchte also später in die Fußstapfen der Mutter treten.“

Amélie lächelte. „Oh nein, das glaube ich nicht. Sie studiert Humanmedizin und ich bin nur eine einfache Commissaris bei der Polizei. Sie strebt, hoffe ich jedenfalls, ein anspruchsvolleres Berufsziel an.“

Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. „Könnten Sie sich eventuell vorstellen, hier bei uns ein eigenes Fachkommissariat zu leiten?“

Sie schob sich eine Locke aus der Stirn, schüttelte aber dann ihren Kopf. „Ein freundliches und verlockendes Angebot, ich fürchte nur, mein Mann wäre damit nicht einverstanden.“

„Schade“, gab Robert ehrlich zu, „dabei könnte ich Sie mir als Kollegin sehr gut …“ Er vermochte seinen Satz nicht zu beenden, da sich plötzlich jemand hinter ihnen mit einem Räuspern bemerkbar machte. „Darf ich?“, fragte Joachim Radunski. Ohne abzuwarten, drängte er sich zwischen beide und begann sofort zu reden. „Na, war das nicht ein gelungener Auftakt für unsere zukünftige Zusammenarbeit?“

***

„Was ist denn? Warum veranstalten Sie hier diesen Affentanz? Brennt´s irgendwo?“

Oxana wusste nicht, was sie sagen sollte. Wo sollte sie anfangen? Ihr kam die ganze Situation plötzlich so unwahrscheinlich vor, wie ein böser Traum. Der uniformierte Beamte war jetzt über die Türschwelle getreten: „Also, ich bin Polizeiobermeister Hinnerk Bloemer. Zunächst mal nennen Sie mir Ihren Namen, junge Frau.“ Oxana nickte stumm, brachte aber noch immer kein Wort heraus. Der Polizist legte die Stirn in Falten und führte sie ins Haus.

Wenige Augenblicke später stürmten beide aus der Polizeistation hinaus auf die Dorfstraße. Im Laufen streifte sich Hinnerk Bloemer hastig eine Uniformjacke über. Die über seiner Schulter baumelnde Ledertasche hatte sich in einem Ärmel der Jacke verheddert. Die Anspannung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er lief direkt auf sein mit einer Kette gesichertes Dienstfahrrad zu und versuchte, das Vorhängeschloss zu öffnen, dann hielt er inne und sah hinüber zu Oxana, die vor ihrem Auto stand und auf ihn wartete. Er ließ das angekettete Fahrrad stehen und lief zu ihr.

Als sie das Anwesen der de Groots betraten, entdeckte Oxana sofort, dass Erik noch immer auf der Wiese kniete. Auf der käsigen Haut leuchteten hektische rote Flecken. Sein Anzug und seine Schuhe waren durchnässt und mit Dreck beschmiert. Vor ihm hatte sich Wim unterwürfig auf den Rücken gelegt und ließ sich von Erik den Bauch graulen. Der Dorfpolizist war zunächst in Richtung des noch immer brodelnden und dampfenden Whirlpools geeilt. Doch bevor er ihn noch erreichen konnte, verlangsamten sich seine Schritte, bis sie schließlich ganz zum Stilstand kamen.

„Scheiße!“ Das Wort platzte einfach aus ihm heraus.

Er leckte sich über die trockenen Lippen. Entsetzt von dem Anblick bewegte er sich krampfartig, wendete aber seinen Blick vom Pool nicht ab, sondern blieb einfach nur wie gebannt davor stehen. „Das kann nicht wahr sein.“ Er artikulierte seine Worte nicht richtig, eins floss ins andere über. Dann aber presste er ein Taschentuch vor den Mund und stammelte: „Mein Gott! Das - ist - ist ja - furchtbar!“ Hinnerk Bloemer spürte ein Brennen in der Kehle, das durch die ätzende Luft noch verstärkt wurde. Ein Würgereiz stieg auf. Sein Pflichtgefühl sagte ihm zwar, dass er unverzüglich seinen Vorgesetzten im Polizeikommissariat Vechta über den grausigen Fund informieren sollte, aber noch bevor er sein Handy aus der Hosentasche fingern konnte, musste er sich übergeben.

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