Читать книгу Nordwest Bestial - Lene Levi - Страница 9

6

Оглавление

Als Oxana die Auffahrt erreicht hatte und langsam den Kiesweg zum Anwesen entlangrollte, entdeckte sie auch den Jeep wieder, der direkt vor der Eingangstür des Hauses abgestellt war. Sie hatte sich also doch nicht getäuscht. Es war Erik de Groot, der bereits vor der Haustür stand und auf sie zu warten schien. Als er die Scheinwerfer des Fiat Punto sah, eilte er ein paar Schritte dem sich nähernden Kleinwagen entgegen und wartete dann, bis Oxana direkt neben ihm anhielt und den Motor ausstellte. Kaum war sie ausgestiegen, sprach er sie an: „Sie müssen die Haushälterin sein, nicht wahr?“

Oxana nickte etwas verlegen. „Ja, die bin ich. Mein Name ist Oxana Timtschenko. Und Sie sind sicher der Sohn der Familie.“

Erik sah sie erstaunt an.

„Ihre Mutter hat mich schon darüber informiert, dass Sie heute früh hier eintreffen würden.“

Er streckte seine Hand zum Gruß aus und stellte sich vor. Oxana wunderte sich über seine Geste. „Sehr angenehm“, sagte sie, zog dann aber eilig ihre Hand aus der seinen zurück.

„Ich bin vorhin etwas forsch an Ihnen vorbeigezogen.“ Er warf einen Blick auf die mit Lehmspritzern überzogene Motorhaube ihres Wagens. „Vermutlich hat Ihr Wagen ziemlich was abgekriegt. Entschuldigen Sie.“

„Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen.“

Oxana sah hinüber zum Haus. „Haben Sie schon an der Tür geläutet?“

„Ja, hab ich, sogar mehrmals. Aber es scheint niemand im Haus zu sein.“ Er dachte kurz nach. „Besitzen Sie denn als Haushälterin keinen Zweitschlüssel für die Haustür?“ Oxana zuckte mit den Achseln. „Nein, leider nicht.“

„Das ist wieder mal typisch“, stöhnte Erik. „Bei den de Groots herrscht wahrscheinlich wieder mal Sicherheitswarnstufe 3.“ Er wischte sich mit einer Hand über die Stirn, um lästige Regentropfen abzustreifen.

„Das glaube ich nicht“, sagte Oxana. Sie sah hinauf zu den beiden kleinen Fenstergauben im Obergeschoss des Hauses. Die Vorhänge waren noch zugezogen und es drang auch kein Licht aus der als Schlafzimmer genutzten Dachkammer.

„Ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass niemand im Haus ist. Es stehen doch beide Wagen auf dem Hof.“

Erik sah sich um. Sie hatte recht. Ohne Fahrzeug kam man hier nicht weit. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Der Wagen seines Vaters, ein dunkelgrüner Landrover, stand unter dem Dach des Carports direkt neben dem Haus, und der silbergraue Wagen seiner Mutter, ebenfalls ein Landrover, allerdings ein kleineres Model, war neben dem Hundezwinger abgestellt. Genau an der Stelle, an der sie für gewöhnlich immer ihren Wagen abstellte. Von da aus konnte sie Wim, ihren belgischen Schäferhund, schneller aus seinem Zwinger befreien. Sie liebte es mit dem Hund herumzutollen.

Beide hatten sich der Haustür genähert. Oxana drückte sicherheitshalber auf den Klingelknopf, so, als wollte sie sich selbst davon überzeugen, dass die Anlage ordnungsgemäß funktioniere. Sie vernahmen den Klingelton, aber von dem sonst üblichen Hundegebell aus dem Hausflur war nichts zu hören. Oxana entfernte sich ein paar Schritte von der Haustür, blieb dann auf dem Hof stehen und sah sich um. Ihr Blick richtete sich zufällig auf Sophia de Groots Wagen und ihr fiel auf, dass das Seitenfenster der Fahrertür nicht ganz geschlossen war. Sie spürte instinktiv, dass irgendetwas nicht stimmen konnte. Als sie einen Blick in den Fond des Landrovers warf, sah sie, dass das Regenwasser bereits den lederbezogenen Fahrersitz völlig durchnässt hatte. Auch der Wagenschlüssel steckte noch im Zündschloss.

Erik, der nun direkt neben ihr stand, öffnete die Fahrertür, betätigte einen der elektrischen Fensterheber und ließ das Seitenfenster hinaufgleiten. Anschließend drückte er einmal kurz auf die Hupe und zog dann den Zündschlüsselbund heraus. Aber selbst nach dem lautstarken Hupsignal schien sich nichts im Haus zu rühren. Er warf einen Blick auf das Schlüsselbund. „Vielleicht ist hier auch einer für die Haustür dran.” Doch Oxana musste nicht erst die Wagenschlüssel in die Hand nehmen. Sie schüttelte den Kopf. „Die sind nur für ihren Wagen. Der für die Haustür ist ein Sicherheitsschlüssel.”

„Meine Eltern sind vielleicht zu Fuß mit dem Hund im Moor unterwegs”, meinte Erik und sah resigniert auf seine Armbanduhr. „Bestimmt werden sie jeden Augenblick hier wieder eintreffen.” Er strich sich erneut mit der Hand über die Stirn und sah hinauf. „Aber bis dahin sollten wir uns in meinen Wagen setzen, sonst holt man sich ja bei diesem Sauwetter noch den Tod. Außerdem stinkt es hier wie im Frühjahr, wenn die Bauern ihre Felder mit Jauche düngen.”

Oxana hielt diesen Vorschlag für eine gute Idee. Nachdem sich die Autotüren geschlossen hatten, entstand ein mehrere Sekunden langes Schweigen. Dann fragte Erik: „Wie lange leben Sie eigentlich schon in Deutschland? Ich meine, Sie sprechen nahezu ein akzentfreies Deutsch.”

Sie schenkte ihm ein rasches, flüchtiges Lächeln, bevor sie antwortete. „Deutsch ist nur eine meiner Muttersprachen. Ich bin quasi zweisprachig aufgewachsen.”

„Und woher stammen Sie ursprünglich? Ich meine, ihr Name ist doch ein typisch russischer, oder?”

Oxana war auf diese Frage bereits vorbereitet. Sie hatte sie in den letzten Jahren schon tausend Mal beantwortet. „Wir sind sogenannte Spätaussiedler. Ich wurde in einem kleinen Dorf in der Nähe von Omsk geboren. Das liegt in Sibirien. Meine Mutter ist deutschstämmig, aber mein Vater war oder vielmehr ist Russe. Meine Mutter und ich, wir sind vor 15 Jahren ausgesiedelt und leben seither in Vechta. Mein Vater blieb in Russland. Er lebt heute noch in Omsk.”

Erik musterte ihr Profil und nickte: „Ah ja, verstehe. Entschuldigen Sie, ich wollte nicht zu neugierig sein.”

„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber ich möchte gern Ihr Kompliment erwidern. Sie sprechen für einen gebürtigen Niederländer auch ein erstaunlich akzentfreies Deutsch.”

Erik musste lächeln. „Danke.” Er ließ sich in den Fahrersitz zurücksinken und atmete aus. „Dann haben wir ja eine Gemeinsamkeit. Ich bin auch zweisprachig aufgewachsen. Meine Mutter stammt, wie Sie sicher wissen, hier aus der Gegend, aber mein Vater ist Niederländer. Die Grundschule habe ich noch in Utrecht besucht. Aber dann sind wir nach Deutschland gezogen und meine Eltern haben ihr Unternehmen hier im Oldenburger Münsterland aufgebaut. Jetzt studiere ich wieder in Groningen. Ein ständiges Hin und Her, nicht wahr?”

„Ich weiß”, behauptete Oxana, „es stand ja alles in der Zeitung.”

Die hohe Luftfeuchtigkeit hatte inzwischen die Scheiben beschlagen lassen. „Ist Ihnen kalt?”, fragte Erik. Er stellte das Gebläse an und öffnete das Seitenfenster einen winzigen Spalt. Ein lauwarmer Luftzug durchströmte sofort das Innere des Jeeps. „Es ist trotzdem sehr merkwürdig”, stellte Oxana fest und warf einen Blick hinüber zum Haus. „Wenn ihre Eltern mit dem Hund draußen im Moor unterwegs wären, hätten sie doch sicher ihre Gummistiefel angezogen. Sie stehen aber dort unter dem Vordach neben der Haustür.“

Er beugte sich vor und redete mit leiser Stimme: „Stimmt. Ich verstehe das auch nicht.“

„Außerdem hat mich ihre Mutter heute für 8 Uhr bestellt. Jetzt ist es schon fast 30 Minuten nach 8. Das ist ungewöhnlich. Ich meine, sie legt immer großen Wert auf Pünktlichkeit. Irgendwas passt da nicht zusammen.”

Er wiegte den Kopf. „Jetzt, da Sie es so sagen, fange ich auch an, mir Sorgen zu machen. Ich bin extra heute ganz früh in Groningen losgefahren, da wir heute morgen einen wichtigen Notartermin vereinbart haben, der allerdings schon in einer halben Stunde stattfinden soll.” Er rieb sich bedächtig das Kinn. „Was meinen Sie? Was sollten wir unternehmen?”

Oxana sah auf das Mobiltelefon, das an der Armatur des Jeeps in einer Halterung steckte. „Haben Sie es schon einmal damit versucht?” Er atmete ein, und sein Puls schlug schneller. Eilig betätigte er die Schnellwahltaste. Aus der Freisprechanlage ertönte die akustische Signalabfolge der gespeicherten Rufnummer. Dann hörten sie ein Freizeichen und im nächsten Augenblick vernahmen sie einen Klingelton, der trotz der Regentropfen, die unablässig auf das Autodach trommelten, bis zu ihnen vordrang. Er kam direkt aus dem Haus. Erik ließ es so lange klingeln, bis endlich der Anrufbeantworter ansprang und sich die Stimme seines Vaters vom Band meldete. Dann sprach Erik nach dem Piepton: „He! Wo seid ihr?“, aber niemand nahm den Hörer ab.

„Versuchen Sie es mal mit dem Mobilanschluss. Falls beide tatsächlich unterwegs sein sollten, haben sie vielleicht ein Handy dabei.”

Er zögerte kurz. „Obwohl ich weiß, dass mein Vater Mobiltelefone hasst, ist es vielleicht doch einen Versuch wert.” Er suchte die Nummer im Speicher und drückte dann erneut auf die Verbindungstaste.

Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als würde durch die geschlossene Wolkendecke ein erster zaghafter Lichtstrahl der aufgehenden Sonne dringen, doch dann fiel alles wieder in die Dämmerung zurück.

Beide warteten noch einige Sekunden lang, aber auch diesmal nahm niemand ab.

„Mir ist da gerade was eingefallen.” Sie betrachtete ihn nachdenklich. „Ist Ihnen bei der Herfahrt nicht auch dieser merkwürdige Lichteffekt hinter dem Haus aufgefallen? Vielleicht sind Ihre Eltern beide draußen auf dem Grundstück und können deshalb keins der Klingelzeichen hören.”

Er betrachte sie und überlegte. „Ja, da war was hinter dem Haus, irgend so ein diffuses Leuchten.”

Sie öffnete die Wagentür. „Kommen Sie, wir schauen nach.”

Oxana ging voran über den Hof und näherte sich dem leer stehenden Hundezwinger. Als sie den vergitterten Verschlag öffnete, drehte sie sich um und gab Erik ein Handzeichen. „Der Zwinger hat auf der Rückseite eine zweite Tür, sie führt direkt zum hinteren Grundstück. Folgen Sie mir einfach, aber stolpern Sie nicht über den Fressnapf.”

Im Zwinger roch es nach fettigem Hundehaar und feuchtem Sägemehl, aber in dem Augenblick, als Oxana die Hintertür aufstieß, schlug ihnen ein beißender Ammoniakgeruch entgegen. Erik schniefte und hielt sich sofort eine Hand vor den Mund. „Mein Gott, das ist ja ätzend. Das stinkt wie ...” Er hielt den Atem an, um sich wieder zu fangen. Oxana war jedoch bereits ein paar Schritte auf das Grundstück vorausgeeilt. Sie sah hinter immergrünen Büschen und Sträuchern jetzt ganz deutlich diesen Lichtschimmer, dessen Ursprung zu ebener Erde die ganze Rückseite des Hauses anstrahlte und weiter hinauf die Baumstämme der alten Eichen in eine gespenstige anmutende Parkkulisse verwandelte. Je mehr sie sich der Lichtquelle näherten, umso deutlicher vernahmen sie jetzt auch ein sprudelndes Wassergeräusch und das gequälte Summen eines Elektromotors. Sie spürte es fast körperlich, als hätte etwas Unangenehmes ihre Haut gestreift.

Erik ging einige Meter hinter ihr. Er begann unerwartet die Vornamen seiner Eltern zu rufen. Aber er erhielt keine Antwort. Oxana blieb ruckartig stehen.

„Es kommt aus dem Whirlpool”, rief sie ihm erschrocken zu.

Eine Windböe erfasste in diesem Augenblick die kahlen Äste der umstehenden Mooreichen und im Licht des Whirlpools mischten sich nun auch Schwaden aufsteigenden Wasserdampfes. Gleichzeitig trug der Wind auch ein leises Hundewimmern mit sich. Der Jauchegestank schien sich mit Wrasengeruch zu vermengen, der Oxana irgendwie an eine Garküche erinnerte.

„Warten Sie bitte hier”, befahl Erik aufgeregt. Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Ich sollte zuerst sehen, was da vor sich geht.” Mit diesen Worten ließ er Oxana hinter sich und eilte mit großen Schritten auf den verdeckten Whirlpool zu.

Sekunden später hörte Oxana seinen Schrei. Sie rannte in die gleiche Richtung und sah, wie Erik nahezu versteinert vor dem brodelnden Poolbecken stand. Vor ihm der belgische Schäferhund in Abwehrhaltung, als müsste er sein Frauchen und Herrchen vor ungebetenen Eindringlingen beschützen. Aus dem anfänglich noch leisen Gewinsel war jetzt ein bedrohliches, zähnefletschendes Knurren geworden. Aber dies schien nicht der eigentliche Grund seines Entsetzensschreies gewesen zu sein. Sein Blick war wie erstarrt auf die Mitte des Beckens gerichtet. Als Oxana näherkam, sah sie, dass sich am Rand des Pools eine schmierige Fettschicht abgesetzt hatte. Rings um den ganzen Poolrand hatten sich daran lange dunkle Haare festgesetzt, die sich teilweise zu verfilzten Knäuel zusammengedreht hatten.

Nordwest Bestial

Подняться наверх