Читать книгу Nordwest Bestial - Lene Levi - Страница 12
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ОглавлениеWährend Robert das Frühstück in der Küche zubereitete, hörte er nebenbei im »Nordwestradio« eine Wetterwarnmeldung, die im Anschluss an die Nachrichten gesendet wurde:
Das heranziehende Sturmtief »Xaver« wird im Laufe des heutigen Tages die norddeutsche Küste erreichen. Wie bereits gestern vom Meteorologischen Dienst angekündigt, werden heute in den Nachmittagsstunden die ersten Sturmböen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 140 Stundenkilometern in Norddeutschland erwartet. Mit mehreren schweren Sturmfluten muss an den Küsten gerechnet werden. Ebenso ist mit Schnee- und Glatteisgefahr auf allen Straßen zu rechnen. Wie die Stadtverwaltung Oldenburg mitteilt, bleiben heute in der Stadt und im Landkreis Oldenburg alle Schulen, Bibliotheken und städtischen Sportplätze ganztägig geschlossen. Von einem Aufenthalt im Freien wird dringend abgeraten.
Nach der Meldung dudelte der Sender »Riders on the Storm«. Wahrscheinlich war dem Musikredakteur nichts Passenderes dazu eingefallen. Gerade hatte Robert zwei Spiegeleier, eine Scheibe Bacon, kleingeschnittene Champignonscheiben und drei Rostbratwürstchen in die Pfanne geworfen, als er draußen vor dem Küchenfenster eine erste, aber völlig harmlose Windböe durch die kahlen Äste des Nussbaumes pfeifen hörte. „Was für ein Auftakt!“, brummelte er vor sich hin. Dann nahm er eine Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank und stellte Lins Frühstückschale neben ihre Müslipackung auf den Tisch. Dabei summte er gut gelaunt das legendäre E-Piano-Solo mit, mit dem einst Ray Manzarek zu Weltruhm gelangt war. Kaum hatte er die Scheibe Speck in der Pfanne gewendet, tauchte auch schon Lins Kopf im Türspalt auf. Sie gähnte. „Guten Morgen, Liebes!“, rief er und warf ihr eine Kusshand zu. „Hast du schon gehört? Heute soll´s ziemlich stürmisch werden.“ Sie war noch nicht ganz aufnahmefähig und wirkte unausgeschlafen. Robert kannte diesen Zustand und musste lächeln. Lin steckte nur kurz ihre Nase in die Küche, zog ein moralinsaures Gesicht und verschwand im Badezimmer. Als sie wenige Minuten später im Morgenmantel aus dem Badezimmer heraustrat und sich an den gedeckten Frühstückstisch setzte, langte sie nach der Müslipackung und streute sich etwas daraus in ihre Schale. Robert reichte ihr die angewärmte Milch und den fettarmen Jogurt. Für sich selbst hatte er einen Teller mit dem Englischen Frühstück zurechtgemacht und wollte sich gerade darüber hermachen, als sie ihn unvermittelt ansprach: „Ich muss unbedingt mit dir reden.“
„Ist es was Wichtiges?“, hakte er nach. Sie nickte und warf einen Blick auf seinen überladenen Teller. „Dann besprechen wir das besser heute Abend. Du kennst mich doch. Ich mag am Morgen keine existentialistischen Diskussionen.“
„Weißt du überhaupt, was du dir mit diesem Fraß antust?“
Er begann mit Messer und Gabel zu hantieren und machte sich zuerst über die gebratene Scheibe Frühstücksspeck her. Dann löffelte er reichlich Zucker in seinen Kaffeebecher und kippte so viel Milch hinterher, dass sie sich fragte, warum er sich überhaupt mit einem koffeinhaltigen Getränk abgab.
„Du wunderst dich über dein Übergewicht und dass es dir in letzter Zeit immer schlechter geht. Dabei schaufelst du dir jeden Morgen weiterhin dieses Zeug rein. Typischer Fall von Wohlstandsverblödung. Zu hohe Cholesterinzufuhr durch Innereien, Speck, Eigelb und fettreiche Milchprodukte. Dazu diese Unmengen an Zucker… Am Ende wirst du noch Diabetiker.“
Um das Thema zu wechseln, sagte er schnell: „Ach, das hätte ich glatt vergessen. Wir haben für heute Abend Karten fürs Staatstheater. Wie heißt nochmal das neue Stück von Yasmina Reza?“
„Keine Ahnung. Du hast doch die Karten besorgt. Ich weiß nicht mal, worum es darin geht.“
„Ich glaube um Beziehungskrisen und ähnlichen theatralischen Quatsch.“
„Na toll!“ Lin blickte noch grimmiger als zuvor. Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. Sie entzog sie ihm.
„Also gut, es muss jetzt raus. Ich habe den Brief mit dem Befund vom Labor gelesen“, stellte sie vorwurfsvoll fest. „Er lag hier im Papierkorb. Du hast ihn einfach weggeworfen. Warum hast du mir nichts davon erzählt? Deine Blutzuckerwerte sind grenzwertig. Möchtest du noch mehr hören?“
Robert legte sein Besteck auf den Teller und schob ihn zur Seite. „Danke“, sagte er beleidigt. „Jetzt hast du´s wieder geschafft. Meine morgendlich gute Laune ist jedenfalls im Eimer.“
Lin stocherte lustlos in ihrer Müslischale herum und überlegte, wie sie reagieren sollte. „Ich gebe es offen zu. Mir schmeckt das Vogelfutter ja auch nicht. Aber du musst an deine Gesundheit denken, bevor es zu spät ist. Ich mag keinen Mann an meiner Seite, der sich irgendwann eine Insulinspritze setzen muss.“
Sie zögerte kurz. „Vom ästhetischen Standpunkt will ich gar nicht erst sprechen.“
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und bemerkte stattdessen: „Du hast ja vollkommen recht, Liebes. Wir sprechen heute Abend darüber. Ist das okay?“
Er sah auf die Uhr und stand auf. „Verdammt, ich muss schon los. Ich rufe dich heute Mittag an.“
„Geht nicht“, meinte Lin, „wir haben heute eine lange Besprechung, dann im Anschluss einen Gerichtstermin und nachmittags finden einige Sektionen mit den Studenten statt. Die Mittagspause kann ich also vergessen.“
Lin war ethnisch betrachtet Chinesin, aber gebürtige Oldenburgerin. Sie hatte alle typisch Oldenburgischen Eigenheiten sozusagen mit der Muttermilch in sich aufgesogen. Vor allem aber sprach sie so, wie ihr der Schnabel gewachsen war. Ihre Eltern waren Kanton Chinesen und vor über drei Jahrzehnten nach Niedersachsen übergesiedelt. Sie betrieben einen Schnellimbiss im Stadtteil Nadorst, in dem Robert schon während seiner Polizeiausbildung häufig verkehrte, da das Essen dort gut und sehr preiswert war. Lin war ihm schon damals im Imbiss als kleines Mädchen über den Weg gelaufen. Lin hatte inzwischen Medizin studiert und ihren Doktor als Kriminalbiologin gemacht. Beide hatten bei der Aufklärung des letzten Mordfalles beruflich eng zusammengearbeitet, waren sich dabei aber auch privat immer nähergekommen. Seit einem halben Jahr waren sie ein Paar.
***
Kaum hatte er den Aufzug auf der 5. Etage verlassen, kam ihm Frau Bulthaupt auf dem Korridor entgegen. „Gut, dass Sie da sind. Sie sollen sich sofort beim Zentralen Kriminaldienst melden. Es geht wohl um einen Großeinsatz in Vechta. Scheint dringend zu sein.“
„Südoldenburg?“, brummte Robert. „Was wollen die von uns?“
Frau Bulthaupt zuckte nur mit den Schultern und verschwand im Sekretariat. Er griff sofort zum Telefon und wählte die Rufnummer des ZKD Hannover. Eine Beamtin war am Apparat und vermittelte ihn weiter ins Dezernat 11.
„Prima, dass Sie gleich zurückrufen, Herr Hauptkommissar. Uns liegt ein Amtshilfeersuchen der Polizeidirektion Vechta/Cloppenburg vor. Der Sachverhalt sieht folgendermaßen aus: Gestern sind aus der JVA-Vechta zwei inhaftierte Straftäter entkommen, deshalb läuft dort zurzeit eine Großfahndungsmaßnahme.“
„Verstehe“, sagte Robert, „aber was haben wir als Mordkommission damit zu tun?“
„Das wollte ich Ihnen ja gerade erklären“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. „Die Großfahndung ist das eine Problem, nun hat aber Vechta noch ein zweites Problem. Dort ging heute früh die Meldung über einen Leichenfund ein.“
„Ein Mord?“, fragte Robert kurz und knapp.
„Das wissen wir noch nicht genau. Polizeioberrat Kai Bahlmann, der Leiter des Polizeikommissariats, hat uns gegenüber zumindest den Verdacht geäußert, dass der Leichenfund möglicherweise mit dem Ausbruch der beiden flüchtigen Straftäter in Verbindung stehen könnte.“
Er ging nicht darauf ein, wollte stattdessen wissen: „Polizeioberrat Bahlmann ist doch vor Ort. Warum kümmert er sich nicht darum?“
„Um nicht um den heißen Brei herumzureden. Der Vechtaer Kripo fehlen im Augenblick alle zur Sicherung eines Leichenfundortes erforderlichen Dienstkräfte, von einem Experten-Team ganz zu schweigen. Soll heißen: Das ist Ihr persönlicher Marschbefehl nach Vechta, Herr Kriminalhauptkommissar. Alles Weitere entnehmen Sie einfach dem Memo, das ich Ihnen bereits per Mail übermittelt habe.“
Robert fuhr sofort seinen Rechner hoch, aber noch bevor sich der Bildschirm erhellte, vernahm er die ermahnende Stimme seines Vorgesetzen aus dem Telefonhörer: „Aber beeilen Sie sich, Herr Rieken! Für heute Nachmittag haben die vom Meteorologischen Institut eine Orkanmeldung herausgegeben. Wäre nicht sehr günstig, wenn Ihnen der Sturm einen Strich durch die Rechnung macht. Sie übernehmen den Fall, falls es einer ist. Alles klar?“
Robert öffnete die Mail mit dem Memorandum und druckte sie aus. Jan war noch auf Recherchetour, musste aber jeden Augenblick eintreffen. Er legte seinen Finger auf die Verbindungstaste zum Sekretariat. „Frau Bulthaupt. Schicken Sie mir bitte alle Kollegen in mein Büro. Sie sollen spätestens in fünf Minuten hier bei mir auf der Matte stehen.“
„Geht klar, Chef. Auch die Kollegen Holzkämper und Dröge?“
Holzkämper und Dröge. Beide Kollegen gehörten dem Fachkommissariat 2 an, das für besondere Delikte wie Raub auf Geldinstitute, Überfälle auf Spielhallen, Tankstellen oder ähnliche Tatobjekte zuständig war. Bis zur Suspendierung ihres bisherigen Chefs gab es nur wenige Kontakte zwischen der Mordkommission und den beiden Ermittlungsbeamten. Der Name Dröge passte auf merkwürdige Weise zu seiner ganzen norddeutschen Art. Sein Gesichtsausdruck, seine Körperhaltung, auch sein Humor wirkte steif und trocken wie eine schockgefrostete Briese Nordseeluft. Wenn andere ernst blieben, konnte es durchaus passieren, dass er vor Lachen explodierte und umgekehrt. In seinem Kollegen Holzkämper hatte er offenbar seinen Meister gefunden. Holzkämper war gebürtiger Baden-Württemberger. Seine Stimme war oft laut und streitlustig und wurde noch lauter, wenn er sich übergangen fühlte. Er war stur, reduziert humorvoll, aber auch schlau wie ein Fuchs. In Böblingen hatte er seine Beamtenlaufbahn als Streifendienstpolizist begonnen, aber dann die Frau seines Lebens kennengelernt; eine Ostfriesin aus Leer, die das nicht weit entfernte Oldenburg bereits schon als eine Stadt im Ausland betrachtete. Der Liebe wegen hatte sie sich immerhin dazu bewegen lassen, hierher zu ziehen. So hatten sie sich jeweils beide auf einen Kompromiss geeinigt. Aber in den Tiefen seiner durch und durch schwäbischen Seele hatte sich Holzkämper nach wie vor die Sehnsucht nach Hack, Brät und Spinat und für in Butter gebratene Zwiebelringe bewahrt. Seinetwegen gab es einmal im Monat in der Polizeikantine geschmälzte Maultaschen. Zwar konnte er auch hochdeutsch sprechen, aber er wollte meistens nicht. Dröge und Holzkämper galten inzwischen als unzertrennlich.
„Ich sagte alle, Frau Bulthaupt. Danke …“
In diesem Moment kam Jan herein. Er lächelte freundlich, bemerkte aber sofort, dass irgendetwas passiert sein musste. Robert begrüßte ihn wie üblich mit einem langgezogenen: „Moin.“ Dann fügte er hinzu: „Du kannst deinen feinen Zwirn gleich wieder ablegen. Wir haben einen Leichenfund im Goldenstedter Moor. Auf dem Tagesprogramm steht also eine Dienstreise ins Südoldenburgische.“
Jan lächelte noch immer. „Seit wann interessiert sich die Kripo für Moorleichen? Oder soll´s etwa eine naturkundliche Exkursion werden? Ich wusste gar nicht, dass es bei uns auch solche ausgeflippten Weiterbildungsangebote gibt.“
„Und deine schicken Lederschuhe würde ich auch gegen Gummistiefel tauschen. Das ist kein Witz“, betonte Robert. „Ein satter Orkan ist im Anmarsch.“
Jan hatte die Angewohnheit sich auch im Dienst überaus korrekt zu kleiden. Er tat es, ohne dabei eitel zu wirken. Er bevorzugte dunkle Strellson-Anzüge, gedeckte Krawatten und hochwertige Lederschuhe. Robert war dagegen anzusehen, dass er sich nicht viel aus Kleidung machte. Jetzt im Winter begnügte er sich mit Cordhosen und bei Regenwetter warf er sich einen abgewetzten alten Shell Parka über die Schultern. Beide waren schon deshalb rein optisch betrachtet ein vollkommen ungleiches Paar. Robert wäre es am Beginn seiner Polizeilaufbahn wahrscheinlich niemals in den Sinn gekommen, mit Schlips und gebügeltem Hemd, geschweige denn mit teuren Anzügen oder italienischen Lederschuhen, zum Dienst zu erscheinen. Die feine englische Art war damals noch nicht üblich. So hatten sich die Regeln geändert.