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Der Brägeler Pickerweg lag etwa neunzehn Kilometer vom Haus der de Groots entfernt. Der Weg selbst führte anfangs noch durch ein Gebiet, das hauptsächlich von kleinen Wäldchen, Entwässerungsgräften, Feuchtwiesen und überschaubar großen Feldflächen abwechselnd gekennzeichnet war. Das Territorium gehörte nicht mehr zu Vechta, sondern zum Nachbarort Lohne.

Kai Bahlmann passierte einen Kontrollposten, der einen der Zufahrtswege mit seinem Streifenwagen blockiert hatte. Der Polizist grüßte ihn beim Vorbeifahren. Die hermetische Abriegelung scheint gut zu funktionieren, dachte Bahlmann zufrieden.

Nach etwa drei Kilometern tauchten zwischen den Waldschneisen und Feuchtwiesen ein paar ziemlich heruntergekommene Resthöfe auf, die früher mal zu größeren Landwirtschaften gehört haben mussten. Die einstigen Hochmoore und Heidesandböden brachten jetzt kaum noch Erträge, lediglich mit Maisanbau konnten die ansässigen Landwirte noch Geld verdienen. Da sich mit Mais als Biomasse zur Energiegewinnung ein absatzsicheres Geschäft machen ließ, verpachteten sie einen Großteil ihrer Nutzungsflächen an Agrarunternehmer. Nicht wenige hatten sogar ihre brachliegenden Ackerflächen verkauft und waren weggezogen. In den vergangenen Jahren sind so auf dem Pickerweg hauptsächlich Mastanlagen oder Biogasbetriebe entstanden, welche die ursprüngliche Biotoplandschaft immer mehr zurückdrängten.

Kai Bahlmann kündigte über Sprechfunk sein baldiges Eintreffen bei der Einsatzleiterin des Sonderkommandos an. Ihrer tiefen Stimme war eine deutliche Anspannung anzumerken. Sie versuchte, ihn frostig über den aktuellen Stand der Ereignisse aufzuklären. „Einer der Anwohner hat vor etwa einer Stunde Schüsse in der Nähe seines Wohnhauses gehört. Daraufhin hat er sich telefonisch sofort bei der Cloppenburger Polizei gemeldet. Als dann die Information an mich weitergeleitet wurde, war ja klar, dass sich hier Bewaffnete aufhielten.“

„Und haben Sie inzwischen den Anrufer persönlich kontaktiert?“, informierte sich Bahlmann gereizt.

„Ja, selbstverständlich. Ich bin vor einer halben Stunde bei ihm gewesen. Nach meinem Erkenntnisstand deutet alles darauf hin, dass sich im betreffenden Gebäude die mutmaßlichen Zielpersonen noch immer aufhalten. Eine genaue Personenbeschreibung konnte er allerdings nicht liefern.“

Als Kai Bahlmann wenige Minuten später am Einsatzort eintraf, war bereits das ganze Anwesen umstellt und die Polizisten des Sondereinsatzkommandos warteten nur noch auf den Befehl zur Erstürmung des Hauses. Er bat über Sprechfunk, dass die Einsatzleiterin in seinen Dienstwagen einsteigen möchte. Bahlmann beobachtete, wie die Beamtin die 50 Meter-Entfernung bis zu seinem Wagen im Laufschritt zurücklegte. Als sie einstieg, rann ihr Regenwasser übers ganze Gesicht.

Eine kräftige Windböe schleuderte in diesem Augenblick Kiefernnadeln und kleine abgerissene Zweige gegen die Windschutzscheibe des Wagens. Sekunden später prasselten kirschkerngroße Hagelkörner auf das Autodach, sodass sie sich kaum verständigen konnten. Sie strich sich mit einem Taschentuch über die Stirn. „Wir sollten nicht länger warten. Meine Leute sind einsatzbereit, aber auch völlig durchnässt. Jeder weitere Aufschub würde ihre ohnehin schon gereizte Stimmung noch weiter anheizen“, bekräftigte sie noch einmal ihren Standpunkt. Kai Bahlmann ließ sich aber davon wenig beirren. „Konnten Sie inzwischen schon feststellen, wer der Eigentümer dieses Anwesens ist?“, erkundigte er sich weiter.

„Ja, die Familie heißt Kröger. Sie sind auch im Melderegister als Bewohner des Hauses eingetragen. Ich habe mehrfach versucht, mit ihnen telefonisch in Kontakt zu treten, aber entweder sind sie nicht zu Hause, oder sie werden daran gehindert ans Telefon zu gehen, oder sie verweigern absichtlich eine Kontaktaufnahme.“

Er schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass sich hier gerade das nächste Drama anbahnt. Wenn Sie gesehen hätten, was ich noch vor wenigen Minuten im Goldenstedter Moor erleben musste. Zwei auf bestialische Art abgeschlachtete Menschen in einem Whirlpool voller kochender Jauche. Nur wenige Kilometer von hier entfernt. Die beiden flüchtenden Straftäter könnten gerade in diesem Augenblick …“

„Darf ich Sie was fragen, Herr Polizeioberrat?“, unterbrach ihn die Einsatzleiterin, sprach aber ohne eine Reaktion abzuwarten gleich weiter. „Ich verstehe nicht, warum unsere Zielpersonen so blöd sein sollten, um mit Schüssen Aufmerksamkeit zu erregen. Das entspricht doch keinem nachvollziehbaren Verhaltensmuster, oder?“

„Vielleicht haben sie die Waffe bei ihrem Raubmord im Goldenstedter Moor erbeutet und wollten sie ausprobieren. Bei jugendlichen Straftätern wäre das durchaus vorstellbar. Sie sollten deshalb ihre Leute entsprechend einweisen.“

„Es geht also los?“

Kai Bahlmann nickte und die Einsatzleiterin stieg aus.

Auf dem gesamten Anwesen und auch im Inneren des Hauptgebäudes schien sich momentan nichts zu bewegen, nur der Sturm riss ein hölzernes Scheunentor an einem der Nebengebäude unentwegt auf und zu.

Da die immer schlechter werdenden Wetterverhältnisse mehr und mehr dem Sondereinsatzkommando zusetzten und die Windstärke bereits eine solche Heftigkeit erreicht hatte, dass bald kein sicherer Einsatz mehr durchzuführen wäre, hatte er sich für die ganz schnelle Zugriffstaktik entschieden.

Er gab aus seinem Fahrzeug über Funk das vereinbarte Zeichen und kurz darauf stürmten die bewaffneten Beamten, aufgeteilt in kleinere Gruppen, zeitgleich das gesamte Anwesen von allen Seiten. Sie sicherten in wenigen Sekunden die Fensteröffnungen und alle Eingänge des Wohnhauses und die der Nebengebäude. Dann wurde mit einer Ramme die Haustür zu dem Einfamilienhaus aufgesprengt. Gleichzeitig flogen durch die Fensterscheiben Irritationskörper in alle Räume des Erdgeschosses. Kai Bahlmann konnte beobachten, wie die kleinen Blendgranaten aufblitzende Explosionen verursachten und wie Rauch aus den eingeschlagenen Fensterscheiben drang.

Die SEK-Beamten besetzten innerhalb weniger Minuten das gesamte Einfamilienhaus und durchsuchten sämtliche Räume. Kai Bahlmann sah sich bereits ganz nah am Ziel und beobachtete die Aktion aus sicherer Entfernung von seinem Fahrzeug aus. Über Funk hörte er die Schreie und Kommandos der Polizisten. Dann vernahm er auch die angespannte Stimme der Einsatzleiterin: „Zugriff erfolgreich! Wir haben sie!“

Zwei offenbar alkoholisierte Jugendliche wurden taumelnd aus der Haustür geschleppt, auf dem Hof von bereitstehenden Einsatzkräften in Empfang genommen und mit Handschellen fixiert. Sie lagen völlig überrumpelt im Dreck und wagten sich nicht sich zu rühren. Einer der maskierten SEK-Beamten trat mit einem Fundstück in der Hand aus der zersplitterten Haustür. „Es befinden sich keine weiteren Personen im Gebäude.“

Aus dem Augenwinkel bemerkte die Einsatzleiterin, dass er ein Kleinkalibergewehr in der Hand hielt. Kai Bahlmann war fasziniert von dem Schauspiel. Er hatte seine Mundwinkel zu einem dümmlichen Grinsen verzogen und marschierte mit großen Schritten direkt auf die Gefangenen zu. „Euer kleiner Ausflug ist damit beendet!“, tönte seine Stimme über den Hof. Er war jetzt angekommen und beugte sich über die beiden Jugendlichen. „Na? Wer von euch ist Bonnie und wer ist Clyde? Ihr habt wohl geglaubt, ganz besonders schlau zu sein, was?“

Einer der am Boden Liegenden drehte seinen Kopf zur Seite und begann lauthals zu protestieren: „Sie reden lauter Scheiß, Mann! Was wollen Sie überhaupt von uns?“

„Immer noch nicht kapiert? Das Spiel ist aus!“ Er erteilte einem nebenstehenden Polizisten den Befehl: „Umdrehen!“

Das Gesicht war von der Stirn abwärts bis zum Kinn mit Lehm beschmiert. Er versuchte sich mit den Beinen zu wehren und schrie: „Habt ihr sie nicht alle?“

Bahlmann warf der Einsatzleiterin einen scharfen Blick zu und trat einen Schritt zur Seite und senkte seine Stimme: „Es sind die Falschen.“

Sie zuckte bei dem bitteren Ton seiner Stimme zusammen, konnte ihm aber seine Enttäuschung nicht verdenken. Nach einigen Minuten wurde klar, dass der Sohn der Familie Kröger die Abwesenheit seiner Eltern dazu genutzt hatte, zusammen mit seinem Kumpel ein Trinkgelage zu veranstalten. Nachdem sie eine Flasche Korn niedergemacht hatten, kam Kröger Junior auf die Idee, mit dem Kleinkalibergewehr seines Vaters Schießübungen in einem nahegelegenen Wäldchen durchzuführen. Die Jungs hatten daraufhin einfach nur so in der Gegend herumgeballert.

Nach Beendigung der Befragung richtete Kai Bahlmann rein zufällig einen Blick hinüber zu einem der Nachbarhäuser. Er glaubte, die Umrisse eines Gesichts hinter einem der Fenster gesehen zu haben, das plötzlich hinter einer Gardine auftauchte und ebenso plötzlich wieder verschwand.

„Sagen Sie, wohnt dort drüben zufällig der Mann, der die Schüsse gehört und der Polizei gemeldet hat?“ Die Einsatzleiterin nickte.

Nordwest Bestial

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