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Das Büro wirkte verwahrlost. Ein mit Dokumenten überladener Metallschreibtisch stand vor einem Fenster, das auf einen Parkplatz hinausging. Davor ein Drehstuhl mit rissigem Lederimitat. Kai Bahlmann nippte nervös an seinem Getränk. Der Kaffee war stark und hatte einen leicht bitteren Nachgeschmack. Sein zerknittertes Gesicht und die dunklen Augenränder bedeuteten, dass er vergangene Nacht schlecht oder überhaupt nicht geschlafen hatte. Der 51-jährige Polizeioberrat und Leiter des Polizeikommissariats Vechta hatte seinen Dienstposten erst vor kurzer Zeit angetreten. Er war zuvor Chef des Streifen- und Einsatzdienstes in Osnabrück gewesen, aber nach dem erfolgreichen Abschluss eines Studiums hatte er den Wechsel in den gehobenen Dienst geschafft. Die ersten drei Arbeitswochen waren auch erwartungsgemäß ruhig und beschaulich verlaufen. Bis zum gestrigen Abend. Genau 18 Uhr 35 traf die Meldung ein: Gleich zwei Straftäter waren aus den hiesigen Haftanstalten ausgebrochen und befanden sich auf der Flucht.

Seit den gestrigen Abendstunden waren nahezu alle seine Beamten im Außeneinsatz. Er hatte veranlasst, dass Straßensperren errichtet und der ganze Bus- und Bahnverkehr kontrolliert wurde. Eine Hundestaffel der Polizeidirektion Cloppenburg/Vechta war unterwegs und er hatte zusätzlich aus den angrenzenden Landkreisen weitere Beamte und Einsatzfahrzeuge angefordert. Unterstützung sollte die Polizeiaktion dabei auch aus der Luft erhalten. Ein mit einer Wärmebildkamera ausgestatteter Polizeihubschrauber sollte so bald wie möglich im Einsatzgebiet eintreffen.

Ihm fehlte im Augenblick die Kraft, um sich über weitere Vorgehensweisen Gedanken zu machen. Er strich sich mit einer Hand über die schmerzenden Schläfen. Sein Vorgänger hatte ihn noch vor seinem Amtsantritt ausdrücklich davor gewarnt, diesen Job nicht zu unterschätzen. Immerhin gäbe es gleich zwei Justizvollzugsanstalten in der Stadt, die nicht gerade harmlose Insassen beherbergten. Dies wären keine Wellness-Oasen, sondern Knäste, in denen tagtäglich gebündelte Ladungen krimineller Energien knallhart aufeinanderprallten.

Zum einen war es der geschlossene Jungtätervollzug mit 330 Haftplätzen, einer Sozialtherapie und einer Untersuchungshaft für männliche Jugendliche. Zum anderen gab es die JVA für Frauen mit 129 Haftplätzen, die erfahrungsgemäß allerdings weniger Ärger bereitete.

Offenbar hatte sein Amtsvorgänger mit dieser Einschätzung völlig danebengelegen.

Kai Bahlmann schob einen Finger zwischen die Lamellen der Jalousie und schaute hinaus. Er beobachtete eine uniformierte Frau, die sich gerade aus einem Pkw quälte und anschließend über den Parkplatz auf den Seiteneingang des Polizeikommissariats zuging. Auf diese Justizvollzugsbeamtin hatte er schon seit über einer Stunde gewartet. Es war eine kräftige, ältere Frau mit schmalen Gesicht voll scharfer Falten und einem Kurzhaarschnitt, der ihr maskuline Züge verlieh. Er hatte sie als Beraterin ins Polizeikommissariat einbestellt, da er dringend Hilfe benötigte. Sie sollte bei der Einschätzung beider geflohener Straftäter Auskünfte erteilen.

„Klären Sie mich bitte auf. Mein eigener Kenntnisstand über die geflohenen Häftlinge ist eher lückenhaft. Ich benötige dringend weitere Informationen“, forderte Kai Bahlmann. „Wie das überhaupt passieren konnte, ist mir ohnehin schleierhaft.“

Die Justizvollzugsbeamtin hatte sich auf den Drehstuhl mit dem rissigem Lederimitat vor seinem Schreibtisch gesetzt und blätterte in ihren mitgebrachten Unterlagen. „Um es kurz zu machen“, begann sie leicht genervt ihre Berichterstattung, „Rebecca Hansen, 18-jährige Jungstraftäterin, ist es gelungen, während einer sozialen Außentrainings- und Freizeitmaßnahme zu entkommen. Sie befand sich gestern Nachmittag mit einer Gruppe jugendlicher Frauen auf regulären Freigang in der Innenstadt. Gegen 16 Uhr 30 erhielten wir die Nachricht über ihre unerlaubte Entfernung von der Gruppe. Ob ihr jemand dabei geholfen hat, konnte bis jetzt noch nicht geklärt werden. Die zurückgeführten Mädchen werden zurzeit noch von den Kolleginnen befragt. Aber es besteht wenig Aussicht, an brauchbare Hinweise zu gelangen. Diese Frauen halten erfahrungsgemäß zusammen und werden vermutlich über diesen Vorgang keine Aussagen machen. Es war jedenfalls ihr dritter begleiteter Freigang. Beide Male zuvor hatte es mit Rebecca Hansen keinerlei Probleme gegeben.“

Das Gesicht der Justizvollzugsbeamtin war fleckig und verquollen und ihre Nase lief.

Kai Bahlmann war zu ihr herübergekommen und stand jetzt neben ihr. „Möchten Sie vielleicht einen Tee oder Kaffee?“

Die Beamtin lehnte beides ab. „Danke, nicht notwendig, ist nur eine Erkältung.“

„Kein Wunder bei dem Mistwetter.“ Er strich sich mit einer Hand über die Stirn. „Und der zweite Flüchtige?“

„Ist ein 23-jähriger Häftling. Norman Petermann. Ihm ist es gestern Nachmittag geglückt, aus der sozialtherapeutischen Abteilung des Vollzugs zu entkommen.“

„Gestern Nachmittag? Doch nicht etwa zur gleichen Zeit wie das Mädchen?“

„Ja, das kommt in etwa hin; gegen 16 Uhr muss das passiert sein. Er hatte vorübergehend eine unserer Psychotherapeutinnen während eines sozialpädagogischen Einzelgesprächs in seine Gewalt gebracht, konnte anschließend zwei Wachleute überrumpeln und ist dann, auf bisher ungeklärte Weise aus der Abteilung entkommen.“

„Auf ungeklärte Weise?“, ereiferte sich Bahlmann. „Was ist das denn für´n S…!“ Das letzte Wort formte der Leiter des Polizeikommissariats Vechta leise mit den Lippen und vergewisserte sich, dass er sie nicht beleidigt hatte. Doch seine Befürchtung war offenbar unbegründet. Sie faltete ein schon mehrfach benutztes Taschentuch auseinander und schnupfte hinein. Bahlmann senkte seine Stimme: „Ich war bis gestern der Meinung, dass in den vergangenen Jahren in die Sicherheitsvorkehrungen erheblich investiert wurde und insbesondere die JVA Vechta sicherheitstechnisch nachgerüstet und so den steigenden Standards angepasst wurde. Würden Sie mir also verraten, wie es dann unter diesen Bedingungen möglich ist, dass ein Straftäter auf ungeklärte Weise türmen kann?“

Als sie mit ihrer tropfenden Nase fertig war, stand sie vorsichtig auf, als könnte sie sich nicht darauf verlassen, dass ihre Füße ihr Gewicht auch trugen. Ihre Antwort kam abgehackt und trocken: „Fragen Sie die Anstaltsleitung. Die entflohenen Straftäter kannten sich übrigens schon vor ihrer Einweisung in die JVA.“

Misstrauisch schaute Kai Bahlmann seine Besucherin an. „Da draußen laufen ´ne Menge Verrückter frei herum. Solche entflohenen Häftlinge müssen nicht mal besonders auffällig sein“, erklärte Kai Bahlmann, „bisher habe ich noch keinen Anhaltspunkt, in welche Richtung wir die Fahndungsmaßnahmen noch weiter ausdehnen sollten.“ Er verdrückte sich wieder hinter seinen Schreibtisch, ließ sich in den Sessel zurücksinken und seufzte. „Gibt es sonst noch was, dass ich wissen sollte?“

„Ich habe Ihnen das hier mitgebracht.“ Sie nestelte in einer der seitlich aufgenähten Taschen ihrer Dienstkleidung herum, zog dann einen Zeitungsauschnitt hervor und legte ihn auseinandergefaltet auf seinen Schreibtisch. „Was soll das sein?“ wollte Bahlmann wissen.

„Ein Teil aus meiner ganz privaten Sammlung. Ist ja immer ganz gut zu wissen, mit wem man zu tun hat.“

Bahlmann beugte sich vor und las die Schlagzeile: »Bonnie und Clyde des Nordens«. Dann überflog er schnell den Inhalt, ohne dabei das Stück Papier anzufassen.

Rebecca Hansen und Norman Petermann waren durch die Schlagzeile eines Boulevard-Blattes zu zweifelhaftem Ruhm gelangt. In den vergangenen zwei Jahren waren sie kreuz und quer durch ganz Norddeutschland gezogen und hatten gemeinsam Geschäfte, Tankstellen und kleinere Bankfilialen auf dem Land überfallen und ausgeraubt. Am Ende hatten sie nicht mal vor Raub mit schwerer Körperverletzung zurückgeschreckt. Das Pärchen wurde bei einem versuchten Einbruch in das Haus eines Delmenhorster Juweliers vom Eigentümer überrascht. Daraufhin hatte der 23-jährige Norman den Mann niedergestochen. Eine Videokamera hatte diesen Vorgang aufgezeichnet und anhand der Bilder konnten die Ermittlungsbehörden beide identifizieren.

Es war also kaum ein Zufall, dass beide nahezu zeitgleich getürmt waren. Kai Bahlmann wollte gerade zum Hörer greifen, um mit dem Hubschrauberpiloten zu sprechen, als plötzlich der Apparat klingelte. Eine leise und fast unverständliche Stimme meldete sich: „Hier Polizeiobermeister Bloemer … Polizeistation Goldenstedt.“

Was ihm der Polizeiobermeister daraufhin mitteilte, ließ seinen Blutdruck schlagartig hochschnellen. „Wie bitte? – Wo ist das genau?“ Seine Stimme hallte durch die offenstehende Bürotür. Ohne weitere Anweisungen zu erteilen, warf er den Hörer zurück auf die Telefongabel. Wie vom Blitz getroffen, sprang Kai Bahlmann von seinem Sessel auf und verschüttete dabei seinen Kaffee. Die Justizvollzugsbeamtin trat erschrocken einen Schritt zur Seite und hielt sich erneut das aufgeweichte Taschentuch unter die Nase. Ihm kam ein schlimmer Verdacht. Sein Blick blieb auf der topographischen Landkarte an der Bürowand hängen, auf der Vechta und die umliegenden Ortschaften eingezeichnet waren. Er fuhr mit dem Zeigefinger die Umgebung ab, dann tippte er auf die Koordinaten des Goldenstedter Moores.

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