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Seit dem Attentat waren bereits Monate vergangen, trotzdem herrschte in der Polizeiinspektion noch immer ein ungutes Gefühl, das zwischen Zweckoptimismus und Resignation pendelte. Auf der 5. Etage war noch immer die Führungsposition der beiden Fachkommissariate 1 & 2 unbesetzt. Beide Abteilungen wurden, nachdem der bisherige Chef in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war, vom Zentralen Kriminaldienst übergangsweise geleitet. Die Ermittlungen waren mit Roberts Beurlaubung nahezu zum Erliegen gekommen. Die plötzlich aufgetauchte Anwesenheit eines Snipers hatte bei der Bevölkerung Angst und Schrecken erzeugt. Ein kaltblütiger Auftragsmord passte einfach nicht ins scheinbar friedliche Bild der Oldenburger. Eine Art Schockstarre hatte sich auch bei den Beamten ausgebreitet, aus deren Umklammerung sie sich nur mühsam befreien konnten. Von offizieller Seite sprach der PD Oldenburg lediglich von strukturellen Maßnahmen, die innerhalb der beiden Fachkommissariate dringend erforderlich wären. Tatsächlich suchte Polizeipräsident Joachim Radunski nach einem neuen Kripo-Chef, der geeignet wäre, den Laden wieder auf Vordermann zu bringen. Als Robert von einer Sekretärin in das Büro des Polizeipräsidenten geführt wurde, war er nicht sonderlich überrascht.

Der Raum war riesig. Ein Metallschreibtisch prangte wie ein Ausstellungsstück auf einer Designmesse vor einem Panoramafenster, das mit Lamellenjalousien automatisch auf die einfallenden Lichtverhältnisse reagierte. Der Ausblick aus dem obersten Stockwerk des ehemaligen Regierungsgebäudes verlieh dem Büro zusätzlichen Glanz; man sah direkt auf den Kaiserteich und das umliegende Dobbenviertel. In einer Ecke neben dem Panoramafenster befand sich eine Garnitur mit Drehstühlen, alle mit sehr hochwertigen Lederbezügen. In deren Mitte ein kleiner runder Rauchertisch mit Edelholzintarsien. Alles wirkte sehr nobel. Roberts Blick blieb jedoch an einem gerahmten Foto an der Wand hängen. Es zeigte Joachim Radunski, leger in Freizeitkleidung und Golfutensilien. Das Bild war sicher schon vor ein paar Jahren aufgenommen worden. Neben Radunski war ein ehemaliger niedersächsischer Ministerpräsident zu erkennen, der inzwischen auch als Bundespräsident gescheitert war. Wahrscheinlich eine persönliche Erinnerung an alte glanzvolle Zeiten. Radunski stemmte sich vom Sitz hoch. Der Mann war dick, fast breiter als hoch. Sein Teint war teigig, er hatte erstaunte braune Augen, eine winzige, kindliche Nase und schütteres Haar. Er kam auf Robert zu und strahlte ihn mit seinem besten Fernsehlächeln an. Seine Zähne wirkten wie blankpoliert. „Schön, dass Sie kommen konnten, Herr Rieken.“

Sein oberster Vorgesetzter bot ihm zuvorkommend einen Platz an. „Sie haben eine tadellose Laufbahn absolviert, Hauptkommissar Rieken. Alles makellos, sowas ist heute ja schon eher eine Seltenheit.“ Dabei gestikulierte er mit Roberts Personalakte.

„Wie soll ich das verstehen?“, hinterfragte Robert.

„Ach, nehmen Sie es einfach als Kompliment.“ Robert konnte am ganzen Gehabe des Polizeipräsidenten leicht ablesen, dass er mächtig unter Druck stand. Die Wogen, die das Attentat verursacht hatte, waren weit über die Ländergrenzen Niedersachsens hinaus geschwappt und hatten selbstredend auch auf Polizeipräsident Radunski einen unschönen Schatten geworfen. Die Presse hatte dem Vorfall in den vergangenen Wochen allergrößte Aufmerksamkeit geschenkt, schließlich war dieser Mord der eindeutige Beweis dafür, dass inzwischen die ausgestreckten Tentakel des organisierten Verbrechens sogar bis in das ruhige und beschauliche Oldenburg vorgedrungen waren. Den Begriff »Russenmafia« wollte offenbar in der Polizeidirektion niemand mehr laut aussprechen. Vorerst stocherten die Journalisten zwar nur in den offenen Wunden herum, aber es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würden sie sich auch mit der Frage der Kompetenz des Polizeichefs beschäftigen. Diesem Problem versuchte er zuvorzukommen. Radunski warf den Kopf zurück und lachte. Robert fand das Lachen allerdings genauso angespannt beherrscht wie das gesamte Verhalten des Mannes.

„Sehen Sie, Herr Hauptkommissar, wir müssen endlich wieder auf unseren altbewährten Erfolgskurs bei der Verbrechensbekämpfung zurückkehren. Und ich denke, Sie sind genau der richtige Mann dafür. Wenn schon das Organisierte Verbrechen nicht einmal mehr davor zurückschreckt, vor den Augen der Ermittlungsbehörde und der Justiz einen kaltblütigen Mordanschlag zu begehen, dann müssen wir dem mit aller größter Entschlossenheit und äußerster Konsequenz entgegentreten.“ Die Lippen des Mannes verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Ich habe gestern mit dieser Diplom-Psychologin, mit Frau Ursula Przy-bycz-linski …“

„Sie meinen, sicher die Kollegin Przybylski“, sagte Robert schnell, um ihm die korrekte Aussprache des Namens zu ersparen. Radunski nickte zustimmend.

„Ja, natürlich, also ich habe mit ihr gesprochen. Sie bestätigte, dass einer sofortigen Wiederaufnahme Ihrer erfolgreichen Ermittlungsarbeit keinerlei gesundheitliche Bedenken mehr im Wege stünden. Sie sind also wieder voll einsatzfähig und diensttauglich. Sehen Sie das genau so?“

„Einsatzfähig, diensttauglich.“ Diese zwei Worte platzten aus ihm heraus.

Auf Radunskis rundem Gesicht tauchte der misstrauische Ausdruck auf, den Robert nur allzu gut kannte. „Und wer sonst, wenn nicht Sie und ihr Assistent Kriminalmeister Onken haben durch ihre akribische Ermittlungsarbeit diesen Stein ja schon ins Rollen gebracht. Sie müssen unbedingt den Sniper aufspüren und ihn so schnell wie möglich hinter Schloss und Riegel bringen. Sonst bekommen wir heftigen Gegenwind von ganz oben. Verstehen Sie?“

Auf den Auftragskiller war inzwischen das ganze Spektrum seines Interesses gerichtet. „Wären Sie dazu bereit, als neuer Chefermittler beide Kommissariate zu übernehmen? Das würde selbstverständlich auch mit einer Beförderung zum Ersten Kriminalhauptkommissar einhergehen; versteht sich ja von selbst.“

Robert mochte die ohnehin reichlich anfallenden administrativen Tätigkeiten nicht besonders, die nur mit dem PC zu erledigen waren. Zwei Kommissariate zu leiten, das bedeutete unweigerlich jede Menge Schreibkram, stundenlanges Palavern auf Konferenzen mit kleinen Bullshit-Bingo-Einlagen, kaum noch Kontakt mit der Welt da draußen, langweiliger Büroalltag bis zur Pensionierung. Er rümpfte seine Nase.

„Um ehrlich zu sein, Herr Polizeipräsident, ich würde liebend gern als Chefermittler arbeiten. Als Kripo-Chef, fürchte ich, wäre ich in der Führungsposition gleich zweier Fachkommissariate glatt weg eine Fehlbesetzung.“

Radunski errötete, stammelte eine Floskel, die Roberts Bedenken herunterspielen sollte; dabei blickte er ihn die ganze Zeit über wie ein Cockerspaniel an, der Angst vor Prügel hat.

„Sie würden selbstverständlich von mir jegliche Unterstützung erhalten.“

„Jede?“, erkundigte sich Robert und schien über das Angebot ernsthaft nachzudenken. Aber ihm fehlte die Muße, um aus dem Bauch heraus eine spontane Entscheidung zu treffen. „Und?“, hakte Radunski nach. „Ich würde Ihnen außerdem einige Freiheiten einräumen.“

Nachdem Roberts Interesse geweckt war, schob er einen Stapel Papierkram auf dem kleinen Tisch zur Seite, lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück und hörte zu, was Radunski noch zu sagen hatte.

„Ich meine damit natürlich nur persönliche Freiräume bei der Wahl ihrer Ermittlungspraktiken. Und natürlich auch nur dann, wenn sie meinen Ermessenspielraum nicht übersteigen.“

„Hmm … also gut“, erwiderte Robert, nachdem er sich mit dem Gedanken angefreundet hatte. „Unter einer Bedingung.“

„Und die wäre?“

„Kriminalmeister Jan Onken, der zwar noch als unerfahrener Polizist gilt, aber dennoch einen ganz erheblichen Beitrag zur Aufklärung des letzten Falles beigesteuert hat, sollte bei der Beförderung nicht übergangen werden. Ich bestehe darauf.“

„Einverstanden. Ich hatte ohnehin Gleiches im Sinn.“

Robert gab sich damit zufrieden.

Joachim Radunski atmete erleichtert aus und murmelte: „Wenn das alles ist.“ Ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens breitete sich auf seinem Gesicht aus.

„Das ist alles“, meinte Robert. „Datenbanken zu füttern, aufzubauen und zu pflegen, das ist alles nicht so mein Ding, wissen Sie? Das gehört zu Jans Stärken. Er ist quasi mit dem modernen technischen Krimskrams aufgewachsen.“

Radunski lächelte. „Schön, dass Sie einen jungen Kollegen protegieren. Gerade heutzutage, wo jeder nur noch an die nächsthöhere Besoldungsstufe denkt.“

Als er das Büro verließ, entdeckte er zufällig an der Wand ein zweites gerahmtes Foto. Diesmal stand neben dem dicken, teigigen Mann mit der winzigen, kindlichen Nase ein großer blonder Typ in lächerlichen Gala-Klamotten, den er zweifelsfrei als einen bekannten Schlagersänger identifizierte. Robert wusste, dass der TV-Promi in seiner Jugend das hiesige Wirtschaftsgymnasium im Stadtteil Haarentor besucht hatte. Und ihm war klar, dass in Oldenburg nicht gerade ein Überangebot an Prominenz herrschte, da machte selbst ein peinlicher Schlagerstar was her. Er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Radunski sah auf dem Foto aus wie ein Ochsenfrosch, der zufällig auf einem roten Sofa neben einem Nymphensittich gelandet war. Offensichtlich war der oberste Polizist Oldenburgs abhängig von der Prominenz anderer Leute.

***

Am nächsten Tag war es schon soweit: neue Schulterstücke, Händeschütteln, ein Fototermin für die Lokalpresse, erneutes Händeschütteln, großer Bahnhof.

Die örtliche Regionalzeitung wusste immerhin am darauffolgenden Tag, die beiden beförderten Kripo-Beamten mit einem Artikel auf der dritten Seite zu würdigen. Als Robert die NWZ aufschlug, bereute er allerdings schon jetzt, den Job angenommen zu haben. Tröstlich war lediglich der Gedanke, dass dieses Bild ganz bestimmt nicht in einem Goldrahmen an der Wand in Radunskis Büro landen würde. Das Pressefoto zeigte ihn und Jan, beide in Uniform. Neben ihnen der amtierende Oberbürgermeister der Stadt. Dahinter der Polizeipräsident und ganz rechts im Bild ein aufgeblasener Landrat. Unter dem Foto war eine dieser typisch nichtsagenden Wortmeldungen abgedruckt:

»Begrüßt wurden Robert Rieken und sein junger Kollege Jan Onken auch von Oldenburgs Oberbürgermeister Detmar Schindler und Landrat Siegmar Schulte. Der Oberbürgermeister lobte die traditionell gute Zusammenarbeit mit der Polizei und bot dem frischgebackenen Ersten Kriminalhauptkommissar an, diese auch in Zukunft fortzusetzen. Ähnlich äußerte sich Landrat Schulte, der außerdem betonte, dass er hoffe, Robert Rieken in seiner Funktion als Chefermittler nur zu offiziellen Anlässen im ruhigen und beschaulichen Landkreis begrüßen zu müssen.

Fast alle zeigten ein fotogenes Lächeln, nur Robert hatte dem Pressefotografen ein künstlich aufgesetztes Grinsen verweigert.

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