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ОглавлениеHinnerk Bloemer hatte das Gasthaus in Goldenstedt von seinem Vater geerbt, aber als gastronomische Einrichtung nicht fortgeführt. Er und seine Frau bewohnten den hinteren Teil des stark renovierungsbedürftigen Gebäudes, der früher einmal als Küchentrakt genutzt worden war. Seine Oldenburger Kollegen waren im ehemaligen Tanzsaal der stillgelegten Gastwirtschaft einquartiert. Die vergangene Nacht hatten sie auf Zeltbetten zugebracht. Und obwohl in den vergangenen Stunden heftige Orkanböen das alte Gebälk des Dachstuhls immer wieder bedrohlich ins Wanken gebracht hatten, waren sie jetzt am frühen Morgen doch sehr froh darüber, das Angebot ihres Goldenstedter Kollegen und Gastgebers angenommen zu haben. Nachdem sie aufgestanden waren und einer der Kriminaltechniker den Fernseher angestellt hatte, sahen sie die ersten TV-Bilder und Berichte über die Sturmschäden, die »Xaver« in den vergangenen Stunden im ganzen Nordwesten angerichtet hatte. Auf unzähligen Straßen lagen umgestürzte Bäume quer über die Fahrbahnen, heruntergerissene Dachpfannen hatten Kollateralschäden verursacht, Deiche waren beschädigt, Strommasten wie Streichhölzer umgeknickt und Lastkraftwagen lagen umgekippt auf Autobahnen. Es wäre ein Fehler gewesen, gestern noch zurückzufahren, denn seit der vergangenen Nacht waren die Verbindungsstraßen zwischen Oldenburg und Vechta nicht passierbar. Sie hätten also heute ihre Arbeit gar nicht fortführen können. Und als dann noch die Ehefrau des Gastgebers mit einem großen Topf Punkebrot und Grütze zum Frühstück aufwartete, war die stürmische Nacht fast schon vergessen.
Robert hatte sich nach dem schweren Frühstück neben Hinnerk Bloemer gesetzt. „Ihr Chef, Kai Bahlmann, hat mir gesagt, dass Sie mir eventuell behilflich sein könnten. Ich hätte da ein paar Fragen.“
„Wat mut, dat mut“, antworte Bloemer gutgelaunt.
„Wie gut kannten Sie Hendrik de Groot und seine Frau?“, begann Robert.
Doch Bloemer zuckte nur mit den Achseln. „Von gut kann keine Rede sein. Herr de Groot ist, oder vielmehr, er war einer der angesehensten Leute hier im Landkreis. Aber dass er nur Freunde hatte, wage ich trotzdem zu bezweifeln. Aber seine Frau Sophia war allgemein sehr beliebt. Sie hat sich zum Beispiel um die Renovierungsarbeiten des alten Bauerngehöfts gekümmert und ihre Einkäufe hier bei uns im Dorfladen erledigt. Sie wissen ja, wie das so in kleinen Ortschaften üblich ist. Auf solche kleinen Nebensächlichkeiten wird hier sehr viel Wert gelegt. Schließlich kennt hier ja jeder jeden.“
„Sie sagten gerade, dass Hendrik de Groot nicht nur Freunde hatte. Kennen Sie Leute, die ihn nicht mochten?“
Bloemer schüttelte bedächtig seinen runden Bollerkopp und grinste verschmitzt. „Nee, Herr Kommissar. Ich verstehe, worauf ihre Frage abzielt. Wenn sich bei uns einige Leute untereinander nicht grün sind, heißt das noch lange nicht, dass man gleich einen bestialischen Doppelmord begeht. Kleinere Meinungsverschiedenheiten werden bei uns auf eigene Faust auf dem Stoppelmarkt aus der Welt geschafft, wenn Sie verstehen, was ich meine. Am Ende gibt’s ein paar blaue Veilchen um die Augen und – bum! – fertigt ist die Laube. Aber Mord? Nee. Das geht mir irgendwie nicht in den Kopf.“
„Das war aber einer. Hendrik und Sophia de Groot wurden umgebracht.“
„Sie können sich schon vorstellen, dass man als großer Zampano heutzutage nicht nur von allen Leuten bewundert wird, oder?“
„Hatte er Schwierigkeiten? Und wenn ja, mit wem?“, hakte Robert nach.
„Mir ist jedenfalls zu Ohren gekommen, dass hier im Landkreis vor einiger Zeit ein paar Leute öffentlich gegen seine Geschäftspraktiken protestiert haben. Umweltschützer, wenn Sie verstehen.“
Robert nickte. „Ah ja, Umweltschützer.“
„Ach, wissen Sie, es gab da vor einiger Zeit eine Kampagne gegen Hendrik de Groot und seine Mastanlagen. Wer aber dahinter steckte, weiß ich auch nicht. Hier im Oldenburger Münsterland ist ja eigentlich alles streng katholisch organisiert. Auftretende Probleme werden normalerweise vom »Bischöflichen Stuhl« oder vom Referenten des Weihbischofs und Offizials geregelt. Über eine Handvoll Umweltschützer, die mit Pappschildern oder selbstgebastelten Transparenten etwas Lärm veranstalten, darüber macht man sich hier mit Sicherheit keine großen Gedanken.“
Kaum hatte Hinnerk Bloemer seinen Satz ausgesprochen, jagte eine weitere Windböe direkt über das Dach des Tanzsaals und ließ den Dachstuhl erzittern. Die Polizisten zogen instinktiv ihre Köpfe ein, als rechneten sie mit dem Schlimmsten. Auch Wim hob erschrocken seinen Kopf und spitzte die Ohren. Eine Rauchwolke stob aus dem glühenden Kanonenofen, der in einer Ecke des Saales vor sich hinbrütete und inzwischen dem ganzen Raum eine wohlig warme Atmosphäre spendete.
„Gibt es in der näheren Umgebung des Hauses der Familie de Groot keine weiteren bewohnten Gebäude? Irgendwelche Nachbarn?“
Hinnerk Bloemer dachte kurz nach.
„Doch. Es gibt da eine kleine Firma, gleich in der Nähe, die abgebauten Torfabstich mischt, abpackt und als Komposterde an Gartenbaubetriebe verkauft. Aber die ist im Winter geschlossen, ebenso das »Haus im Moor«, das vom Naturschutz- und Informationszentrum Goldenstedter Moor e.V. als Bildungseinrichtung betrieben wird.“
Er nippte gemütlich an seinem Kaffee und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Dann ließ er ganz unerwartet seine Faust auf die Tischplatte krachen.
„Mein Gott! Beinahe hätte ich jemanden vergessen!“ Bloemer krempelte sich einen seiner Hemdsärmel hoch. „Es gibt da noch einen merkwürdigen Kauz, einen Einzelgänger, der etwa drei Kilometer entfernt vom Anwesen der de Groots mitten im Moor in einem alten Kotten haust. Er selbst bezeichnet sich als Wahrsager und Heilmagnetist.“ Bloemer konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Sogar als Künstler gibt er sich aus. Aber die Leute hier halten ihn eigentlich für einen harmlosen Spinner.“
„Wie heißt der Mann?“, wollte Robert wissen.
„Calv von Calveslage.“
„Ist das sein richtiger Name?“, fragte Robert weiter.
Bloemer lachte herzhaft. „Calveslage, verstehen Sie? Das ist ein Kuhkaff, gleich hier in der Nähe. Calv stammt aus diesem Ort. Das »von« ist hier im Südoldenburgischen keine Seltenheit, hat aber nichts mit einem Adelstitel zu tun.“
„Aha ja, verstehe“, räumte Robert ein.
„Also, wenn ihr mich fragt, der Kerl hat nicht alle Tassen im Schrank. Ich kann euch ja den Weg zu seiner Behausung zeigen. Ist etwas schwer zu finden.“
„Prima Idee“, sagte Robert. „Vielleicht, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind.“
***
Als Robert und Jan kurz darauf aufbrechen wollten, mussten sie erst die Windschutzscheiben ihres Streifenwagens auftauen. Über Nacht war ein Eisregen niedergegangen und die Außentemperatur hatte sich erheblich abgekühlt, sogar etwas Schnee war gefallen.
Dröge und Holzkämper hatten einen Vorschlag unterbreitet, sie wollten unbedingt im Büro der kleinen Goldenstedter Polizeidienstelle bleiben, um ungestört die Fundstücke des gestrigen Tages zu untersuchen und auszuwerten. Robert hatte nichts dagegen einzuwenden. Damit wären sie vermutlich den ganzen Tag beschäftigt. Für die Spurensicherer würde es ganz sicher nochmal ein ziemlich anstrengender und langer Tag werden.
Die Kolonne wollte gerade aufbrechen, als jemand die Haustür öffnete und Wim schwanzwedelnd direkt auf sie zusprang.
„Du kommst natürlich mit“, rief Robert. „Ein bisschen was hast du ja schon von einem Polizeihund.“ Jan öffnete die Tür und Wim sprang auf die Rückbank des Streifenwagens.
Als sie die Zufahrt zum Haus der de Groots hinauffuhren, sahen sie die zerrissenen Trassierbänder, die sie gestern zur Absperrung des Tatorts aufgespannt hatten. Sie waren nur noch fragmentarisch vorhanden und flatterten jetzt sinnlos im Wind umher.
Als Robert die Versiegelung entfernte und die Tür zum Haus aufschloss, bemerkte einer der Spurensicherer lakonisch: „Ich liebe ätzenden Güllegestank am Morgen!“
„Wenn es in der Nase brennt und sich ein leichter Würgereiz einstellt, weiß man zumindest, dass man nah am Ziel ist", spottete ein anderer Kollege. Gutgelaunt begannen sie ihr Tageswerk.
Robert rieb sich verlegen den Nasenrücken. Etwas Motivation, dachte er, konnte nicht schaden.
Der orkanartige Sturm hatte auch im Goldenstedter Moor seine Spuren hinterlassen. Auf dem Anwesen der de Groots lag einer der Bäume entwurzelt quer über dem Teil des Grundstücks, der von seinen Besitzern im asiatischen Stil angelegt worden war. Die herausgerissenen Wurzelballen hatten einen Krater im Erdreich entstehen lassen, der sich bereits mit Grundwasser gefüllt hatte. Auch der Faltpavillon, den die Spurensicherungsleute am Vortag über den Bereich des Whirlpools gespannt hatten, war aus seinen Verankerungen herausgerissen und fand sich in einer Dornenhecke wieder, die das ganze Anwesen umsäumte. Der wenige Schnee und die darüber entstandene dünne Eisschicht hatten die graue Landschaft in eine unwirklich erscheinende Kulisse verwandelt. Einzig der penetrante Güllegeruch, der sich überall festgesetzt hatte, erinnerte daran, dass dieses scheinbar idyllische Bild trügerisch war.
Jan und Robert hatten sich neue Schutzoveralls übergezogen und sahen sich zunächst im Erdgeschoss des Hauses um. Der verschobene Teppichläufer vor der Terrassentür und auch der umgekippte Küchenstuhl waren ihnen bereits am Vortag aufgefallen. Außer diesen beiden Details erweckte der ansonsten stilgerecht eingerichtete Wohnbereich eher den Eindruck eines alltäglichen Zustands, gerade so, als wäre im Haus nichts Außergewöhnliches geschehen. Verwüstungsmerkmale oder andere typische Auffälligkeiten, die nach Raubüberfällen oder Kampfhandlungen üblicherweise entstehen und häufig Rückschlüsse auf einen möglichen Tathergang zulassen, waren nicht auszumachen. Es gab auch keinerlei Anzeichen eines gewaltsamen Eindringens. Das Haustürschloss war unversehrt, ebenso alle Fenster und die gläserne Terrassentür. Entweder verfügte der oder die Täter über die Möglichkeit zum freien Zugang in das Haus, oder er, bzw. sie, wurden von den de Groots selbst eingelassen. Robert dachte darüber nach, ob das Verbrechen von einer, oder doch von mehreren Personen durchgeführt werden konnte. Er war sich hierüber noch nicht ganz im Klaren. Diese seltsame Ordnung im ganzen Gebäude irritierte alle, auch die Spurensicherungsleute.
Auf einem Sessel lag ein aufgeschlagenes Buch. Jan warf einen flüchtigen Blick auf das Cover. Es war ein Kriminalroman des Schriftstellers Janwillem van de Wetering. Vermutlich hatte noch jemand kurz vor seinem Tod in diesem Buch gelesen. Unter den gegebenen Umständen kam ihn der Titel »Eine Tote gibt Auskunft« recht seltsam vor. Hoffentlich geben die Toten tatsächlich Auskunft, dachte Jan. Einer der Spurensicherer machte sich gerade mit einem Spezialpinsel über das Buch her, um die Fingerprints auf dem Einband zu fixieren.
„Also, ein Raubmotiv schließe ich schon mal aus“, erklärte Robert. Er deutete auf einen höheren Geldbetrag, der in einer Glasschale auf der Garderobe lag.
Während Jan noch darüber nachdachte, wer das Buch gelesen haben könnte, konzentrierte sich Robert dagegen nun auf ein modernes Sideboard, das neben einem rotbezogenen Designersofa stand und irgendwie nicht zum Interieur des alten Bauernhauses passen wollte. Ein am Kopfende des Sofas zusammengedrücktes Kissen ließ darauf schließen, dass hier jemand lang ausgestreckt und entspannt gelegen haben musste. Ein Großbildfernseher war in passender Distanz zu dem Sofa an einer der Außenwände des Raumes angebracht und eine Fernbedienung lag direkt in greifbarer Nähe auf dem Sideboard, auf dem auch ein leeres Cognacglas abgestellt war. Auch hier machten sich die Beamten an den Gegenständen zu schaffen. Robert hörte plötzlich eine sonore Stimme. »Papa Dopo« stand oberhalb der alten aber renovierten Eichenholztreppe und hatte seinen Mundschutz kurzzeitig abgenommen und rief ihm zu: „Herr Kommissar. Kommen Sie bitte mal. Ich denke, das dürfte Sie interessieren.“
Der Chef der Spurensicherung war gebürtiger Grieche. Er lebte bereits seit Ende der 80er Jahre in Deutschland und war etwas jünger als Robert. Da offenbar niemand in seiner neuen Heimat seinen vollständigen Namen Evángelos Themistoklís Papadopoulos aussprechen konnten, hatte man ihm den Nicknamen »Papa Dopo« verpasst. Auch alle Polizeikollegen nannten ihn so und kaum einer wusste überhaupt, wie er tatsächlich hieß. Er war erklärter Heavy Metal-Fan und überzeugter Harley-Davidson-Fahrer. Robert meinte manchmal, dass bereits eins dieser beiden Attribute vollkommen ausgereicht hätte, da der Grieche ein aufbrausendes Temperament besaß und auch sonst gern mal die ganze Straßenbreite für sich allein beanspruchte. Er gehörte zur Headbanger-Fraktion und war Dauerabonnent beim Wacken Open-Air-Festival. Robert schätzte seine gründlichen Tatortanalysen und forensischen Kenntnisse außerordentlich, und wusste, dass er sich auf seinen kriminalistischen Spürsinn verlassen konnte.
Als er das Schlafzimmer der de Groots betrat, fiel sein Blick zuerst auf das Ehebett. Die Bettlaken und Kopfkissen waren eingedrückt und auf dem Fußboden lag ein benutztes Taschentuch. »Papa Dopo« hatte es mit einer Pinzette angehoben und stellte lapidar fest: „Ich gehe jede Wette ein, das sich daran noch Rückstände von Chloroform feststellen lassen.“
Jan hatte sich unterdessen in einem Nebenraum umgesehen, dessen Zugangstür direkt neben der zum Badezimmer lag. Der Raum wurde wahrscheinlich hauptsächlich als Büro genutzt. An den Wänden standen Regale mit Aktenordnern. Viele Fachbücher über Tierzucht und Agrarwirtschaft standen nebeneinander aufgereiht. Er zog wahllos eins der Bücher heraus und blätterte darin herum. Jan empfand es als wissenschaftliche Anleitung, um Tiere zu quälen und eine innere Abscheu machte sich deutlich in ihm bemerkbar. Er stellte es an seinen Platz zurück. Dann ging er zu einem der winzigen Fenster, vor dem ein Schreibtisch aufgestellt war. Die Gardinen waren zugezogen und dämpften die optische Wahrnehmung, zumal das Tageslicht ohnehin nur schwach eindringen konnte. Ihm fiel sofort ein grünes Licht auf, das unter einigen darüber abgelegten Geschäftsbriefen permanent blinkte. Es kam von einem Anrufbeantworter. Seine Augen hatten sich inzwischen auf das Halbdunkel eingestellt und er machte einige Fotos von der Arbeitsfläche des Schreibtisches.
„Robert, kommst du mal“, wiederholte Jan seine Bitte.
Als der kurz darauf direkt hinter ihm stand, drückte er mit der Spitze seines Touchpad Stiftes auf die Play-Taste des Anrufbeantworters. Gleich die erste gespeicherte Nachricht vom 2. Dezember ließ beide aufhorchen. Eine männliche, aber zweifelsfrei verstellte Stimme, hatte nur eine kurze, dafür aber aussagekräftige Botschaft hinterlassen: „Wir werden dich und deinesgleichen bestrafen!“
Ein Ausdruck ungläubigen Erstaunens breitete sich auf ihren Gesichtern aus.
„Die Anruferliste …“, sagte Robert, „wir müssen das überprüfen!“
Dann kündigte ein Piepton eine zweite Nachricht an. Sie wurde zwei Tage nach dem Drohanruf am 4. Dezember aufgezeichnet. Sie stammte von Erik de Groot. Er hatte um 8 Uhr 30 angerufen und außer der kurzen Frage: „He! Wo seid ihr?“, keine weiteren Informationen hinterlassen. Fünf Minuten später, gegen 8 Uhr 35, hatte sich noch eine weibliche Stimme gemeldet: „Ja, hier Sekretariat der Kanzlei Volkerts & Volkerts, Chantal Wülbers am Apparat. Ich möchte Sie nur an den heute mit uns vereinbarten Termin erinnern, Herr de Groot. Der Herr Notar erwartet Sie bereits in seinem Büro. Es wäre sehr nett, wenn Sie uns eventuell zurückrufen könnten, falls Ihnen irgendetwas Dringendes dazwischengekommen ist. Vielen Dank und Auf Wiederhören.“
„Allerdings ist Herrn de Groot tatsächlich was dazwischengekommen“, grummelte Robert.
„Weißt du, was ich besonders merkwürdig finde? - Sie haben seit dem 2. Dezember, also mindestens zwei Tage, bevor sie umgebracht wurden, ihren AB nicht mehr abgehört.“
„Oder sie wollten absichtlich mit dem Drohanrufer nicht direkt sprechen“, bemerkte Jan. „Ich packe den AB ein. Da muss ein Experte ran. Immerhin ist das eine heiße Spur.“
Robert nahm seine Brille ab. „Ich glaube, wir sollten jetzt Erik de Groot einen Besuch abstatten. Du hast doch die Anschrift von der Klinik, oder?“ Jan nickte. „Hier stören wir ja doch bloß“, stellte Robert fest.
Obwohl Twistringen nur etwa sechsundzwanzig Kilometer vom Haus der de Groots entfernt lag, benötigten sie fast sechzig Minuten bis zur Klinik, da die Nebenstraßen völlig vereist waren und obendrein auf halber Strecke eine ausgerückte Feuerwehr damit beschäftigt war, einen entwurzelten Baum zu entfernen, der die Fahrbahn blockierte. Robert stieg mit dem Hund aus und ließ ihn am Feldrain pinkeln, dann unterhielt er sich noch kurz mit einem der Feuerwehrmänner. Jan hatte die Fahrtunterbrechung genutzt, um über Erik de Groot im Internet zu recherchieren. Er stieß auf einige Namensvetter, die er aber gleich wieder wegklickte. Dann aber entdeckte er auf ein paar spärliche Blog-Einträge, die sich inhaltlich hauptsächlich mit betriebswirtschaftlichen Themen beschäftigten und von einem Studenten der Rijksuniversiteit Groningen herausgegeben wurde. Darin tauchte sein Name gleich mehrfach auf, immer im Zusammenhang mit irgendwelchen Master's degree programmes, Economics, Business and Environment und ähnlichen Schlagwörtern. Facebook und andere soziale Netzwerke schien Erik zu meiden. Was irgendwie für ihn sprach, dachte Jan. Ein Foto von Erik war nirgendwo im Netz zu finden.
Als sie den Parkplatz vor dem Klinikum erreicht hatten, fiel Robert noch eine Frage ein: „Sag mal, was hältst du eigentlich von dem anonymen Drohanruf auf dem AB?“ Jan schaltete seinen Tablet-PC aus und verstaute ihn in einem Etui.
„Ich weiß nicht genau, was dieses ‚Wir werden dich und deinesgleichen bestrafen!‘ zu bedeuten hat.“
„Ich musste gerade daran denken, was Hinnerk Bloemer heute früh gesagt hat. Er sprach davon, dass die Familie de Groot nicht nur Freunde hatte, sondern dass hier im Landkreis sogar einige Leute gegen ihre Geschäftspraktiken protestiert haben sollen“, meinte Robert und legte die Stirn in Falten, schürzte die Lippen und war so in Gedanken versunken, dass er das Geräusch vom Rücksitz des Wagens gar nicht wahrnahm. Erst als Wim anfing, die Lefzen hochzuziehen und dabei knurrend ein- und ausatmete, drehte er sich um.
„Was geht denn jetzt los?“, fragte Jan entsetzt und warf einen ängstlichen Blick über seine Schulter.
„Der Hund muss irgendwas wahrgenommen haben, was ihn beunruhigt.“
Sie blickten sich ein paar Sekunden lang hilflos um und entdeckten dann die Ursache für Wims Verhalten. Etwa zwanzig Meter von ihrem Fahrzeug entfernt lief ein Mann in schwarzem Anzug und weißem Kollar am Kragen über den Parkplatz und kam direkt auf sie zu. Es war ein Geistlicher der römisch-katholischen Kirche, der zum Tragen einer solchen Kleidung verpflichtet war. Der hagere Mann ging wie auf Eiern über das Glatteis und fuchtelte dabei mit seinen Armen herum.
„Offenbar irritiert Wim sein komischer Laufstil“, meinte Robert.
„Will der was von uns?“, fragte Jan.
Doch der hagere Geistliche lief achtlos an ihrem Wagen vorüber und lenkte stattdessen seine unsicheren Schritte gezielt in Richtung eines in der Nähe parkenden Mercedes GLK. Der schwarze Geländewagen hatte dunkel getönte Scheiben, sodass sie nicht erkennen konnte, ob noch jemand mit im Fond saß.
„Eins muss man denen ja lassen“, bemerkte Robert sarkastisch, „sie verstehen was von Autos.“
„Das ist kein Auto“, meinte Jan, „das ist ein Stadtpanzer.“
Kaum war der Geistliche eingestiegen, fuhr der Geländewagen auch schon vom Parkplatz und schlug genau jene Richtung ein, aus der sie soeben gekommen waren.
„Was macht wohl ein römisch-katholischer Priester in einer Psychotherapeutischen Klinik?“, fragte Jan und notierte sich gleichzeitig auf einem Notizblock das Kennzeichen des Wagens. Seine Frage verursachte jedoch bei Robert nur ein mitleidiges Schmunzeln.
„Wir sind hier in Südoldenburg, Jan, schon vergessen? Die katholischen Kleriker haben hier das Sagen. Vermutlich gehört ihnen sogar die Klinik.“
Wim hatte sich inzwischen wieder beruhigt. Er rollte sich auf seinem Platz auf der Rückbank des Wagens zusammen, spitzte aber weiterhin die Ohren.
***
Dr. med. Gernot Knick war Therapeutischer Leiter der Klinik und zugleich Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. Er erweckte rein körperlich eher den Eindruck eines aus dem Leim gegangenen Marlon Brando. Sein Gesicht war schwammig und sein Händedruck lau. Dafür verrieten seine dichten Augenbrauen ein recht durchsetzungsfähiges Naturell. Er erwartete die beiden Kriminalbeamten bereits in seinem Dienstzimmer. Nachdem sie einander vorgestellt waren und Robert sich nach dem Befinden Erik de Groots erkundigt hatte, begann er sofort wie ein Wasserfall zu reden: „Sie müssen das folgendermaßen betrachten. Unser Patient, Herr de Groot, war erst gestern einer sehr belastenden Situation ausgesetzt. Der Beginn einer akuten Belastungsreaktion setzt üblicherweise mit dem Erleben einer solchen schwierigen Situation ein. Diese Reaktion kann Stunden bis Tage andauern, in schweren Fällen sogar Wochen. Bei Erik de Groot liegt eindeutig ein solcher schwerer Fall vor …“
„Und das bedeutet?“, unterbrach ihn Robert.
Aber der Mediziner schnaubte nur verächtlich und setzte nach einem Atemzug seine Aufklärungskampagne ungehindert fort: „D-a-b-e-i unterscheiden sich die Symptome in der Akutphase von denen der anschließenden Verarbeitungsphase. Halten die Symptome der Verarbeitungsphase länger als vier Wochen an und liegt eine psychische oder soziale Beeinträchtigung vor, dann sprechen wir von einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei der es sich dann zweifelsfrei um eine schwere therapiebedürftige Erkrankung handelt.“
Robert hakte noch einmal ein: „Ist denn Herr de Groot schon in der Verfassung, uns einige wenige Fragen zu beantworten?“
Ohne wirklich auf Roberts Frage einzugehen, fuhr er fort: „Eine akute Belastungsreaktion ist häufig durch eine vielfältige, oft rasch wechselnde Symptomatik gekennzeichnet. Sehen Sie, sie kann mit Desorientiertheit, Bewusstseinseinengung, aber auch mit innerer Distanzierung zu dem Erlebten einhergehen. Manche Betroffene sind daher unfähig, dass Geschehene in Worte zu fassen oder haben eine vollständige Erinnerungslücke.“
Dr. Knick wirkte gleichzeitig überdreht und erschöpft, was auf zu wenig Schlaf und zu viel Koffein hindeutete.
„Herr Dr. Knick. Wollen Sie damit andeuten, dass ihr Patient, Herr de Groot, unter einer vollständigen Erinnerungslücke leidet?“
War die Gesprächsatmosphäre bislang schon angespannt gewesen, war sie nun regelrecht aufgeladen. Der Mediziner leckte sich über seine trockenen Lippen und schüttelte seinen Kopf. „Nein, Sie dürfen das nicht missverstehen, Herr Kommissar. Ich wollte Ihnen nur klarmachen, dass sich der Patient im Moment gerade in einer äußerst prekären und schwierigen Verarbeitungsphase befindet. Und genau in dieser Phase kommt es oft zu einer Intrusion der Ereignisse, also dem Eindringen des Erlebten.“
Jan hatte das Gefühl, dass die Stimme des Mediziners von weit herkam. Der Mann redete weiter und strich sich dabei mit einer Hand über die Stirn.
„Das kann in Form von Albträumen oder auch als Flashbacks geschehen. Diese Flashbacks werden häufig von Wahrnehmungen, die an die belastende Situation erinnern, ausgelöst. Es könnten beispielsweise Gerüche oder Geräusche sein, zum Beispiel der Geruch von verbranntem Fleisch - aber auch schon eine Ihrer Fragestellungen könnten diesen Zustand auslösen, was natürlich fatale Folgen für den Patienten hätte, wenn Sie verstehen.“
„Verstehe.“ Roberts Wut ließ langsam nach und er signalisierte mit einem Kopfnicken sein scheinbares Verständnis für die Situation des Patienten.
„Ah ja, die Verarbeitungsphase … Ist schon sehr schwierig. Sehen Sie, Herr Doktor, uns Polizeibeamten fällt es ja selbst oft auch nicht leicht, all diese schrecklichen Bilder aus unseren Köpfen zu verdrängen. Aber das gehört nun mal mit zu unserem Job. Ich meine, damit ganz alleine fertig zu werden, und so.“
Der Arzt versuchte ungerührt zu wirken. Taktik war offensichtlich nicht gerade seine Stärke.
„Also Flashbacks hin oder her, wir möchten jetzt sofort Herrn de Groot persönlich sprechen!“
Robert war entschlossen, sich nicht abwimmeln zu lassen.
„Aber auf Ihre Verantwortung!“
„Erhält er irgendwelche Psychopharmaka?“, erkundigte sich Jan.
Doch Dr. Knick schüttelte nur den Kopf, blickte aber noch grimmiger als zuvor.
„Hatte Erik de Groot heute schon mal Besuch? Etwa vor einer halben Stunde“, hakte Jan nach.
Dem schwammigen Mediziner schoss plötzlich die Röte ins Gesicht, er erhob sich und ging voraus zur Tür.
„Sie können ihn selbst fragen. Aber nicht länger als fünf Minuten!“
In Zimmer 13 trafen sie auf einen jungen Mann, der gerade damit beschäftigt war, seine wenigen Habseligkeiten zu ordnen, die er vor sich auf einem medizinischen Beistelltisch aufgereiht hatte. Erik war etwa 25 Jahre alt, wirkte aber durch seine feingeschnittenen Gesichtszüge wesentlich jünger. Er trug einen dieser typischen Krankenhausbademäntel und Einweglatschen an den Füßen. Eine Strähne seines dunklen Haares hing ihm über die Stirn. Von ausgeprägter Trauer, Herzrasen oder Übelkeit, Hyperaktivität, Aggression oder scheinbarer Teilnahmslosigkeit war ihm nichts anzumerken. Es zeichnete sich vielmehr eine leichte Verblüffung in seinen Gesichtszügen ab, nachdem die Polizisten sich ihm vorgestellt hatten.
„Schön, dass Sie pünktlich kommen konnten“, begrüßte Erik de Groot seine Besucher. „Entschuldigen Sie nur diese Unordnung hier im Zimmer.“ Robert wechselte mit Jan einen langen Blick. Erik begann wieder seine persönlichen Gegenstände auf dem Beistelltisch neu auszurichten.
„Sie wissen, weshalb wir Sie heute besuchen, Herr de Groot?“ erkundigte sich Robert behutsam und mit ruhiger Stimme. Erik lächelte, als würde ihm diese Frage absolut überflüssig erscheinen.
„Aber ja doch. Wir haben doch heute - - - den Termin, den Termin - - - bei Ihnen im Büro. Entschuldigen Sie bitte die Verspätung. Mein Vater - - - er wird jeden Augenblick - - - hier - - - eintreffen.“
Er artikulierte seine Worte nicht richtig und setzte dazwischen kleinere Unterbrechungen. Es war ganz offensichtlich, er stand unter medikamentösen Einfluss.
„Sind Sie etwa - - - nicht- - - nicht von der - - - Kanzlei - - - Volkerts & Volkerts?“