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Jan saß am Steuer des Funkstreifenwagens, warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel und gab über Sprechfunk eine Information an die hinter ihm fahrende Einsatzkolone durch: „In etwa fünfzig Metern geht´s links ab auf einen Feldweg, von da an wird’s ungemütlich.“

„Verstanden“, krächzte es mehrstimmig aus dem Bordlautsprecher. Er setzte den Blinker und verlangsamte das Tempo. Robert saß neben ihm und studierte eine topografische Karte des Goldenstedter Moorgebiets, die er sich noch kurzfristig in der Polizeiinspektion besorgt hatte. „Ich war früher schon mal hier“, erinnerte sich Jan, „während meiner Schulzeit. Das war damals eine Exkursion für den Biologieunterricht. Erinnern kann ich mich aber nur noch an eine Fahrt mit der Moorbahn und an die vielen Mückenstiche.“ Robert sah hinaus auf das flache Umland und murmelte leise: „Ziemlich abgeschiedene Gegend hier.“

Sie kamen jetzt langsamer voran, da die Kollegen hinter ihnen in den Einsatzfahrzeugen der Spurensicherung und der KTU um ihre an Bord befindlichen Instrumente bangten. Jan versuchte, den tiefsten und schlammigsten Schlaglöchern auszuweichen. Sie kamen nach etwa zwei Kilometern an ziemlich weit abgelegenen Höfen vorbei, die fast immer aus drei Gebäudeteilen bestanden, einem verfallenem Bauernhaus, einem neugebauten Wohnhaus und einer Scheune. Dahinter kamen plötzlich auch langgezogene Stallbaracken zum Vorschein, die alle gleich aussahen. Es waren grau angestrichene Flachbauten mit winzigen Fenstern und Belüftungsschächten auf den Dächern.

„Sieh dir das an“, sagte Robert, „das sind alles Tiermastanlagen.“

„Wohl eher Hühner-KZs“, korrigierte ihn Jan.

Das schummrige Tageslicht verlieh den grauen Baracken einen rötlichen Schimmer. Weit und breit war auf den Höfen kein einziger Mensch zu sehen, der irgendeiner Arbeit nachging.

„Warst du mal in so einer Anlage?“, fragte Jan.

„Nee ... Sollte ich?“ Robert suchte auf der Karte nach ihrer Position und legte dann einen Finger genau auf den Punkt.

„Es gibt da heimlich gedrehte Videos auf YouTube. Da fällst du vom Glauben an den gesunden Menschenverstand ab“, ergänzte Jan.

„Vielleicht sollten unsere Bildungsverantwortlichen mal darüber nachdenken, zukünftig in die Lehrpläne Schulklassenexkursionen in solche Tiermastanlagen als anschauliches Beispiel für den Biounterricht zu integrieren. Was meinst du?“

„Das wäre wohl eher was für den Ethikunterricht “, sagte Jan. Er warf nochmals einen flüchtigen Blick in die Richtung der Stallungen, bevor diese hinter einem Sichtschutz verschwanden. „Sind dir die Sicherheitsvorkehrungen aufgefallen? Die haben sich ganz professionell mit High-Tech-Cams und mit NATO-Drahtzäunen abgeschirmt. Glaubst du wirklich, die lassen jemand freiwillig hinter die Kulissen gucken?“

Robert schwieg und beschäftigte sich wieder mit der Karte. Die abgeernteten Maisfeldflächen auf beiden Seiten des Feldweges schienen kein Ende zu nehmen.

Ihnen war schon von Weitem ein über dem Moorgebiet kreisender Polizeihelikopter aufgefallen, der einen Bogen zog und gerade zur Landung ansetzte. Kurz darauf hatten sie ihr Ziel erreicht.

Auf dem Besucherparkplatz neben dem »Haus im Moor«, einem modernen Holzgebäude mit begrüntem Dach, waren inzwischen alle Einsatzfahrzeuge der Oldenburger Kriminalpolizei eingetroffen.

Diese Freifläche war weit und breit der einzige Ort, auf dem auch ein Hubschrauber starten und landen konnte. Die Besatzung des Polizeihelikopters »Phoenix 93« aus Rastede hatte schon einige Stunden lang das Moorgebiet zwischen Vechta und den Ortschaften Goldenstedt, Barnstorf sowie entlang der B 51 in südlicher Richtung bis nach Diepholz mehrfach überflogen und dabei eine Wärmebildkamera eingesetzt. Der Pilot sprach mit einem Mann und deutete auf die aufgezeichneten Messergebnisse. Robert beobachtete, wie der Mann mit seinen Händen aufgeregt gestikulierte und offenbar mit dem Ergebnis nicht einverstanden war. Das musste sicherlich dieser Polizeioberrat Bahlmann sein, dem sie diesen Einsatz zu verdanken hatten. Der Hubschrauberpilot versuchte offenbar dem Leiter der Suchaktion klar zu machen, dass seine bisherigen Flüge über das gesamte Territorium ergebnislos verlaufen waren.

„Sie müssen es mir schon glauben, Herr Polizeioberrat. Wir haben das großflächige Feuchtgebiet nach allen möglichen organischen Wärmequellen systematisch abgesucht, sind aber lediglich auf Quellen gestoßen, die von wildlebenden Tieren stammen.“

Er deutete auf seine Aufzeichnungen. „Sehen Sie selbst, diese farbigen Markierungen, das sind alles Kaninchen, Kraniche, Füchse und Rehe. Eins ist sicher: Zurzeit befinden sich keine Personen im Moorgebiet, die als lebende Wärmequellen erfasst werden können.“

Robert ging auf die beiden Männer zu und stellte sich direkt neben sie. „Hallo! Ich bin Hauptkommissar Robert Rieken, Kripo Oldenburg.“

„Schön, dass Sie so schnell kommen konnten“, sagte der Polizeioberrat und nickte ihm zu. „Ich bin Kai Bahlmann, Leiter des Polizeikommissariats Vechta.“

Sie begrüßten sich mit Handschlag. Kai Bahlmann war um die 50, hatte ein knallrotes Gesicht und roch stark nach Eukalyptusbonbon. Entweder zu hoher Blutdruck oder zu viel Alkohol, dachte Robert. Der Mann stand offensichtlich unter Druck.

„Darf ich mal einen Blick auf die Messergebnisse werfen?“, erkundigte sich Robert, damit er sich einen ersten Überblick verschaffen konnte.

Der Pilot reichte die Aufzeichnungen weiter und begann Robert die Infrarotaufnahmen zu erklären:

„Sehen Sie. Das hochempfindliche Messgerät kann auch tagsüber optisch gut getarnte Objekte aufgrund der Wärmesignatur leicht aufspüren. Wir haben uns deshalb hauptsächlich auf Holzschuppen, Überstände, Scheunendächer oder andere Gebäude konzentriert, die von Menschen möglicherweise als Unterschlupf aufgesucht und genutzt werden könnten.“

Robert verstand, sah sich die Aufnahmen genauer an und zeigte dann mit dem Finger auf einen roten Kreis. „Und was ist mit diesem Gebäude hier?“

„Das ist eine Aufnahme, die wir direkt über dem Grundstück gemacht haben, wo die beiden Leichen aufgefunden wurden.“

„Und diese roten Flecken hier, direkt neben dem Haus?“

„Ist der Whirlpool“, faselte Kai Bahlmann. „Ich meine, das Ding ist noch in Betrieb! … Verstehen Sie? … Ich habe einen meiner Leute angewiesen, bis zu Ihrem Eintreffen nichts zu verändern und das Gebäude abzusichern.“

Als Bahlmann keine weitere Erklärung abgab, wandte sich Robert erneut an den Piloten: „Wenn ich das richtig verstanden habe, wäre also ein Verstecken von Wärmequellen, vor allem bei niedrigen Außentemperaturen, dann sicher nur mit großem Aufwand möglich, oder?“

Der Pilot lächelte und schüttelte den Kopf. „Ein absolut sicheres Versteck wird es nicht geben. Selbst wenn hier im Moor ein menschlicher Körper in den letzten vierundzwanzig Stunden versunken wäre, könnten wir diese Stelle noch genau lokalisieren.“

„Wie ich sehe, haben Sie sich hauptsächlich auf den nördlichen Bereich konzentriert. Fliegen Sie auch noch über die anderen Gebiete?“

Der Pilot sah auf und deutete auf die tiefhängende Wolkendecke, die den ganzen Himmel verdunkelte. „Sie wissen vermutlich, was uns heute noch erwartet? Mit »Xaver« ist nicht wirklich zu spaßen. Außerdem würde bei jedem weiteren Flug die Messgenauigkeit durch die vielen feuchten Oberflächen erheblich sinken. Ich muss zusehen, dass ich sobald wie möglich nach Rastede zurückfliege. Sonst komme ich selbst noch in Teufels Küche.“

Polizeioberrat Kai Bahlmann, der die ganze Helikopteraktion angefordert und geleitet hatte, zeigte sich enttäuscht. Aber gegen die berechtigten Einwände des Piloten konnte er nichts ausrichten.

Als die Rotorblätter des Helikopters zu rotieren begannen, wirbelte es Unmengen an Torf- und Schlammwasser auf, sodass sich der ganze Parkplatz innerhalb weniger Sekunden in eine Dreckschleuder verwandelte.

Nachdem der Hubschrauber abgehoben hatte, war Kai Bahlmann schnurstracks hinüber zu den Oldenburger Beamten geeilt, die sich hinter ihren Einsatzfahrzeugen in Sicherheit gebracht hatten. Er hielt seine Mütze fest, damit sie nicht vom Auftrieb weggewirbelt wurde. Sein Gesicht war über und über mit braunen Torfresten besprenkelt und seine dunkelblaue Schutzkleidung sah aus, als wäre er einem Güllebomber hinterhergelaufen, was ihm ein Grinsen der anderen einbrachte.

Die Männer beobachteten, wie sich der Hubschrauber etwas neigte und sich dabei leicht drehte, dann über das Moor hinaus flog, bis er nur noch als kleiner schwarzer Punkt am grauen Himmel zu erkennen war.

„Hoffentlich macht euch das Sauwetter keinen Strich durch die Rechnung.“

Kai Bahlmann versuchte offenbar, ein geeignetes Gesprächsthema zu finden.

„Steigen Sie bei uns mit ein?“, fragte Jan. „Wir möchten schnellstmöglichst zum Einsatzort.“ Bahlmann stieg hinten in den Streifenwagen.

„Was meinen Sie, hat der Leichenfund etwas mit den entflohenen Häftlingen zu tun?“, erkundigte sich Robert. „Davon gehe ich aus“, antworte Bahlmann, der gerade dabei war, sich mit einem Papiertaschentuch die Dreckspritzer aus dem Gesicht zu tupfen. „Und wer hat die Leichen gefunden?“, wollte Jan wissen.

„Eine Haushälterin und der Sohn der Familie, Erik de Groot. Polizeiobermeister Bloemer war heute früh gegen 9 Uhr als erster Beamter am Fundort.“

Er blickte grübelnd aus dem Fenster. „Aber vielleicht ist es ja auch ein Tatort. Genaueres lässt sich im Moment noch nicht sagen. Um das herauszufinden, sind Sie ja hergekommen.“

„Gibt es inzwischen schon irgendwelche Erkenntnisse über die beiden Toten? Wie ich hörte, sollen die Leichen bis zur Unkenntlichkeit …“

Bahlmann fiel ihm ins Wort. „Die Täter haben ihre Opfer regelrecht gar gekocht, wenn Sie das meinen.“

„Wieso sprechen Sie eigentlich von Täter und Opfer?“

„Hören Sie, Herr Rieken. Die Sache liegt doch klar auf der Hand. Da entkommen zwei gefährliche Straftäter aus der JVA. Einer von ihnen hat mindestens schon einen schweren Raub mit Todesfolge ausgeführt. Und am nächsten Tag liegen da zwei Leichen in einem Whirlpool. Noch dazu in einer abgeschiedenen Gegend, die sich hervorragend als Unterschlupf für jemand anbietet, der auf der Flucht ist. Ich bitte Sie, Herr Rieken!“

Robert hielt diese These zwar für plausibel, aber auch für voreilig. Solche Schnellschüsse kannte er aus dem Effeff. „Sie wissen also noch nichts über die Identität der Toten?“

„Bisher steht nichts fest, jedenfalls nichts, woraus man eindeutige Rückschlüsse ziehen könnte. Die Haushälterin behauptet allerdings, sie hätte an der Haarfarbe festgestellt, dass es sich um ihre Chefin handeln könnte.“

„Und der Sohn? Wie heißt der nochmal?“

„Erik de Groot, der steht unter Schock, ist nicht ansprechbar. Wir mussten ihn in das Klinikum nach Twistringen einliefern. Nervenzusammenbruch.“

„Ist die Haushälterin noch vor Ort?“

„Nein. Ein Streifenwagen hat sie nach Hause gebracht. Sie selbst war dazu nicht mehr in der Lage. Ihr Wagen steht noch auf dem Hof. Allerdings hat Polizeiobermeister Bloemer ihre Personalien aufgenommen.“

„Und wie läuft es mit ihrer Großfahndung? Wie ich hörte, haben Sie ja alle Register gezogen. War das überhaupt notwendig?“

Kai Bahlmanns Lippen verzogen sich zu einem breiten Grinsen. „Notwendig? Was glauben Sie? Die beiden flüchtigen Jungstraftäter sind keine Lämmerschwänzchen. Meine Leute halten mich ständig über Walkie-Talkie auf dem Laufenden.“

Als sie sich dem Zufahrtsweg genähert hatten, der hinüber zum Anwesen der de Groots führte, sah Robert, dass bereits zwei seiner Leute aus dem vorausgefahrenen Van ausgestiegen waren und damit begonnen hatten, die rot-weiß-gestreiften Absperrbänder auszurollen. Auch einer der Spurensicherungsexperten war schon damit beschäftigt, auf dem Zufahrtsweg möglicherweise vorhandene Abdrücke von Radspuren oder andere Auffälligkeiten ausfindig zu machen. Selbst wenn das eher unwahrscheinlich erschien, da der Weg mit Kies aufgeschüttet war und deshalb keinerlei Reifenabdrücke aufnehmen konnte. Erst als er damit fertig war, wurde der Zufahrtsweg für die anderen Polizeifahrzeuge freigegeben.

„Ihre Leute sind wirklich pingelig“, stellte Kai Bahlmann fest, doch Robert reagierte nicht auf seine Bemerkung.

Nachdem sie ausgestiegen waren, begann Jan damit mit seinem 7-Zoll-Tablet Aufnahmen von der Vorderseite des Landhauses zu machen. Dann sah er sich auf dem Hof um und fotografierte auch die parkenden Fahrzeuge. Kai Bahlmann kam mit einem Polizisten auf Robert zu. Der Beamte sah ziemlich mitgenommen aus und fror. „Das ist Polizeiobermeister Bloemer. Er hat hier die ganze Zeit über die Stellung gehalten.“ Bloemer war ungefähr Mitte vierzig, wirkte aber wesentlich älter. Er war offenbar ein Gemütsmensch. Äußerlich ähnelte er eher einem Landwirt als einem Polizisten.

„Möchten Sie einen Kaffee oder Tee? Wir haben da drüben im Einsatzwagen ein paar Thermoskannen mit verschiedenen Heißgetränken.“ Bloemer nickte erleichtert, wollte etwas sagen, aber lautstarkes Hundebellen hinderte ihn daran. Sie standen direkt vor dem Hundezwinger. Wim kläffte unablässig und hastete dabei aufgeregt hinter dem Holzverschlag hin und her. Sie gingen ein paar Schritte hinüber zum Wagen der KTU. „Das ist ein belgischer Schäferhund“, stellte Robert fest. „Ja, das ist Wim“, sagte Bloemer.

Sie trafen auf Jan, der neben dem Fahrzeug stand, um von diesem Standort Aufnahmen von der Fassade des Landhauses zu machen.

„Wim gehört, oder besser gesagt, er gehörte Frau de Groot“, fuhr Bloemer fort. Er sprach mit starkem ländlichen Akzent und hatte offenbar ein gutes Gespür für Menschen und Tiere.

Robert reichte ihm einen Becher Kaffee. „Als Sie hier eintrafen, war da der Hund im Zwinger eingesperrt?“ Bloemer schüttelte den Kopf.

Kai Bahlmann kam auf sie zugeeilt. „Es gibt keinen Türschlüssel. Wir benötigen dringend einen Fachmann, der das Sicherheitsschloss möglichst unversehrt öffnen kann.“ Robert nickte und gab einem der neben ihm stehenden Kriminaltechniker einen Wink.

„Und wie sind dann die Haushälterin und der Sohn der Familie auf das Grundstück gekommen?“, informierte sich Jan.

Bloemer deutete auf den Hundezwinger. „Da drin gibt es einen gut gesicherten Zugang. Als ich eintraf, war Wim zusammen mit Erik de Groot auf dem hinteren Grundstück.“

„Aber um dahin zu gelangen, würde ich nicht riskieren, den verrückten Köter freizulassen“, warf Bahlmann ein. Dann ging er zusammen mit dem Kriminaltechniker hinüber zur Haustür.

Robert wandte sich an Jan: „Hast du Lin gesehen?“

Jan nickte. „Sie wartet da drüben im Kleintransporter der Rechtsmedizin, bis sie an der Reihe ist und ihren Job erledigen kann.“

Die Spurensicherungsleute hatten inzwischen einen aufklappbaren Zeltpavillon errichtet, unter dem sie sich unterstellten. Dort wurden sie auch mit den jeweils passenden Schutzkleidungen versorgt. Einige Gestalten wuselten bereits in grauen Overalls umher.

Inzwischen war es auch dem Techniker gelungen, die Haustür zu öffnen und die ersten Kollegen von der Spurensicherung hatten das Haus betreten. In ihren grauen Schutzoveralls sahen sie wie Überlebende nach einer Umweltkatastrophe aus. Bloemer gab ein ganz besonders seltsames Bild ab. In seinem grauen, sich über den ganzen Bauch spannenden Overall erinnerte er mehr an einen Punchingball, als an einen sportlichen Polizisten.

„Offenbar haben die Hausbewohner ihre Sicherheitsanlage nicht aktiviert. Was mich eigentlich wundert“, stellte Bahlmann fest. Er hatte recht, denn es gab an der Hausfassade im ersten Stockwerk einen Alarmmelder und auch eine Videokamera.

„Kannten Sie die de Groots persönlich?“, erkundigte sich Robert. Bahlmann grinste nur. „Persönlich hatte ich jedenfalls nicht die Ehre.“

„Aber es müssen doch ein paar grundlegende Fakten bekannt sein: Alter, Beruf, Reputation.“

Robert wartete auf ein paar Bemerkungen, aber es kamen keine. Er begann sich langsam darüber zu ärgern, dass er fast jede Information dem Vechteraner Kripo-Chef aus der Nase ziehen musste.

„Meine persönlichen Kenntnisse über die Familie de Groot reduzieren sich nur auf das, was man ohnehin aus der Zeitung weiß, oder was man so von den Leuten hört.“ Bahlmann wickelte ein Eukalyptusbonbon aus seiner Hülle und steckte es sich in den Mund. „Sie sollen angeblich mit zu den zehn reichsten Leuten in der Gegend gehören. Hendrik de Groot ist oder war einer der erfolgreichsten agrarindustriellen Unternehmer hier in Südoldenburg. Ihm gehörten wahrscheinlich die meisten großen Mastanlagen im Landkreis.“

Robert war nicht sonderlich überrascht, das zu hören. Allein die Renovierung des alten Gebäudes musste eine beachtliche Stange Geld verschlungen haben.

„Bevor wir rein ins Haus gehen, würde ich mir gern noch mal die nähere Umgebung ansehen“, meinte Robert. Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ Bahlmann im Regen stehen.

Bahlmann schnaubte verächtlich, machte aber keine Anstalten ihm zu folgen. Robert ging hinüber zum Einsatzwagen der Rechtsmedizin, schob die Seitentür auf und stieg ein. Er hielt inne, als erwarte er, dass Lin etwas sagen würde. Aber sie sah ihn nur blinzelnd an. Er setzte sich ihr gegenüber: „Tut mir leid wegen heute Morgen.“

„Wird es noch lange dauern?“, fragte Lin.

„Du kannst wahrscheinlich schon sehr bald loslegen. Die Spurensicherung ist bereits im Haus.“ Er studierte die Maserung des eingebauten Holztisches, der zwischen ihnen stand. „Du solltest dich auf alle Fälle auf einen grässlichen Anblick vorbereiten.“

„Ist schon okay“, erwiderte Lin. „Wir Rechtsmediziner sind dafür bekannt, knallharte Typen zu sein. Ich mache da wahrscheinlich keine Ausnahme.“

„Ich weiß“, stimmte Robert ihr zu und schmunzelte.

Sie hielt ihm ganz unerwartet ein eingewickeltes Etwas entgegen: „Hier, das ist für dich.“

„Was ist das?“

„Wirst du schon sehen. Nimm es einfach und stecke es sofort weg.“

Robert betastete das in Zeitungspapier eingerollte längliche Etwas. Es fühlte sich an wie ein Röhrchen, in das man einzelne Zigarren verpackt, damit sie ihr Aroma nicht verlieren. Er hielt es unter seine Nase und schnupperte daran.

„Es ist ganz bestimmt nicht das, was du jetzt denkst“, betonte Lin. „Aber du wirst es gut brauchen können, wenn du dringend etwas Entspannung nötig hast.“ Robert gab sich damit zufrieden und schob das eingewickelte Geschenk in eine der aufgesetzten Seitentaschen seiner Hose.

„Danke, dass du mitgekommen bist.“ Er schien weitere Worte abzuwägen und sagte dann behutsam: „Weißt du, es ist so ein verdammt ungutes Gefühl. Ich glaube …“

Krächzend meldete sich die Stimme eines der Spurensicherungsleute aus seinem Walkie-Talkie: „Chef? Wir sind jetzt soweit. Ihr könnt jetzt reinkommen.“

***

Die Kollegen hatten im Haus eine Art begehbaren Korridor vom Eingangsbereich durch das Wohnzimmer bis hin zur Terrassentür eingerichtet. In allen Räumen waren die Spezialisten damit beschäftigt, Gegenstände zu markieren, Sicherungsmaßnahmen zu treffen, Fotos zu schießen oder verdeckte Hinweise aufzuspüren. Außer einem verrutschten Teppichläufer und einem umgekippten Stuhl waren auf den ersten Blick kaum besondere Auffälligkeiten im Erdgeschoss zu erkennen. An der gläsernen Terrassentür, die einen Blick hinaus zum Grundstück erlaubte, waren erst vor wenigen Minuten Fingerabdrücke abgenommen worden.

Kai Bahlmann drängte den Mann, der die Spuren gerade gesichert hatte, zur Seite und hatte im nächsten Moment die Absicht, die Glastür zu öffnen, als Robert ihn unverzüglich stoppte: „Ich muss Sie doch nicht daran erinnern, wer hier das Sagen hat, Herr Polizeioberrat!“ Bahlmann zuckte bei dem tiefen Ton in seiner Stimme zusammen und nahm die Hand vom Türgriff. „Halten Sie sich also etwas zurück. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?“ Seine Worte klangen mehr wie eine deutliche Feststellung als eine Frage. Bahlmann kämpfte einen Augenblick lang mit sich, ließ aber dann stillschweigend einem der Spurensicherungsexperten den Vortritt. Die unangenehme Art des Vechteraner Kripo-Chefs ging Robert langsam auf die Nerven.

Als die Terrassentür geöffnet wurde und die ersten Beamten hinaustraten, schwappte ihnen ein beißender Gestank entgegen.

Robert, der sich einen einfachen Atemschutz über Mund und Nase gezogen hatte, blieb noch einen Moment im Regen stehen, atmete den widerlichen Geruch ein, der von dem Pool herüber wehte, und fragte sich, was ihn in wenigen Sekunden erwarten würde.

Nach der Weite der Moorlandschaft kam es ihm auf dem parkähnlichen Anwesen bedrückend eng vor. Hinter ihm stand Lin. Er konnte trotz der Sichtscheibe ihrer Atemschutzmaske ein Lächeln erkennen. Die ersten Gestalten in Overalls verteilten sich über das gesamte Grundstück. Einige verständigten sich mehr über Handzeichen, als mit Worten. Der grässliche Gestank setzte allen zu.

Der Whirlpool war noch immer aktiv. Die Spurensicherungsleute hatten damit begonnen, den ganzen Bereich mit einem aufgespannten Faltpavillon abzusichern.

Im Inneren des beleuchteten Poolbeckens brodelte ein nach Ammoniak stinkender und dampfender Sud, der von einer elektrischen Pumpe angetrieben wurde. Über den Rand des Beckens quollen graue Schaumkronen aus geronnenem Eiweiß, die den ekelerregenden Anblick noch zusätzlich verstärkten.

Es waren eindeutig zwei menschliche Körper auszumachen. Ihre Oberkörper hatten sich beide weit nach vorn geneigt. Der Kopf einer der beiden Leichen war bereits vollständig bis unter die Oberfläche in die stinkende Brühe eingetaucht. Ein großer Teil der gesamten flüssigen Füllmenge des Pools war offenbar schon verdampft. In der restlichen Brühe schwebten gargekochte Fleischfasern und Hautfetzen, sogar vereinzelte kleine Knochen wurden im Sog des Pumpenintervalls auf und ab bewegt.

Als Lin sich neben den Beckenrand kniete, um von da aus mit einem geeigneten Instrument einen der halb skelettierten Schädel aufzurichten, hielten es Jan und Bahlmann nicht länger in der Nähe des Pools aus. Sie zogen sich einige Meter weit in Richtung des Gartengrundstücks zurück. Ein Tatortfotograf versuchte Aufnahmen zu machen, ohne dabei mögliche Spuren zu zerstören, was sich als äußerst schwierig herausstellte.

Als er damit fertig war, nahm Robert seinen Atemschutz ab und rief: „Kann jetzt vielleicht jemand mal die Umlaufpumpe von dem Ding abstellen.”

Doch Lin hatte den zur Hälfte untergetauchten Schädel noch nicht vollständig aus dem Pool geborgen. Sie winkte heftig ab und erklärte: „Nein. Ich bin noch nicht fertig.” Ihre Stimme klang durch die Sprechmembran der Maske seltsam farblos. Dann versuchte sie weiter, mit ihrer Arbeit voranzukommen.

Robert sah hinüber zu Jan und gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er zu ihm kommen sollte. Jan folgte der Aufforderung nur zögerlich. Endlich hatte Lin den Schädel soweit aus der Brühe gefischt, dass jetzt die schemenhaften Gesichtszüge eines männlichen Kopfes erkennbar wurden, dem beide Augäpfel aus ihren Höhlen gequollen waren. Über beide Wangenpartien hatte sich die Gesichtshaut gelöst, so dass die mimische Muskulatur vollkommen freilag. Das Blitzlicht des Fotografen hielt diesen Augenblick in grellem Licht fest.

In unregelmäßigen Stößen durchdrang Roberts Atem die fast unerträgliche Stille. Qualvolle Sekunden spürte er fast gar nichts mehr.

Als Lin mit dem männlichen Schädel fertig war, beschäftigte sie sich mit der weiblichen Leiche. Die Frau war unbekleidet. Sie lag jetzt auf dem Rücken mit nach vorn zusammengeschnürten Armen in gekreuzter Haltung über dem Körper. An einigen Stellen war ihre Haut durch die lang anhaltende Hitzeeinwirkung und durch Verätzungen stark verfärbt. Auf ihren Beinen hatte sie sich bereits komplett abgelöst oder war nur noch durch wenige Faserreste mit ihrem Körper verbunden. Auf dem Gesicht hatte sich Waschhaut gebildet, die aufgequollen, geschrumpelt und grau aussah. Große Teile ihrer dunklen langen Kopfhaare schwammen auf der Oberfläche oder klebten in Büscheln am Beckenrand.

„Und jetzt muss ich noch die genaue Wassertemperatur bestimmen und ein paar Proben der Flüssigkeit entnehmen”, erläuterte Lin, „dann könnt ihr meinetwegen den Stecker ziehen.”

Über den Rand des Outdoor-Whirlpools hatte der Wind einige schmutzige Schaumkronen geweht. Die Windstöße hatten in der vergangenen Stunde spürbar an Intensität zugenommen, sodass Robert einen besorgten Blick hinauf zu den Baumkronen der Mooreichen richtete. Jan stand die Anspannung deutlich ins Gesicht geschrieben. Er wartete darauf, welche Anweisung ihm Robert erteilen würde. Ihm fehlte die Erfahrung, um über die richtige Vorgehensweise nachzudenken.

„Ich glaube nicht, dass wir hier draußen noch vor Einbruch der Dunkelheit fertig werden“, stellte Robert mit gesenkter Stimme fest. „Gehe bitte ins Haus und sage den Leuten von der Spurensicherung, dass sie ihre Arbeiten unterbrechen sollen. Diesen Job können sie auch morgen noch erledigen. Viel wichtiger ist es, das gesamte Gelände nach möglichen Spuren abzusuchen. Wenn erst der Orkan hier drüber hinweggefegt ist, wäre alles verloren.“

Jan war heilfroh darüber, nicht in die Arbeiten am Pool einbezogen zu werden. Er eilte sofort ins Haus.

Jetzt hatte sich vorsichtig auch wieder Polizeioberrat Bahlmann dem Whirlpool genähert. „Gibt es schon erste Hinweise über eine mögliche Todesursache?“

„Wie ein Badeunfall sieht es jedenfalls nicht gerade aus“, versicherte Lin. „Sehen Sie mal.“ Sie fischte mit einer Metallstange, an deren Ende eine Schlinge angebracht war, auf dem Grund des Beckens und hob dann zwei Beine, die mit einem Plastikbinder zusammengeschnürt waren, an die Oberfläche.

„Beide sind jedenfalls nicht freiwillig hier rein gestiegen. Da hat jemand nachgeholfen.“

Kai Bahlmann kämpfte mit sich und dem Inhalt seines Magens. Seine Augen starrten dabei unentwegt ins Leere. Und je heftiger er mit sich rang, umso fester presste er die Atemschutzmaske auf seinen Mund.

„Hier, nehmen Sie das“, sagte Robert und bot ihm eine Tube mit Eukalyptuspaste an. „Das sollten Sie sich unter die Nase reiben. Manchmal hilft´s, manchmal auch nicht.“ Doch Kai Bahlmann winkte ab.

„Ich hab was gefunden“, rief Lin den Männern zu.

Zeitgleich drehten sich die Köpfe zu ihr. Lin hatte mithilfe eines Siebes etwas vom Grund des Beckens geborgen. Sie deutete mit einem Handzeichen an, dass es sich wahrscheinlich um ein wichtiges Fundstück handeln könnte. Robert nahm das Sieb entgegen und puhlte aus dem Metallfilter einen runden und glänzenden Gegenstand. Es war eindeutig ein Ehering. Eilig streifte er die Atemschutzmaske vom Gesicht, setzte sich seine Lesebrille auf und betrachtete den Gegenstand. Er begann, eine Gravur auf der Innenseite zu entziffern: Hendrik & Sophia - 20.07.2002.

Bahlmanns Walkie-Talkie rauschte und eine weibliche Stimme meldete sich: „Polizeioberrat Bahlmann. Es gibt jetzt einen konkreten Anhaltspunkt. Wir haben den Hinweis eines Anwohners erhalten, der die zwei verdächtigen Personen am Brägeler Pickerweg beobachtet haben will, wo sie offenbar Zuflucht in einem alten Bauernhof gesucht haben. Der Bereich wurde von uns inzwischen umstellt und hermetisch abgeriegelt. Könnten Sie bitte sofort zum Einsatzort kommen?“ Kai Bahlmann bestätigte, dann wandte er sich an Robert: „Sie haben es gerade selber gehört. Ich muss sofort los.“ Er wollte sich schon abwenden, da fiel ihm doch noch etwas ein. „Was meinen Sie, Kommissar Rieken? Schaffen Sie und ihre Leute es noch die Beweisaufnahme abzuschließen, bevor der Sturm hier alles hinwegfegt?“

Robert ging nicht darauf ein und erklärte stattdessen: „Wenn Sie mir einige Ihrer Leute zur Verfügung stellen, könnte ich Ihnen vielleicht auf diese Frage eine definitive Antwort geben.“

„Ich werde Ihnen Polizeiobermeister Bloemer zur Seite zu stellen. Mehr geht nicht!“ Dann verschwand er durch die Terrassentür.

„So ein arrogantes Arschloch“, zischte ihm Robert hinterher.

Nordwest Bestial

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