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Auf der Grenzstation

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Auf der Grenzstation

Am nächsten Morgen waren wir in Russland.

* * *

Die Grenzstation, an der ich ausgeliefert wurde, war Granitza, jener Ort, wo die Grenzen der drei Kaiserstaaten zusammenstoßen. Da man mich alsbald nach Petersburg transportierte, war es ein gewaltiger Umweg, und ist wohl anzunehmen, dass diese sonderbare Route gewählt wurde, weil man befürchtete, es könnte an der Grenze ein Befreiungsversuch gemacht werden.

Das mochte umso näherliegen, als kurz vorher der polnische Sozialist Stanislaus Mendelsohn auf einer Grenzstation, Alexandrowo, wenn ich nicht irre, mit Hilfe seiner Freunde geflohen war, als ihn die preußische Polizei dort an Russland ausliefern wollte; er entkam glücklich nach der Schweiz.

(Stanislaw Mendelssohn: Am 18. November 1857 – einige Quellen zitieren fälschlicherweise 1858 – wurde in Warschau (Polen; damals Russisches Reich) der Journalist und propagandistische Anarchist und Nihilist und spätere sozialistische Politiker Stanislaw Salomon Naftali Mendelssohn geboren, zitiert Stanislas Mendelsohn, und auch bekannt als Aleksander Messin. Der Sohn einer assimilierten wohlhabenden jüdischen Familie, seine Eltern waren Voff Mendelsohn, ein Bankier, und Salomé Marguliès, und er war der Enkel des Philosophen Moïse Mendelsohn, Übersetzer von Jean-Jacques Rousseau und Cousin des Komponisten Félix Mendelssohn Bartholdy. Nach dem Abitur begann er mit 16 ein Medizinstudium an der Universität Warschau. Als er in seinem dritten Medizinjahr war, führte er mit anderen Studenten (Ludwing Warynski, Kasimir Dluski, Simon Dickstein) die sogenannte Polnische Sozialistische Bewegung (MSP), die mit Arbeitern interagierte, kleine Kreise bildete und Widerstandskästen gründete, die wurde die Basis der ersten illegalen Gewerkschaften, organisierte die ersten Streiks und verbreitete die sozialistische Formation unter einigen motivierteren Arbeitern. Er war ein Befürworter der Unabhängigkeit Polens von der Das Russische Reich – galt als einer der Theoretiker des „Sozialpatriotismus“ - und kollidierte mit den Postulaten der sozialrevolutionären Partei „Proletariat“, die die polnische Unabhängigkeit als unmittelbares Ziel des sozialistischen Kampfes ablehnte. Im März 1878 wurde er infolge seiner Beteiligung an Unruhen in den Straßen Warschaus von den zaristischen Behörden verfolgt und ging nach Österreich ins Exil, aus dem er ausgewiesen wurde, und übersiedelte 1878 in die Schweiz, wo er im November im folgenden Jahr gründete und finanzierte er die revolutionäre Zeitung in Genf Równość (Gleichheit), das bis 1881 andauerte und von Przedświt (1881-1883, The Dawn) und Walka Klas . fortgesetzt wurde (1884-1887, Klassenkampf). 1879 kehrte er nach Polen zurück, wo er Ende März 1880 mit 34 anderen Nihilisten in Krakau verhaftet wurde; versuchte, wurde er freigesprochen. Später ging er unter Tage nach Österreich, wo er verhaftet, vor Gericht gestellt und wegen illegaler Einreise zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde.)


Ich weiß mich noch ganz genau der Eindrücke zu erinnern, die ich damals empfing. Es war ein wunderschöner Maitag, und die liebe Sonne schien mir neue Kraft spenden zu wollen. Kaum hatte ich mit meinen deutschen Wächtern den Eisenbahnwagen verlassen, als mich eine Anzahl russischer Gendarmen umringte.

„Guten Tag, Herr Deutsch! Da wären Sie ja endlich; wir haben Sie schon immer erwartet und erwartet!“ begrüßten sie mich. Ich erblickte ringsum jugendfrische, lächelnde Gesichter russischer Bauernburschen, die in den verhassten dunkelblauen Uniformen steckten; ihr sorgloses Gebaren veranlasste, dass ich selbst ihnen zulächelte, als wenn es gute Bekannte wären, die mich da begrüßten.

„Woher kennt ihr mich denn?“ fragte ich auf dem Wege nach der Gendarmerieabteilung.

„O, freilich kennen wir Sie; wir haben schon viel von Ihnen gehört!“ riefen einige Stimmen. „Wollen Sie gleich Tee nehmen, oder wollen Sie sich zuerst den Staub abwaschen?“ fragten sie liebenswürdig und überboten sich an Eifer, mir gefällig zu sein.

Es war ein sonderbarer Kontrast in dem Verhalten meiner deutschen und russischen Wächter. Die letzteren benahmen sich sorglos und einfach, wenn man will, lag sogar etwas freundschaftlich Zutrauliches darin. Für die deutschen Polizisten war ich ein gar gefährlicher Schwerverbrecher, der sich unter falschem Namen verbirgt; sie hatten ihre Instruktion, die sie strikte befolgten, und alles übrige kümmerte sie nicht; nebenbei erhofften sie für den angestrengten Dienst eine Belohnung zu erhalten, wie ich unterwegs ihrem Geflüster entnahm, als sie glaubten, ich sei eingeschlafen. Für die russischen Gendarmen, die mit gewöhnlichen Verbrechern nie zu tun haben, war ich der „politische Verbrecher“, wie es bei uns heißt, der Staatsgefangene, dessen Name sie schon so oft gehört, dass sie mich als einen alten Bekannten betrachteten.

Ich war seit vier Jahren nicht in Russland gewesen, und die ersten Menschen, die mir begegneten, von denen ich die Laute der Muttersprache vernahm, waren Gendarmen. Es ist begreiflich, dass ich mich, obwohl Revolutionär, in der Gesellschaft der Gendarmen wohl fühlte. Wer als Uneingeweihter in den Raum hätte blicken können, wo ich am Tische vor dem dampfenden Samowar saß, mir den Tee schmecken ließ und mit den ringsumher stehenden Gendarmen plauderte, der hätte sicher gedacht, dass hier eine gemütliche Unterhaltung zwischen guten Bekannten stattfindet.

„Na, wie ist's denn im Ausland? Sicher nicht so schön wie bei uns, was?“ fragten mich die Burschen. Und ich erzählte, wie es im „Ausland“ sei, dass es dort unvergleichlich besser sei als wie bei uns daheim. Das wollten sie aber nicht glauben; wir stritten hin und her, wobei alle Anwesenden, zehn oder zwölf Mann, eifrig durcheinander schwatzten. Als das Thema erschöpft war, fragte wiederum ich, was es bei uns Neues gebe? wie es gehe? Und nun schilderten sie mir begeistert, wie ganz Russland vor kurzem die Feier der Mündigkeitserklärung des Thronfolgers, des jetzigen Zaren, begangen habe.

Die deutschen Polizisten hatten gegen Bescheinigung mein Gepäck und mich selbst abgeliefert und waren wieder abgezogen, wohl etwas enttäuscht, denn eine Belohnung war ihnen, wenigstens in Granitza, nicht ausbezahlt worden. – Nach einigen Stunden erschien ein Gendarmerieoffizier und befahl einigen der Leute, sich bereitzuhalten, um mich zu eskortieren, da ich mit dem nächsten Zuge weiter sollte.

Ich sah, dass er einem von ihnen das von den deutschen Polizisten übergebene Geld einhändigte. Ich zog also unbemerkt das russische Geld, das ich versteckt hatte, hervor und übergab es dem Offizier, da ich fürchtete, man könnte es bei einer sorgfältigeren Visitation finden. – Er war hocherstaunt und fragte, ob ich denn in Deutschland nicht visitiert worden sei? Dann befahl er nochmals, meine Kleider zu durchsuchen, was denn auch mit aller Gründlichkeit geschah. Aber das übrige deutsche Geld und die Schere fand man trotzdem nicht.

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Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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