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Staatsgeheimnis

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Staatsgeheimnis

In der Suite befand sich auch Kotljarewski; er blieb einen Augenblick zurück und sagte mir, dass er mit mir sprechen wolle, wenn der Minister fort sei; nach einiger Zeit wurde ich denn auch zu ihm in einen Raum geführt, der als Schulzimmer diente.

„Ich habe kein Verhör mit Ihnen anzustellen, sondern ich möchte einfach mit Ihnen plaudern, alte Erinnerungen auffrischen“, sagte Kotljarewski. Wir setzten uns auf eine der Schulbänke und waren bald in eifriges Gespräch vertieft.

An eine Bemerkung meinerseits anknüpfend, kam Kotljarewski auf die Frage zu sprechen, die ich bei unserer ersten Unterredung an ihn gerichtet hatte, warum man mich in die Peter-Pauls-Feste gesperrt hatte?

„Ja, sehen Sie, da kamen höchst wichtige Staatsinteressen in Erwägung“, meinte er. „Die Sache ist die: werden Sie vor ein gewöhnliches Gericht gestellt und nur wegen des Attentats gegen Gorinowitsch angeklagt, so werden Sie zu acht bis zehn Jahren nach Sibirien verdonnert. Das aber war nicht genehm in höheren Kreisen.“

Er betonte die letzten Worte scharf.

„Aber man kann doch gar nicht anders handeln!“ rief ich verwundert; „Deutschland hat doch an meine Auslieferung bestimmte Bedingungen geknüpft.“

„Na, das ließe sich schon machen! Wir sind jetzt mit Bismarck gut Freund; er würde uns schon den kleinen Gefallen erweisen. Man könnte ja zur Not die Sache so darstellen, dass Sie nach der Auslieferung ein Staatsverbrechen begangen haben. Da fällt mir übrigens ein: die Deutschen haben alle Notizen, die Sie sich im Freiburger Gefängnis gemacht haben, hergeschickt.“

Ich war im höchsten Grade erstaunt. Es fiel mir ein, dass ich in der Tat aus Langeweile in Freiburg dies und jenes niedergeschrieben hatte, Notizen, Pläne usw., aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie diese Blätter in die Hände der russischen Regierung gelangt sein konnten, da ich alle Manuskripte bei der Abreise vernichtet hatte. Wahrscheinlich verhielt sich die Sache so: während man mich spazieren gehen ließ, durchstöberte man meine Papiere und entwendete einzelne Blätter, die dann nach Russland geschickt wurden. Immerhin schien es mir unmöglich, dass man auf Grund solcher Aufzeichnungen eine neue Anklage konstruieren und den Auslieferungsvertrag mit Deutschland abändern könnte. Als ich dieses sagte, erwiderte mir Kotljarewski:

„Seien Sie unbesorgt, das bringt man schon fertig! Nichts wäre leichter, als eine Einwilligung Deutschlands zu erlangen, und dann würde man Sie nach Gebühr aburteilen. Leute, die weniger auf dem Kerbholz hatten als Sie, Malinka, Drebjasgin, Maidanski, sind längst hingerichtet. Und Sie? Aus dem Gefängnis sind Sie durchgebrannt, als man Sie wegen des Attentats gegen Gorinowitsch endlich erwischt hatte; dann haben Sie noch volle acht Jahre allerlei angestiftet, haben noch mit Stefanowitsch die Tschigiriner Verschwörung angezettelt usw. usw. Und diese vielen Geschichten sollen Ihnen jetzt nicht mehr als einige Jahre Zwangsarbeit einbringen? – das passte der Regierung nicht in den Kram! – Als man Sie also ausgeliefert hatte, wurde in den Höheren Kreisen eine besondere Beratung abgehalten. Ich war natürlich nicht dabei, ich zähle nicht zu den Auserwählten, aber man hat mir erzählt, was es dort gab. Anfangs waren alle einig, eine Änderung des Auslieferungsvertrages herbeizuführen, damit man Sie vor ein Ausnahmegericht stellen könne. Dann – Sie können es sich ungefähr denken – hätte man kurzen Prozess mit Ihnen gemacht! Aber einer von den Hauptpersonen kamen Bedenken, dieser Herr meinte: „Gut, Deutschland wird uns den Gefallen tun; ist das aber ein Vorteil für uns? Jetzt hat man den Deutsch abgefasst; morgen kann in irgendeinem anderen Lande ein noch viel besserer Fang gemacht werden. Dann dürfte es aber schwer werden, die Auslieferung des Betreffenden zu erlangen; die Presse wird Lärm schlagen, man wird behaupten, Russland respektiere die Verträge nicht, und wird sich auf das Beispiel mit Deutsch berufen? Diese Ansicht gewann die Majorität, und nur deshalb hat man beschlossen, die Anklage gegen Sie nur wegen des Attentats gegen Gorinowitsch zu erheben. Aus diesem Grunde nun hatte man Sie in der Peter-Pauls-Feste gelassen, bis der Beschluss feststand.“

Es ist möglich, dass Kotljarewski mir dieses „Staatsgeheimnis“ verriet, um mir die Zunge zu lösen: vielleicht aber hat er in der Tat dabei keine Hintergedanken gehabt, sondern aus freien Stücken aus der Schule geschwatzt. Im weiteren Verlaufe des Gesprächs berührte er die verschiedensten Dinge. Als unter anderem die Rede von den politischen Verfolgungen in Russland war, wies ich darauf hin, dass so oft absolut harmlose Menschen zu grausamen Strafen verurteilt werden.

„Was wollen Sie“, erwiderte er, „wo Bäume gefällt werden, gibt es Späne. Schon die alten Römer wussten: summa jus, summa injuria. Übrigens bin ich persönlich gegen die Todesstrafe. Ich sage mir: in einem großen Staate sind politische Verbrechen unvermeidlich; unter einer Bevölkerung von vielen Millionen muss es stets ein paar tausend Unzufriedene geben. Natürlich muss man gegen die Wühler vorgehen. Aber eine starke Regierung kann sie unschädlich machen, ohne zur Todesstrafe greifen zu müssen.“

Bei diesem Thema angelangt, fragte er dann scheinbar nebenbei, wie viel Terroristen nach meiner Meinung wohl noch in Russland vorhanden sein können? Ich antwortete, dass ich darüber nichts wisse, da ich selbst nicht der terroristischen, sondern der sozialdemokratischen Partei angehöre.

„Freilich, aber als ‚befreundete Macht’ werden Sie doch wohl annähernd über die Stärke der Terroristen orientiert sein. Ich glaube nämlich, dass es nur noch ganz wenige sein können“, meinte er.

In jener Zeit waren in der Tat nur noch sehr wenige aktive Terroristen in Russland übrig geblieben. Ich wollte aber Kotljarewski in seiner Meinung über die „befreundete Macht“ nicht bestärken und sagte ihm, dass meiner Schätzung nach „kaum einige tausend Terroristen vorhanden sein könnten, nicht mehr“.

„Wo denken Sie hin“, rief er, „das ist ganz unmöglich! Ich rechne höchstens ein paar hundert; in der letzten Zeit haben ja Massenverhaftungen stattgefunden.“

Ich widersprach ihm, was ihn zu ärgern schien.

Zu jener Zeit, das heißt im Sommer 1884, waren in dem Untersuchungsgefängnis eine Anzahl Personen inhaftiert, die verschiedener „Staatsverbrechen“ beschuldigt waren. Eines dieser „Verbrechen“, das die Verhaftung zahlreicher Personen in Petersburg, Moskau, vielen kleineren Städten und selbst in Sibirien veranlasst hatte, nannte Kotljarewski „die Affäre der alten Hosen“. Auf meine Frage erzählte er mir folgendes über diese Haupt- und Staatsaktion:

„Bei einer Haussuchung hatte man einen Zettel gefunden, auf dem die Namen jener Personen verzeichnet waren, die behilflich waren, die politischen Gefangenen mit Kleidern, Wäsche und ähnlichem zu versehen.

„Daraufhin hat man unzählige Personen verhaftet und versucht nun, einen großen Prozess anzuzetteln wegen des ‚Geheimbundes’ unter dem Namen ‚Das rote Kreuz der Narodnaja Wolja’“, fuhr Kotljarewski fort, wobei er offenbar auf die Gendarmerie anspielte. „Gendarmerie und Staatsanwaltschaft liegen sich nämlich oft in den Haaren und fechten manche Intrige gegeneinander aus. – Eine nette Verschwörung in der Tat, bei der es sich darum handelt. Gefangene mit gebrauchten Kleidern und Wäsche zu versehen! Ich nenne daher diesen Prozess ‚die Affäre der alten Hosen’. Ich habe mich jetzt damit zu befassen und versuche die Geschichte auf administrativem Wege zu erledigen.“ [Eine solche Erledigung könnte für die Beteiligten immerhin noch schlimm genug ausfallen. – „Auf administrativem Wege“ kann nämlich die Gendarmeriebehörde in Russland Leute einkerkern und für viele Jahre in die Verbannung nach Sibirien oder den „entlegenen Gouvernements“ schicken. Anmerkung des Übersetzers.]

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