Читать книгу Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien - Leo Deutsch - Страница 27

VI. Die Peter-Pauls-Feste

Оглавление

VI. Die Peter-Pauls-Feste

Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich sah, dass man mich nach diesem Kerker führte, den die Regierung der Zaren speziell für die Staatsverbrecher eingerichtet hat, den man von alters her in Russland nur mit Schaudern nennt. Düstere Gedanken waren es, mit denen ich ihm nahte, aber auch die Neugierde stellte sich ein. Ich wusste wohl, dass in dieser Feste ein grausiges Regime herrscht, aber ich war eigentlich neugierig, es persönlich kennen zu lernen. Die Wirklichkeit entsprach in der Tat meinen Vorstellungen.

Kaum hatte man mich in irgendeine Kammer gebracht, als der Verwalter des Kerkers, Gendarmerieoberst Lesnik, mir befahl, mich bis auf die Haut zu entkleiden. Ein paar Gendarmen untersuchten mich aufs sorgfältigste und reichten mir dann, statt meine Sachen, Gefängniswäsche und einen gestreiften baumwollenen Kittel, wie sie in den Krankenhäusern üblich sind, und ein Paar Pantoffeln. Meine eigenen Sachen dagegen wurden fortgeschafft. Dann wurde ich in eine Zelle im Erdgeschoss eingeschlossen.

Alles ging hier lautlos vor sich, ohne jedes Geräusch, ohne dass jemand ein Wort sprach. Es war, als ob hier nicht Menschen jahrelang lebten, sondern als ob man in einem Totenhause wäre. Einzig die Glockenschläge der Uhr unterbrachen die Stille, wobei jedes Mal die Nationalhymne erklang: „Ehre, Ehre sei dir, russischer Zar.“

Die Zelle war geräumig, aber finster, da das Fenster ganz oben an der Decke sich befand; es war kalt hier, trotzdem es im Mai war; die Sonne drang hier niemals herein, und die Wände waren feucht. Außer der eisernen Bettstelle mit Strohsack, Kissen und dünner Baumwolldecke war ein gleichfalls eiserner Tisch und ein Sitzbrett vorhanden, beides an die Wand geschmiedet, und der übliche, einen Gestank ausströmende „Kübel“. Schon gegen 3 Uhr nachmittags herrschte hier Dunkelheit, obgleich in diese Zeit in Petersburg die bekannten „Hellen Nächte“ fallen, wo es überhaupt nicht dunkel wird. Vor allem aber machte sich die Kälte entsetzlich fühlbar, die wohl der Lage der Zelle zuzuschreiben war, besonders aber der unzureichenden Kleidung. Um mich zu erwärmen, marschierte ich bis zur vollsten Erschöpfung hin und her von einem Winkel in den anderen; kaum aber setzte ich mich auf einige Minuten nieder, so fror ich am ganzen Körper. Auch im Bette fühlte ich dieselbe durchdringende Kälte, weil die Decke gar zu luftig war. – Die Kost bestand aus einem Laib Kommissbrot von ungefähr zwei Pfund und dem Mittagessen aus zwei Gerichten, die nicht schlecht waren, doch war es zu wenig, und dazu waren die Speisen immer kalt, weil sie weit hergebracht wurden. Als Untersuchungsgefangener hätte ich mir aus eigenen Mitteln eine bessere Verpflegung verschaffen können, aber lange Zeit war es nicht möglich, weil die Gendarmen, die mich hergebracht, mein Gepäck und das Geld dem Gendarmerieoffizier übergeben hatten, und dieser hatte es an das Polizeidepartement abgeliefert. Am schlimmsten jedoch war, dass auch meine Brille auf diese Weise fehlte und ich somit nicht lesen konnte, was ebenfalls den Untersuchungsgefangenen gestattet wird. Es wurden mir daher die Tage und auch die Nächte unendlich lang. Ich versuchte alles Mögliche, um mir Beschäftigung zu verschaffen; ich versuchte Rechenexempel zu lösen, natürlich „Kopfrechnen“, weil Schreibzeug nicht bewilligt wurde, ich erzählte mir selber Geschichten und frischte alle Erlebnisse aus. Schließlich verfiel ich darauf, eine Zeitung „herauszugeben“. Wenn ich morgens aufgestanden und mich gewaschen hatte, aß ich ein Stück Brot, und dann „las ich meine Zeitung“. Erst kam natürlich ein „Leitartikel“ über eine höchst aktuelle Frage, dann die „Rundschau“, „Stadtnachrichten“, das „Feuilleton“ usw. Aber nach einigen Tagen war natürlich der Stoff erschöpft, und die „Spalten meiner Zeitung“ wurden recht uninteressant, dabei konnte dieses „Lesen“ nicht den ganzen Tag ausfüllen; übrigens war ich auch bei Nacht oft wach, weil die Kälte mich nicht einschlafen ließ; so lief ich denn auf und ab, auf und ab wie ein Tier in seinem Käfig.

Die Spaziergänge brachten gleichfalls keine Abwechslung in das ewige Einerlei, weil sie nur jeden zweiten Tag stattfanden und sehr kurz dauerten: die Zeit zum Einkleiden und Auskleiden eingerechnet – es wurden die eigenen Kleider zu diesem Zwecke hereingebracht – nur eine Viertelstunde. Dabei fanden sie in einem von hohen Mauern eingeschlossenen Gefängnishofe statt, wo natürlich zu dieser Zeit außer Gendarmen und Schildwachen niemand zu sehen war. Mit den wachthabenden Gendarmen das geringste Gespräch anzuknüpfen, auch nur auf die einfachste Frage eine Antwort zu erhalten, war absolut unmöglich. Was man auch fragen mochte, sie starrten einem direkt ins Gesicht und schwiegen.

Nach einigen Tagen fand ich jedoch einige Beschäftigung; ich vernahm ein leises und schwaches Klopfen, das irgend weither an der Wand vernehmbar war. Als ich einige Jahre vorher im Gefängnis saß, hatte ich gelernt, mich dieses Verständigungsmittels zu bedienen, und das verabredete Alphabet fiel mir sofort ein. [Für den deutschen Leser sei bemerkt, dass es sich um ein altes, von allen Staatsgefangenen oft angewendetes Mittel handelt. Die Buchstaben des Alphabets werden in eine bestimmte Anzahl Reihen gruppiert, zum Beispiel:

a b c d e f

g h i k l m

n o p r s t

u v w x y z

Man bildet also Worte, indem man jeden einzelnen Buchstaben durch eine Anzahl Schläge an die Wand bezeichnet, und zwar bezeichnet man erst durch die Zahl der Schläge die horizontale Lage, in welcher der Buchstabe steht, dann seinen Platz in dieser Reihe. Um zum Beispiel das Wort „ich“ zu bezeichnen, klopft man zweimal, kurze Pause, dreimal, längere Pause; einmal, kurze Pause, dreimal, längere Pause, zweimal, kurze Pause, zweimal. Eine langwierige Prozedur, aber Eingekerkerte haben Zeit im Überfluss; ganze lange Erzählungen werden auf diese Weise mitgeteilt. Nicht nur die Zellennachbarn können sich derart verständigen, sondern der Schall ist oft in weitabgelegene Zellen, wenn sie eine gemeinsame Mauer haben, hörbar. Der Übersetzer.]

Es ist schwer, meine Freude zu beschreiben, als ich die wohlbekannten Laute vernahm und glaubte, dass sie mir galten. Aber ich sollte mich bitter täuschen. Als ich durch Klopfen antworten wollte, sah ich alsbald, dass es nicht mir galt, sondern dass zwei Freunde sich hier unterhielten und auf meine Versuche, mich ihnen „vorzustellen“, nicht antworteten. Dieses Klopfen war in der Feste streng verboten, und die beiden wollten einen dritten, ihnen Unbekannten nicht in ihre Gesellschaft aufnehmen, weil sie fürchteten, bloßgestellt und der Möglichkeit, miteinander zu verkehren, beraubt zu werden. Ich musste mich darauf beschränken, zuzuhören, was sich die beiden in ihren kurzen Gesprächen mitzuteilen hatten. Es waren stereotyp wiederkehrende Sätze: „Guten Tag!“ – „Wie hast du geschlafen?“ – „Was treibst du?“ – worauf die Antwort erfolgte: „Guten Tag!“ – „Gut.“ – „Trinke Tee.“ Aber selbst um den Austausch derart nichtiger Phrasen beneidete ich die beiden. Ich erfuhr nicht einmal, ob da ein Mann und eine Frau miteinander sprachen oder zwei Männer.

Ich weiß nicht genau, wie lange es dauerte, bis ich zum ersten Mal verhört wurde, aber es sind sicher acht bis zehn Tage gewesen. Bis zu diesem Tage hatte man mich, seit ich in Russland war, nicht nur nicht verhört, sondern man hatte nicht einmal nach meinem Namen gefragt. Wie eine Sache, wie ein Postpaket, das von auswärts kam, wurde ich mit den entsprechenden „Begleitscheinen“ von einer Hand in die andere gegeben, ohne dass man sich für meinen Namen interessierte. Die Gendarmen schienen zu wissen, dass ich den Namen Buligin angenommen hatte, während ich in Wirklichkeit Deutsch sei; aber was ich eigentlich verbrochen, wussten meine Schutzengel nicht und schienen sich auch nicht dafür interessiert zu haben. In der Peter-Pauls-Feste bedurfte es auch eigentlich keines Namens; man redete mich hier in unpersönlicher Form an, oder richtiger, man redete überhaupt nicht, man verständigte sich einfach durch Gebärden.

* * *

Der Staatsanwalt als Landsmann

Eines Morgens wurden mir meine Kleider gebracht. Ich glaubte, es handle sich um den üblichen Spaziergang, wurde aber in ein Zimmer geführt, wo an einem mit blauem Tuche bedeckten Tische drei Herren in der Kleidung der Justizbeamten saßen. Mir wurde ein Stuhl angeboten, und einer der Beamten erklärte mir, er sei der Untersuchungsrichter „für besonders schwere Fälle“ am Petersburger Gerichtshof, Olschaninoff, dann stellte er den einen seiner Genossen als den Staatsanwalt Murawjeff [Den jetzigen Justizminister.] vor; den Namen des dritten erfuhr ich nicht.

Es begann das Verhör. Auf die Frage nach meinem Namen usw. antwortete ich sofort wahrheitsgemäß. Ich war bereits vorher zu dem Schlusse gekommen, dass ich nichts mehr zu verlieren und nichts zu hoffen hatte. Dann erzählte ich den wirklichen Verlauf des Attentats gegen Gorinowitsch, wobei ich natürlich keinen Namen Unbeteiligter nannte und nicht im geringsten versuchte, mich zu entlasten; ich wusste, dass ich niemand mehr helfen und noch weniger schaden konnte, wenn ich die volle Wahrheit sagte, weil alle irgend verdächtigen Personen, wie bereits erwähnt, schon fünf Jahre vorher abgeurteilt waren; mich selbst konnte ich ebenso wenig belasten wie entlasten, meine Strafe war ja von vornherein durch die Bedingungen der Auslieferung, die zwischen Russland und Baden vereinbart waren, bestimmt. Es blieb mir also nur übrig, im Interesse der historischen Wahrheit diese Episode unserer Bewegung richtig darzustellen. Das glaube ich auch erreicht zu haben.

Während des Verhörs, das der Untersuchungsrichter leitete, stellte auch der mir unbekannt gebliebene Beamte Fragen an mich. Es ging mir mit diesem Manne ähnlich wie mit Professor Thun in Freiburg – ich erkannte ihn nicht sofort; später zeigte es sich, dass ich ihn von Kiew her kennen musste, wo er 1877 in meinem Prozesse eine Rolle spielte; sein Name war Kotljarewski. Damals war er Vertreter des Staatsanwalts, jetzt bekleidete er den gleichen Posten am Appellationsgerichtshof in Petersburg, wo er speziell die politischen Prozesse zu leiten hatte. Obwohl dieser Mann bei den Revolutionären im schlechtesten Rufe stand und auch mit einem Attentat von Osinski und Genossen (im Februar 1878) bedroht wurde, freute ich mich gewissermaßen, ihm hier in der finsteren Peter-Pauls-Feste zu begegnen, es war immerhin ein bekanntes Gesicht, ein Landsmann aus Kiew. Auch er verhielt sich freundlich gegen mich, und bald hatten wir ein Gespräch angeknüpft und erzählten uns unsere Erlebnisse in den letzten Jahren. Um den Untersuchungsrichter, der unterdessen das Protokoll aufsetzte, nicht zu stören, setzten wir uns abseits nieder und plauderten in aller Gemütlichkeit. Er bemerkte, dass ich mich stark verändert hätte, seit wir uns zuletzt gesehen. „Nicht nur äußerlich, meine ich, aber auch Ihr Charakter hat sich stark verändert“, sagte er.

Das mochte stimmen. Als sehr gescheiter und durchtriebener Mensch zeichnete sich Kotljarewski stets durch scharfe Beobachtung aus, und diese Eigenschaft wusste er vorzüglich bei den politischen Prozessen auszunützen.

„Erinnern Sie sich, was für ein Hitzkopf Sie damals waren? Wie Sie einmal mir beinahe ein Tintenfass an den Kopf geworfen hätten?“

Ich konnte mich dieses Vorfalls noch genau erinnern und merkte sofort, warum er darauf zurückkam. Es handelte sich darum, dass ich während meiner Haft in Kiew im höchsten Grade nervös erregt war, furchtbar heftig und reizbar, und zum Teil aus diesem Grunde, zum Teil als Mitglied der „Buntari“ speziell daran festhielt, dass bei jeder Gelegenheit die Kampfesstellung gegen alles, was Behörde heißt, kundzugeben sei; da kam es einmal zu einem Zusammenstoß zwischen mir und Kotljarewski: er bestand darauf, dass ich das Protokoll unterschreibe, was ich unbedingt verweigerte. In höchster Wut ergriff ich das Tintenfass und war bereit, es ihm an den Kopf zu werfen, wenn er mich nicht in Ruhe ließe. Er bemerkte meine Absicht, bewahrte aber seine Ruhe, rief den Schließer und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Als der Mann sich eiligst entfernte, glaubte ich, der Staatsanwalt lasse die Wache holen, um mich in den Karzer zu sperren. Wie groß aber war meine Verwunderung und Freude, als nach einigen Minuten die Tür sich öffnete und mein Freund Stefanowitsch auf der Schwelle stand, der im gleichen Gefängnis saß, ohne dass ich ihn bisher hätte sehen können. Es war eine ungemein freudige Überraschung für uns, als wir einander erblickten.

„Haben Sie die Güte, Ihren Kameraden zu beruhigen“, wandte sich Kotljarewski an Stefanowitsch, „seine Nerven scheinen überreizt zu sein.“

Schon damals lernte ich die Gewandtheit des Mannes schätzen und sagte ihm jetzt, er habe mich in Kiew gentlemanlike behandelt, was ihm sehr angenehm zu sein schien.

Im Verlaufe des Gesprächs drückte ich ihm meine Verwunderung darüber aus, dass, obgleich ich von Deutschland als gemeiner Verbrecher ausgeliefert sei, man mich nach der Peter-Pauls-Feste gebracht hatte, wo doch bekanntlich nur Staatsverbrecher gehalten werden.

„Auch begreife ich nicht“, fügte ich hinzu, „warum man mich nach Petersburg gebracht hat, während doch die Tat, deren ich angeklagt bin, in Odessa stattgefunden hat, und dem Gesetze nach hat der Prozess dort stattzufinden, wo die Tat begangen wurde.“

Darauf gab mir Kotljarewski keine Antwort. Dagegen versprach er, sich dafür zu verwenden, dass mir die Möglichkeit geboten werde, mich aus eigenen Mitteln zu beköstigen, er würde darüber mit dem Direktor des Polizeidepartements Plehwe sprechen.

Kurz darauf wies mir Oberst Lesnik eine bequemere Zelle im ersten Stockwerk an und behandelte mich auch sonst fortan etwas besser. Zwei Tage nach jenem Verhör teilte er mir mit, dass mein Geld und mein Gepäck aus dem Polizeidepartement eingetroffen seien und ich mir jetzt Lebensmittel und Tabak anschaffen könne. Ich freute mich besonders darauf, dass ich meine Brille erhalten würde.

* * *

Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

Подняться наверх