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Der Gendarmerie-Oberst

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Der Gendarmerie-Oberst

Als ich auf und ab wanderte, bemerkte ich an dem Guckloch an der Tür einen Offizier, der mich unablässig beobachtete.

„Darf man zu Ihnen?“ fragte er schließlich, zögernd das Guckfensterchen öffnend.

„Eine sonderbare Frage! Ich bin hier nicht bei mir, sondern bei Ihnen!“

Die Tür ging auf, und verbindlichst lächelnd trat ein junger Mann in der Uniform eines Gendarmerieobersten ein.

„Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle: Oberst Iwanoff“; er machte eine Verbeugung und schlug klirrend die bespornten Hacken aneinander.

„Ich verstehe Sie wirklich nicht! Wollen Sie mir, bitte, sagen, wo ich mich eigentlich befinde? Wozu man mich hergeführt hat?“

„Hier ist das Büro der Gendarmerieverwaltung; man hat Sie hergebracht, um Sie zu verhören, und wird Sie wohl bald zum Staatsanwalt führen. Ich dagegen möchte nur mit Ihnen plaudern und alte Erinnerungen auffrischen; wir haben viele gemeinsame Bekannte.“

„Woher kennen Sie mich denn?“ fragte ich verwundert.

„Aber ich bitte Sie“, rief er lächelnd, „es gibt wohl in ganz Russland kaum einen intelligenten Menschen, der Sie dem Namen nach nicht kennen würde!“

Der Herr schien sich selbst also der „Intelligenz“ zuzuzählen, jener Schicht der russischen Gesellschaft, die gerade zu jener Zeit in den besten russischen Zeitschriften gegen die reaktionäre Strömung sich verteidigen musste. In Anbetracht der russischen Pressverhältnisse war es sogar üblich, wenn man von den Revolutionären sprach, sie harmlos als „die Intelligenz“ zu bezeichnen.

„O, wir haben viele gemeinsame Bekannte“, fuhr der Oberst fort. „Ich habe alle Ihre Genossen gekannt: Malinka, Drebjasgin, Maidanski. Ich war früher Gendarmerieadjutant in Odessa und habe sie dort alle kennen gelernt. Das waren wirklich prächtige Menschen!“

Jetzt begriff ich, warum dieser Herr trotz seiner Jugend bereits Oberst in dem Gendarmeriekorps der Hauptstadt war. Die großen politischen Prozesse gegen Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre boten vielen Gendarmerieoffizieren und Staatsanwälten Gelegenheit, schnell vorwärts zu kommen. Leben und Freiheit der „Staatsverbrecher“ waren der Preis, um die sie Karriere machten. Wahrscheinlich hatte auch dieser Herr keine geringe Rolle bei der Verurteilung meiner Genossen zum Tode und zu Zwangsarbeit gespielt, derselben Menschen, denen er jetzt Lob spendete! Vielleicht war er der Urheber des genialen Gedankens, mit Hilfe des Verräters Kurizin den Opfern Fallen zu stellen. [Kurizin war infolge des Attentates gegen Gorinowitsch verhaftet worden und wurde zum Verräter, was jedoch die übrigen Verhafteten nicht wussten. Man schloss ihn mit den Verhafteten in eine Zelle, damit er sie aushorche. Auf diese Weise hat er einige Leute den Henkern ausgeliefert, andere mussten seinen Verrat mit vielen Jahren Zwangsarbeit in Sibirien büßen. Soviel ich weiß ist er jetzt irgendwo als Tierarzt angestellt.]

Die Unterhaltung mit dem liebenswürdigen Obersten kam nicht recht in Fluss, und ich war froh, als man mich rief.

* * *

Leo Deutsch: Sechzehn Jahre in Sibirien

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