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VIII

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In der Schule lief es auf einmal erstaunlich gut. Dank Vonnes Nachhilfe schrieb Jo in Latein seit Jahren das erste Mal wieder in einer der letzten Klassenarbeiten eine Vier, genauer gesagt sogar eine Vier plus. In Deutsch beschäftigten sie sich bei Hotzenplotz mit dialektischen Erörterungen und mit Camus. Auch hier sah er plötzlich Licht am Ende des Tunnels. Die anderen Fächer hatte er ebenfalls weitgehend im Griff.

Der Klassenlehrer machte in der Oberstufe auch wieder einen sehr bemühten Eindruck. Es war seine erste Abiturklasse und er hatte mittlerweile begriffen, dass er als junger Assessor möglichst eine Blamage vor dem gesamten Kollegium vermeiden sollte. Das ging aber nur, wenn er seine Klasse erfolgreich durchbrachte. Dazu musste ein Burgfriede geschlossen werden. Nach dem Psychoterror bei der Versetzung war sich die Oberprima aber einig darin, nicht wieder auf den Pseudo-Verbrüderungsweg zurückzukehren. In dem Maße, wie die Klasse eine kühle Distanz zu Hotzenplotz bewahrte, steigerte sich sein Bemühen um Einvernehmen und Anerkennung. „Hans-Joachim, in Ihren aktuellen Leistungen sehe ich Potenziale, die bisher noch völlig im Dunkeln lagen. Da wächst ja richtig etwas heran.“ Jo nuschelte darauf zurück, dass er sich in der Vergangenheit auch sowieso immer verkannt und völlig falsch eingeschätzt gefühlt hätte. Noch vor ein paar Wochen hätte er sich solch einen Wortbeitrag vor versammelter Klasse wohl nicht zugetraut.

Einmal war er nachmittags wieder bei Vonne gewesen, zunächst um mit ihr Latein-Übersetzungen zu üben. Aber dann kamen sie noch auf die Deutsch-Hausaufgabe zu sprechen: Eine Interpretation zu Camus „Der Gast“. Jo hatte sich noch nicht damit beschäftigt. Er musste die Geschichte zunächst kurz überfliegen. Der Sinn des Ganzen und die Absicht des Autors waren ihm sofort klar. „Bezugnehmend auf den Existenzialismus geht es um die Verdammung des Menschen zur Freiheit, mit der er alleine gelassen ist, die Freiheit, die ihn dazu verdammt, etwas Sinnvolles zu tun. Es geht auch um Dilemmata und ihre Überwindung durch solidarisches Handeln.“ Zwischenzeitlich hatte Jo Vonnes Anwesenheit fast vergessen. Er hatte mehr als fünf Minuten lang geredet, und sie hatte an seinen Lippen gehangen. Als er fertig war, hatte sie ihre Hand auf seine Schulter gelegt und gesagt: „Mann Jo, langsam verblüffst du mich.“ Da war er wieder rot geworden und hatte sich schnell verabschiedet.

Auch mit Manuela ging es einen ganz entscheidenden Schritt voran. Es war so Mitte März, als sie ihn freitags auf dem Schulhof plötzlich ansprach, ob er sie nicht am Sonntag zur Diskothek abholen wolle. In der nächsten Woche würde ihre Mutter mit ein paar Freundinnen nach Paris fahren und da hätte sie mal endlich wieder frei. Natürlich sagte er sofort zu.

Am Sonntagmittag hatte er seinen Fiat sauber gemacht, so gut wie das bei der alten Schrottkarre gerade noch möglich war. Gegen den Muff in den Sitzpolstern hatte er eine halbe Dose Haarspray von seiner Mutter im Wageninneren versprüht. Das sich daraus ergebende neue Geruchsgemisch brachte eine Veränderung, wenn die Raumluft auch nicht unbedingt besser wurde. Pünktlich um Viertel vor vier klingelte er an ihrem Bungalow in Langenheide. Sie öffnete sofort und meinte, er solle noch kurz reinkommen, sie sei noch nicht ganz fertig.

Was er dann so in dem Haus wahrnahm, war auch wieder eine völlig neue Erfahrung für ihn. Schon der Flur war in ein gleißendes Weiß getaucht. Der Boden war mit blankweißen Marmorfliesen bedeckt, die so sauber wirkten, als ob man von ihnen problemlos hätte essen können. Eine offene Tür gab den Blick frei auf eine ebenso weiße Einbauküche, in der auch nicht ein Teller oder eine Tasse rumstanden. Alles wirkte wie auf einem Foto aus „Schöner Wohnen“. „Geh doch noch kurz ins Wohnzimmer, bin gleich sofort fertig“, sagte Manuela und öffnete eine dicke Eichentür am Ende des Flures. Was er dann als Wohnzimmer sah, entsprach zwar nicht dem Stil bei Yvonnes Elternhaus, war aber auf eine andere Art und Weise ebenfalls beeindruckend. Ein bestimmt fünf Meter langer Eichenschrank beherrschte die Wandseite. In der Ecke befand sich eine kleine Bar, ebenfalls aus Eiche mit einem kleinen Baldachin darüber, mit bestimmt zwanzig verschiedenen Spirituosen. Davor standen vier Barhocker. In der Mitte befand sich eine wuchtige Sitzgruppe mit Brokatstoff auf einem dicken Perserteppich. In der anderen Ecke sah Jo eine große Musiktruhe und daneben einen gewaltigen Fernseher. Darüber hing ein großes Ölgemälde mit einer Alpenlandschaft im Frühlingslicht. Das am meisten beeindruckende war aber die gegenüberliegende Fensterfront, die den Blick auf die Terrasse mit einer Hollywoodschaukel freigab. Die war bestimmt acht Meter lang und bestand aus Glaselementen, die von der Decke bis auf den Boden reichten. Jo schaute in den Garten auf einen Erdhügel im Hintergrund. Da kam Manuela herein und sagte: „Da ist Papas neuestes Projekt; er will ein Schwimmbecken bauen.“

Wenn Jo dieses Haus mit seinem bescheidenen Elternhaus verglich, dann konnte er sich kaum vorstellen, Manuela mal dorthin mitzunehmen. Das würde vermutlich für sie ein Kulturschock werden. Und er merkte, dass er begann, sich für diese einfachen, von schlichten Notwendigkeiten geprägten Lebensumstände zu schämen. Seine Großeltern betrieben noch eine Feierabendlandwirtschaft; da gab es noch Kühe, Schweine und einen Misthaufen auf dem Hof.

Manuela sah umwerfend aus. Statt des sonst üblichen Pferdeschwanzes trug sie ihr Haar jetzt offen. Die mittelblonden Locken fielen fast bis auf die Schultern. Sie hatte einen leicht glänzenden Lippenstift aufgelegt und roch dezent nach Parfüm. Zu einer schwarzen weiten Hose trug sie eine rotkarierte Bluse. „Du siehst toll aus“, entfuhr es Jo spontan. „Danke“, antwortete sie, wobei beide leicht erröteten - mal wieder. Er hatte auch ein neu erstandenes Rasierwasser aufgelegt, von Pino Silvestre.

In der Schützenhof-Diskothek waren sie beide dann größtenteils zusammengeblieben. Er hatte sie zu einer Cola eingeladen. Seine Gitanes hatte sie verweigert und lieber die eigenen Peter Stuyvesant geraucht. Sie hatten auch ein paar Mal getanzt. Es klappte jetzt besser bei ihm. Er hatte sich zu Hause mit dem Kofferradio vor den Spiegel gestellt und geübt. Dann kam „Tous les garcon et les filles“ von Francoise Hardy. Das war so ein typischer Klammerblues, und es war eines von Jo´s Lieblingsliedern. Hatten sie bisher noch offen getanzt, so nahm er sie jetzt in den Arm. Zunächst blieben sie noch etwas auf Distanz, aber das änderte sich ziemlich schnell. Sie kamen sich von beiden Seiten näher und ihre Oberkörper berührten sich beim Tanz. Dann legte sie ihren Kopf an seine Schulter und er konnte ihr Haar riechen. Mit beiden Händen drückte er ihren Körper noch etwas enger an sich, dabei berührte er den Verschluss ihres BHs. So standen sie mittlerweile eng umschlungen auf der Tanzfläche und bewegten sich im Rhythmus der Musik nur wenig. Als das Stück zu Ende war, standen sie noch eine Weile so. Dann lösten sie sich voneinander, schauten sich in die Augen und lächelten beide etwas verlegen. Aber niemand von beiden wurde jetzt rot.

Jetzt kamen wieder schnellere Stücke. Manuela war zur Toilette gegangen, und Jo hatte sich zu der Gruppe von Jungs aus seiner Klasse gesellt. Martin, der Mann vom BGS war auch wieder da. Jo hatte sich in der Zwischenzeit die Unterlagen zur Bewerbung schicken lassen und hatte dazu noch ein paar Fragen an den Experten. Martin war nach wie vor davon überzeugt, dass das eine wirklich sinnvolle Alternative zum Bund sei. Jo war eher skeptisch, dachte aber vor allem an das Geld, das er dort mehr bekommen könnte. Denn dass er wohl bald seinen Einberufungsbescheid bekommen würde, daran hatte er mittlerweile keinen Zweifel mehr.

Jo hatte nicht mitbekommen, dass Manuela mittlerweile wieder zurückgekommen war. Das hatte Jens ausgenützt. Er hatte sie abgefangen und versuchte, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Dieses süße kleine Häschen würde er zu gerne vernaschen. Jo schien ihm dabei kein ernst zu nehmender Gegner zu sein, trotz der Zärtlichkeiten auf der Tanzfläche, die ihm natürlich nicht entgangen waren. Aber sie ließ ihn einfach stehen und kehrte zu Jo zurück.

Als die Disko wie immer gegen Sieben zu Ende ging, waren sie wie selbstverständlich gemeinsam nach draußen gegangen. Jo hatte Manuela galant in die Jacke geholfen und ihr die Beifahrertür beim Einsteigen aufgehalten, so wie er das in amerikanischen Kinofilmen gesehen hatte. Die Tür hatte er dann allerdings dreimal zuschlagen müssen, bevor sie richtig einrastete. „Starkes Gefährt“, hatte Manuela dazu gemeint. Aber es klang nicht gehässig oder herablassend sondern durchaus liebenswert. „Der Innengeruch ist noch verbesserungsfähig. Aber bis zum neuen Porsche sind es nur noch wenige Schritte“, hatte Jo darauf geantwortet. Und auch das klang so, dass es nicht ganz ernst gemeint war.

Als sie in Langhorst vor dem Bungalow von Manuelas Eltern ankamen, war sie noch sitzengeblieben. Jo hatte versucht, das Seitenfenster herunterzukurbeln. Aber das Ding war festgerostet. Er hatte sich dann zu Manuela herübergebeugt und das Beifahrerfenster heruntergedreht. „Zur Verbesserung der Atmosphäre“, hatte er dazu gesagt. Dabei hatte er sie berührt. In dieser Stellung war er dann verblieben und hatte ihr in die Augen geschaut. Und sie hatte seinem Blick standgehalten. So schauten sie sich lange in die Augen, ohne dass es ihnen lang vorgekommen wäre. Dann hatte Jo sich nach vorne gebeugt und ihre Lippen berührt. Ganz locker lagen ihre Lippen aufeinander. Jo hatte tief durchgeatmet und ihren angenehmen Duft eingesogen. Dann hatten sie sich wieder angeschaut – sehr lange.

Es war einer der ersten Frühlingstage des Jahres. Es dämmerte gerade und die Außenluft war lau. Die Vögel zwitscherten ihr Feierabendkonzert. Jo beugte sich ein zweites Mal nach vorne, berührte Manuelas Lippen wieder. Dann küssten sie sich ganz zart, nur ihre Zungenspitzen berührten sich. Jo wurde es ganz warm, und er spürte, dass es Manuela ebenso ging. „Das ist ein schöner Tag“, flüsterte Jo. „Ja, finde ich auch“, hauchte sie zurück. Dann stieg sie aus. Natürlich schloss die Beifahrertür wieder nicht richtig. Jo stieg ebenfalls aus und schlug sie mit Schwung zu. „Bis morgen in der Schule!“ „Bis morgen.“

Er fuhr nach Hause, mit einer Geschwindigkeit, die der alte Motor noch gerade so hergab, so an die Hundert. Das Seitenfenster war immer noch unten, und der einströmende Wind brachte die alte Kiste zum Vibrieren.

„Tous les garçons et les filles de mon âge se promènent dans la rue deux par deux, tous les garçons et les filles de mon âge savent bien ce que c'est d'être heureux; et les yeux dans les yeux et la main dans la main. Ils s'en vont amoureux sans peur du lendemain oui mais moi, je vais seule par les rues, l'âme en peine, oui mais moi, je vais seule, car personne ne m'aime.“ Jo wusste, dass er kein begnadeter Sänger war. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Es war auch mehr ein Schreigesang, der aus ihm heraus musste. „Je ne suis pas seul – jamais!“ schrie er in den Flatterwind.

Zu Hause sagte er zu seiner Mutter, dass er keinen Hunger mehr habe. Er müsse noch lernen. Dann legte er sich in seinem Zimmer auf sein Bett und schaute an die Decke, ohne an irgendetwas zu denken. „Les yeux dans les yeux et la main dans la main. “ Er hatte das Gefühl, seit sehr langer Zeit mal wieder glücklich zu sein – oder vielleicht sogar das erste Mal in seinem ganzen Leben.

Hey Joe

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