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XIV

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Der 22. Juli sollte der letzte Tag für den Abiturjahrgang 1967 am Leibniz-Gymnasium in Lüdecke sein. Dafür waren zwei Veranstaltungen geplant. Am Vormittag dieses sonnigen Samstags fand in der Aula des Gymnasiums die feierliche Verabschiedung mit der Übergabe der Zeugnisse statt. Am Abend sollte der Abschlussball im Schützenhof folgen.

Jo hatte sich auf Drängen seiner Mutter doch in den blauen Anzug gezwängt und eine Krawatte umgebunden. Eigentlich war ihm eher nach seinem schwarzen Rollkragenpullover gewesen. Das wäre eine Provokation der gesamten feierlichen Versammlung gewesen. Aber Jo war im Augenblick auch nach Abgrenzung zu diesem Haufen von Spießern zumute. Seine Eltern hatten angedeutet, dass sie doch sehr stolz auf ihren Sohn waren, und ihnen zuliebe hatte er dann auf einen entsprechenden Auftritt verzichtet. Gemeinsam waren sie zu dritt in Papas Kadett nach Lüdecke gefahren und Jo merkte, dass Vater und Mutter aufgeregt waren - im Gegensatz zu ihm selbst.

Er stellte nach der Ankunft fest, dass sich auch alle anderen Jungs in Schale geworfen hatten mit Anzug und Krawatte. Die jungen Damen trugen dunkle Kleider oder Kostüme. Alle wirkten erwachsen und ernst. Hotzenplotz verteilte an jeden von ihnen eine Schärpe in rotweiß, den Stadtfarben von Lüdecke. So marschierten sie dann unter den Klängen des Schulorchesters in die voll besetzte Aula ein. „Telemann“, flüsterte Yvonne, die auch wirklich alles zu wissen schien. Jo war beeindruckt, denn er wäre sicherlich nicht in der Lage gewesen, Telemann von Beethoven zu unterscheiden.

Der Chef, Dr. Weiser, hielt dann eine Entlassungsrede, bei der er sich direkt an die „lieben Abiturientinnen und Abiturienten“ wandte. Die Inhalte seiner Ausführungen waren aber nicht unbedingt die Sprache, mit der er zu ihnen vordringen konnte. Jo hörte auch nicht richtig zu, als Weiser aus Briefen Mozarts zitierte, in denen es um die Aufnahmefähigkeit und –bereitschaft für geistige Güter ging. „Das Fehlerhafte liegt nicht in dem, was uns begegnet, sondern in dem, wie wir es aufnehmen und weitergeben.“ „Naja“, dachte Jo so bei sich, „da gibt es bei unseren Lehrern sicherlich noch reichlich Verbesserungsbedarf bei der Weitergabe“. Weisers Rede wollte kein Ende nehmen und Jo dachte an seine Eltern, die von diesem humanistischen Geschwafel vermutlich überhaupt nichts verstehen würden.

Danach kamen die üblichen Grußworte von Schulsprecher, Bürgermeister und Schulpflegschaftsvorsitzenden. Dann sprach auch noch Yvonnes Vater, in welcher Funktion auch immer. Er meinte, aus den Abiturienten würden sich die zukünftigen Eliten des Landes rekrutieren. „Führen Sie unsere Gesellschaft in eine bessere Zukunft“, so sein Credo, mit dem er bei den Erwachsenen brausenden Applaus erntete. Jo fand sich mittlerweile auch schon ganz gut, aber mit dem Begriff der Elite konnte er für sich persönlich nichts anfangen. Dann kam die Zeugnisausgabe. Jeder wurde einzeln aufgerufen, musste nach vorne auf die Bühne kommen und erhielt vom Klassenlehrer das Abi-Zeugnis. Als Jo zu Hotzenplotz kam und der ihm seine feuchte Hand zur Gratulation gab, dachte er nur ganz kurz „Arschloch“. Ob dieser Gedanke sich noch auf seine Zunge übertrug, konnte er hinterher nicht mehr genau nachvollziehen, aber im Prinzip hätte er keine Hemmungen gehabt, dem Assessor ins Gesicht zu sagen, was er von ihm hielt. Zum Abschluss gab es dann noch die Buchprämien für die Klassenbesten. Es bestand von vorneherein kein Zweifel, dass in der OIs dieser Preis an Yvonne ging, die einen Schnitt von 1,3 hatte und damit das beste Zeugnis des gesamten Jahrgangs.

An dieser Stelle der Verabschiedungen dankten die Schüler üblicherweise ihren Klassenlehrern für die Betreuung mit einem Blumenstrauß. Auf den langen Feiernächten hatte man in der OIs heiß diskutiert, wie man mit Hotzenplotz in dieser Situation umgehen solle. Da war ja noch eine Rechnung offen; das hatte niemand aus der Klasse vergessen. Ohne dass hinterher noch klar war, wer der Urheber der Idee gewesen war, fanden alle die gefundene Lösung genial. Yvonne war ausgeguckt worden, Herrn Studienassessor Mönkeberg eine Blume zu überreichen. Allerdings handelte es sich dabei um einen stattlichen Kaktus der Art Echinocactus Grusonii, der auch Schwiegermutterstuhl genannt wird. Der war mindestens dreißig Zentimeter hoch und wog ein paar Kilo. Für den Ladenpreis hätte man vermutlich einen Riesenstrauß Blumen bekommen. Aber den Spaß war die Angelegenheit wert. Yvonne begann: „Herr Mönkeberg, zwei Jahre im Leben eines Menschen können als ein kurzer oder auch ein langer Zeitraum empfunden werden. Uns in der Prima kam die Zeit in der Schule schon sehr lang vor. Sie waren in dieser Zeit unser pädagogischer Mentor und Begleiter. Für beide Seiten war es ein Novum. Das Abitur machten wir zum ersten und vermutlich einzigen Mal; und sie waren zum ersten Mal Klassenlehrer einer Abi-Klasse. In der Rückschau können beide Seiten wohl feststellen, dass man Manches anders hätte angehen können. Als Abschiedsgruß überreichen wir Ihnen dieses wundervolle Gewächs. Was es symbolisieren soll überlassen wir Ihrer Fantasie. Uns wurde versichert, dass es in seiner unnahbaren Schale sehr robust und langlebig ist. Manchmal soll es bei guter Pflege auch herrliche Blüten hervorbringen und seinen Besitzer damit erfreuen.“ Dann übergaben Jutta und Jo den Topf mit dem Kaktus an Hotzenplotz, dessen Gesichtsfarbe mittlerweile ins Dunkelrote gewechselt hatte. Jo spielte einen Augenblick mit dem Gedanken, bei der Übergabe etwas zu wackeln, damit das Teil nach vorne überkippte. Aber er ließ es dann doch. Der Lehrer war dermaßen überrascht, dass ihm spontan keine angemessene Reaktion dazu einfiel. Er sagte nur – ziemlich kurz angebunden: “Das ist aber eine Überraschung, herzlichen Dank.“ Dann stand er mit der großen stacheligen Pflanze in den Händen etwas unglücklich da. Die Schülerinnen und Schüler der OIs umringten ihn, schwiegen dabei süffisant und genossen diesen Augenblick. Für Hotzenplotz schien er sich quälend lange hinzuziehen, aber genau das war die Absicht gewesen.

Danach ging die gesamte Gesellschaft auf den Pausenhof, wo man vom Hausmeister bereitgestellte Sektschalen in Empfang nahm. Jo sah Manuela mit ihrer Mutter. Seit der Abi-Prüfung hatten sie sich nicht mehr gesehen. Jo ging auf sie zu und wollte sie küssen. Aber sie wehrte ab. „Nicht hier“, flüsterte sie. Manuelas Mutter stand mit den Eltern von Jens zusammen. Man schien sich zu kennen. Jo sah, dass seine eigenen Eltern alleine auf dem Schulhof standen. Vermutlich kannten sie niemanden hier. Er ging zu ihnen. Seine Mutter hatte einen Fotoapparat mitgebracht, der normalerweise für Urlaubsfotos benutzt wurde. Jo bat einen anderen Schüler, ein Foto von sich zwischen Vater und Mutter zu schießen. Beide wirkten doch jetzt ziemlich glücklich. Aber sie wollten dann doch schnell nach Hause zurück.

Um zwanzig Uhr begann der Abi-Ball im Schützenhof. Traditionell war das eine Veranstaltung für Lehrer, Abiturienten und deren Eltern in einem feierlichen Rahmen. Das bedeutete zunächst eine festliche Kleidung und ein Auftreten, das diesem Anlass nach allgemein herrschender Auffassung gerecht wurde. Dieser letzte Aspekt hatte wohl die Begründung dafür geliefert, dass Jo´s Eltern nicht mitkamen. „Junge, was sollen wir da, das ist nicht unsere Welt“, hatte seine Mutter etwas resignierend geäußert. Sein Vater hatte mal wieder geschwiegen. Jo hatte das akzeptiert; im Prinzip war es ihm auch egal. Sein Vater hatte ihn dann mit dem Auto zum Schützenhof gefahren. Über die Rückkehr machte Jo sich noch keine Gedanken.

Es war ein sonniger Sommerabend. Die Gäste standen noch im Garten hinter dem Schützenhof und redeten. Eltern und Lehrer beäugten sich dabei gegenseitig. Jo machte drei der Herren aus, die einen Smoking trugen, Oberstudiendirektor Dr. Weiser, Oberstudienrat Steinkamp und natürlich der Professor, Yvonnes Vater. Jo sah derartige Kleidungsstücke zum ersten Mal im Original. Diese glänzenden Streifen an den Hosen sahen schon lustig aus, dazu noch die breite Schärpe um den Bauch. Jürgen erklärte ihm, dass das ein Kummerbund sei, ein notwendiges Accessoire für den Herren von Welt. Der Professor hatte eine Gruppe von Eltern um sich geschart und hielt mal wieder eine Rede. Seine Frau, die ein vermutlich sündhaft teures, eng anliegendes Kleid trug, lächelte nur in die Runde. Von Jürgen hatte Jo erfahren, dass Frau Doktor sich lediglich mit dem Titel ihres Mannes schmückte. Sie war dem Professor in einem Kriegslazarett als Krankenschwester begegnet und hatte ihn dann nicht mehr aus ihren Fängen gelassen. Das hatte Jürgen von seinem Vater gehört, der es wohl wissen musste. Jo stellte für sich fest, dass in der Oberschicht hinter der schönen Fassade auch nicht alles glänzte. Da wurde auch nur mit einfachem Wasser gekocht.

Zunächst saßen die Abiturienten mit ihren Eltern an runden Tischen mit weißen Decken und Tischschmuck. Jürgen hatte Jo eingeladen, an den Tisch zu seinen Eltern zu kommen. Die kannten Jo mittlerweile ganz gut und schienen ihn auch zu akzeptieren. Der Vater hatte eine Flasche Moselwein bestellt. Wein war zwar nicht unbedingt Jo´s Lieblingsgetränk, aber zu diesem Anlass konnte er sich mal überwinden. Aus der Tanzstunde wusste er noch, dass es sich gehört, das Weinglas nur unten am Stiel anzufassen. Dann ging es an das kalte Buffet. Es gab diverse Salate, Hähnchenbrust und Forellenfilets, gefüllte Tomaten und Eier und natürlich Käsesticker. Dafür hatte auch jeder Schüler zwanzig Mark gezahlt. Die Lehrer mussten nichts bezahlen, wurden traditionell eingeladen. Das war allerdings im Vorfeld schon auf erhebliche Kritik der Schulsprecher gestoßen.

Gegen halb zehn wurden dann die Tische etwas zur Seite gerückt und die Tanzphase begann. Das Talmann-Trio spielte hauptsächlich Schlager der fünfziger Jahre, war wohl ein Zugeständnis an die ältere Generation. Zunächst tanzten die Väter mit ihren Töchtern und die Mütter mit ihren Söhnen, dazu die Lehrerehepaare. Hotzenplotz war auch anwesend mit seiner Angetrauten. Jetzt wurde den Schülern klar, warum der immer mit ihnen die Arbeitsgemeinschaft in die Kneipe verlegen wollte. Seine Frau war so ein völlig unscheinbares, blasses Wesen mit einer trutschigen Hochsteckfrisur und einer flachen Brust. Die sah aus, als ob sie im Kirchenchor singen würde. Geschah ihm recht.

Steinkamp war auch mit seiner Frau da. Die übertraf allerdings alle Erwartungen. Eine brünette Schönheit in einem engen schwarzen Seidenkleid und hochhackigen Schuhen. Steinkamp und sie tanzten ununterbrochen und machten dabei einen ziemlich verliebten Eindruck. Es schien als ob die Dame mit einem französischen Akzent sprach. Die beiden kümmerten sich nicht viel um den Rest der Gesellschaft, insbesondere nicht um die anderen Kollegen. Jo beobachtete die Szene von der Biertheke aus, wo er sich erst einmal ein paar kühle Blonde reinzischte. Dann musste er aber auch ran, wurde von Jule und Jutta zum Tanz aufgefordert. Mit seinen eingeschränkten Fähigkeiten von Foxtrott und langsamen Walzer rettete er sich einigermaßen über die Runden.

Vereinbarungsgemäß packte das Talmann-Trio gegen halb eins die Instrumente ein. Das war für die Eltern und den größten Teil der Lehrer auch der Zeitpunkt sich zu verabschieden. Dann wurde schnell die Diskothek aufgebaut, und eine der Jugend gemäße Musik in einer angemessenen Lautstärke machte sich breit. Die Abiturienten hatten mittlerweile die Stimmung mit Hilfe diverser alkoholischer Getränke aufgehellt. Auch Jo wurde unter diesem Einfluss ziemlich locker und tanzte wie ein Wilder. Es war ziemlich warm geworden, und Jackett und Krawatten lagen in der Ecke. So gegen drei Uhr ging die Party zu Ende. Die Mitglieder der OIs traten ihren vermutlich für lange Zeit oder auch immer letzten gemeinsamen Gang durch Lüdecke an. Man ging noch mal am Leibniz-Gymnasium vorbei, und alle hatten trotz oder vielleicht auch wegen des gehobenen Promillegehaltes sentimentale Gefühle. So fühlte sich also das Ende der Jugend an. Vor der Aula stimmte dann jemand noch ihren Abi-Song an, „What a wonderful world this would be“ – und alle sangen mit, ganz schön sentimental.

Nach und nach verabschiedeten sich die einzelnen Klassenmitglieder und zweigten ab nach Hause. Jedes Mal gab es ein herzliches Umarmen. Als Yvonne abbog, drückte sie Jo besonders lange und fest. Dann küsste sie ihn ziemlich heftig auf den Mund. „Mach´s gut. Ich werde dich vermissen“, flüsterte sie ihm ins Ohr und ging dann, ohne sich umzudrehen. Am nächsten Tag sollte sie für ein paar Monate nach Philadelphia fliegen.

Jo blieb schließlich als einziger übrig. Jürgen hatte ihm angeboten, bei ihm zu übernachten. Aber er genoss es, in die aufgehende Sonne hinein die fünfzehn Kilometer beschwingt nach Hause zu gehen. Das war ein glücklicher Tag gewesen. Gegen halb acht morgens war er dann an den Bauernhöfen von Langhorst vorbei bei seinem Elternhaus angekommen. Die Oma war gerade aufgestanden, und sie tranken zusammen einen Kaffee, bevor Jo mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen einschlief.

Hey Joe

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