Читать книгу Hey Joe - Leon Lichtenberg - Страница 7
V
ОглавлениеEr hatte heute seine Stadtkleidung an, seine Levis-501 und einen schwarzen Rollkragenpullover. Sein Ziel war der städtische Schützenhof. Dort hatten zwei Jungs aus seiner Parallelklasse in einem Nebenraum eine Sonntagnachmittags-Diskothek eingerichtet. Dabei handelte es sich um eine neue Form der Freizeitgestaltung für junge Leute, die vom Rest der Stadt mit einem gewissen Argwohn wahrgenommen wurde. Selbst im Westfälischen Anzeiger hatte ein Reporter namens Heinrich Harrer ein paar Wochen zuvor gewarnt: „Im Schützenhof wird sonntags der Niedergang der deutschen Kultur geprobt. Das Abspielen von Schallplatten mit obszöner Negermusik in extremer Lautstärke soll der deutschen Jugend das Gehirn vernebeln. Wilde Verrenkungen der Körper, die auch nicht im Entferntesten als Tanzen bezeichnet werden können, verstoßen dabei gegen Sitte und Anstand. Es kann dem Stadtrat nur empfohlen werden, hier möglichst schnell einen Riegel vorzuschieben, um den Verfall der Sitten zu stoppen, bevor es zu spät ist.“ Dieser Artikel hatte aber nur dazu geführt, dass die Attraktivität der Veranstaltung gestiegen war. Sonntags um vier war der kleine Saal rappelvoll hauptsächlich mit Pennälern, und der Wirt vom Schützenhof machte ein gutes Geschäft.
Jo betrat den ziemlich verrauchten Raum. Er war schon gut gefüllt. Die meisten Leute kannten sich vom Gymnasium. Einige Tanzpaare twisteten zu Chubby Checkers” Let´s twist again”. Es wurde nur englischsprachige Musik gespielt, Aktuelles von den Beatles, den Rolling Stones oder den Beach Boys. Jo mochte eher den härteren Sound der Stones, „Get off of my cloud“ oder „Under my thumb“. Er bestellte sich eine Cola und ging zu einer Gruppe von Jungs aus seiner Klasse. Das Tanzen war nicht gerade seine Leidenschaft. Er hatte das Gefühl, dass es bescheuert aussah, wenn er sich nach der Musik bewegte. Die Tanzschule mit vierzehn direkt nach der Konfirmation hatte es nicht geschafft, aus ihm einen Tänzer zu machen. Auch die Übungen zu Hause vorm Spiegel hatten daran nicht viel ändern können. Auf der Tanzfläche der dörflichen Zelt- und Saalfeste war er dann immer schüchterner geworden. Damit sah er seine Chancen bei den attraktiven Mädchen ziemlich eingeschränkt, was ihn wiederum ärgerte. Auch jetzt wieder, wo er in einer Ecke den Pferdeschwanz von Manuela entdeckte. Wie gerne hätte er sie angesprochen, aber er traute sich nicht.
Stattdessen quatschte er mit Jürgen und Jule. Es gab aktuell zwei Hauptthemen, die alle beschäftigten: Das Abitur und das Danach. Das mit der Schule lief gerade für Jo erstaunlich gut. Er hatte sich fest vorgenommen, für die letzten paar Monate noch mal richtig Gas zu geben und einen guten Notendurchschnitt zu erreichen. Man konnte ja nie wissen, wofür es vielleicht einmal gut sein sollte. Aber er war sich sicher, dass es schon klappen würde mit dem Abi.
Aber was sollte danach kommen? Für die meisten Mädchen war die Sache klar. Die kamen fast alle aus bürgerlichen Elternhäusern. Melissa sah sich als Künstlerin, sie bewarb sich bei der Folkwangschule in Essen. Yvonne wollte Medizinerin werden wie ihr Vater. Jule wollte auf gar keinen Fall Juristin werden wie ihr Vater, sie dachte an ein Psychologiestudium. Marlies hatte sich als Stewardess bei der Lufthansa beworben. Und Jutta vom Bauernhof wollte Lehrerin werden, für Deutsch und Englisch.
Bei den Jungs sah alles ganz anders aus. Da stand der Bund zunächst als große schwarze Mauer vor der grenzenlosen Freiheit. Und das Thema war, wie man sich möglichst klein machen konnte, um ungesehen drum herum zu kommen - oder oben drüber oder drunter her. Der einzig Glückliche in Bezug auf den Bund war Günter. Der hatte mindestens fünf Dioptrien auf jedem Auge und eine Brille wie zwei Brenngläser. Er selbst hatte dazu bemerkt: „Maulwürfe nehmen sie nicht beim Bund“. Gut, tauschen wollte deshalb aber auch niemand mit ihm. Günter wäre am liebsten Förster geworden, aber er meinte, das ginge auch nicht, wenn man den Keiler in der Dämmerung nicht kommen sieht. Er wollte dann in Hannover Tiermedizin studieren.
„Ich werde mich wohl nach Berlin davonmachen“, meinte Uwe. „Wenn du da erst mal bist und bis fünfundzwanzig bleibst, dann können sie dich nicht mehr packen. „Aber was ist, wenn du mal nach Hause auf Besuch kommen willst?“ „Ist kein Problem, du meldest dich um und wirst West-Berliner Bürger. Die brauchen nicht zum Bund. Da kannst du auch mal zu Besuch nach Westdeutschland kommen.“ „Da hab ich aber was ganz anderes gehört. Da sollen schon Jungs an der Grenze in Helmstedt abgefangen worden sein, die dann gleich in der Kaserne landeten“. „Ich jedenfalls fahre in den Osterferien nach Berlin, such mir eine Bude und melde mich schon mal vorsorglich dort an“. Uwe war sich seiner Sache schon ganz sicher. „Dann wird´s aber nichts mit Sommersemester in Kiel und im Winter nach Freiburg“, stellte Jo lakonisch fest. Insgeheim bewunderte er Uwe wegen seiner Tatkraft.
Jetzt lief gerade ihr Lieblingssong: “Wonderful world” von Sam Cooke. Den hatten sie sich zum Mottolied für ihr Abi auserkoren; passte gut in das momentane Gesamtbild:
„Don't know much about history
don't know much about biology
don't know much about science book
don't know much about the french I took.
But I do know that I love you
and I know that if you loved me too.
What a wonderful world this would be.
Don't know much about geography
don't know much trigonometry
don't know much about algebra.”
don't know what a slide rule is for.
But I know that one and one is two
and if this one could be with you.
What a wonderful world this would be.
Sofort standen alle auf der Tanzfläche, schwenkten die Arme und grölten den Text mit. „What a wonderful world this could be“. Sogar Jo hatte sich auf die Tanzfläche begeben und etwas ungelenk zu der Musik bewegt. Mit einem Auge schielte er dabei nach Manuela. Die war aber mit einem anderen Jungen intensiv in ein Gespräch vertieft. Vertraulich legte der seine Hand dabei auf ihre Schulter. „Wenn sich da mal nicht etwas anbahnte“. Jo wurde innerlich unruhig. Als nächstes kam „Yellow submarine“ von den Beatles und alle waren wieder an die Theke gegangen.
„Bei uns in Langhorst sind ein paar Jungs in der Freiwilligen Feuerwehr, die brauchen auch nicht zum Bund“, nahm Jo den Gesprächsfaden wieder auf. „Ja, aber dafür ist es schon zu spät; die müssen sich schon vor der Musterung für acht oder zehn Jahre zum Dienst an der Spritze verpflichten.“ „Und anschließend haben sie ´ne Saufleber. Ne, das kannst du vergessen.“ „Aber es gibt einen Ersatzdienst. Wenn du zur Polizei gehst, brauchst du auch nicht zum Bund.“ „Du willst doch wohl nicht etwa Bulle werden, nur damit du nicht zum Bund musst?“ Nein, da boten sich auch keine sinnvollen Lösungen an. Berlin schien der einzig gangbare Weg zu sein, aber das lag mitten in der Ostzone.
Da kam Jens rein. Er war nicht alleine, Martin war dabei. Der war eine Klasse über ihnen gewesen und hatte sein Abi schon in der Tasche. „Ich kann nicht lange bleiben, gleich geht es wieder ab in die Lüneburger Heide. Um zehn Uhr heute Abend ist Zapfenstreich.“ „Hält dich der Bund auch fest in seinen Klauen?“ „Nee, ich bin nicht beim Bund, ich bin beim BGS!“ Was is ´n das, hab ich noch nie gehört. Erzähl mal.“ Plötzlich stand Martin im Mittelpunkt. Tat sich da eventuell doch noch ein neuer Weg auf?
Martin erzählte: „BGS ist die Abkürzung für Bundesgrenzschutz; das ist so ein Mittelding zwischen Bundeswehr und Polizei. Die Buschisten wohnen in Kasernen, hauptsächlich an der Grenze zur Ostzone. Die gucken, was die da drüben so machen. Laufen dafür Grenzstreife. Hin und wieder gibt es auch mal Alarm, wenn einer von drüben getürmt ist.“ „Und wie kommt man dahin zum BGS, und wie lange muss man das machen?“ Das Interesse der Jungs war geweckt. Man musste sich erst einmal bewerben und eine Aufnahmeprüfung machen. Wenn man genommen wird, muss man wie beim Bund für achtzehn Monate dort Dienst tun. „Das Problem sind die Standorte. Die sind fast alle an der Grenze in Niedersachsen, da wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Am Freitagnachmittag kannst du nur ganz schnell nach Hause flüchten. Aber statt der neunzig Mark Wehrsold beim Bund bekommt man beim BGS satte vierhundert netto von Anfang an.“ Das war natürlich schon ein Argument, wenn man die anderthalb Jahre in jedem Fall opfern musste. Das Interesse von Jo und Jürgen war geweckt; sie ließen sich von Martin eine Adresse vom BGS in Hannover geben.
Jetzt kam schon zum zweiten Mal „Patapata“ von Miriam Makeba. Das war im Augenblick der Hit. Verstand zwar niemand, war Musik aus Afrika, hatte aber echt Schwung. Jo tanzte sogar dazu. Dann kam „Sloop John B“ von den Beach Boys. Jetzt kam er echt in Fahrt und vergaß seine Bewegungsprobleme dabei sogar für ein paar Momente. Er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, tanzte Manuela neben ihm mit diesem aufdringlichen Typen. Er schaute sie an und sie schaute zurück, ihm direkt in die Augen. Er meinte, sogar einen Anflug eines winzigen Lächelns erkannt zu haben. Schon pochte sein Herz etwas schneller.
Gegen sieben Uhr war die Disco zu Ende. Dann mussten die beiden Discjockeys ihre Schallplattenanlage wieder abbauen. So war die Abmachung mit dem Wirt vom Schützenhof. Nach und nach begaben sich alle auf den großen Parkplatz vor dem Schützenhof und plauderten noch in kleinen Gruppen. Jo und Jürgen verabredeten, in den nächsten Tagen noch einmal intensiver über die Sache mit dem BGS zu sprechen. Und dann sah Jo das Pferdeschwänzchen von hinten – und es stand ganz alleine da.
„Du wohnst doch in Langenheide, nicht wahr?“ Jo war gerade so gut drauf, dass es ihn keine große Überwindung kostete, Manuela einfach so anzusprechen. „Das liegt auf meinem Weg nach Hause, da kannst du gerne mit mir mitfahren“, machte er ihr ein Angebot. „Eigentlich warte ich auf meinen Papa, der wollte mich hier um sieben abholen“, antwortete sie, wobei er zu seinem großen Erstaunen ebenfalls eine leichte Röte auf ihren Wangen entdeckte. „Wir können ja noch zehn Minuten warten, und wenn dein Papa dann immer noch nicht aufgetaucht ist, setze ich dich bei dir zu Hause ab.“ Mit dieser tollen Idee hatte er erst einmal ein wenig Zeit gewonnen. Er bot ihr eine Zigarette an, und sie qualmten eine Weile still vor sich hin. „Schon toll hier diese Disco“, durchbrach Jo die Stille, merkte aber sofort, dass das auch nicht gerade ein verbaler Geistesblitz gewesen war. „Von mir aus können wir jetzt fahren“, schob er deshalb hinterher. Manuela willigte tatsächlich ein. Sie meinte, ihr Vater hätte sie bestimmt vergessen.
So gingen sie dann zu seinem Fiat. Dazu sollte allerdings erwähnt werden, dass Jo dieses Auto kurz vor dem Schrottplatz noch abgefangen hatte. Der Motor lief zwar noch ganz ordentlich, aber das Blechkleid war doch schon arg ramponiert. An den Türen wechselte sich der blässlich-mintgrüne Lack mit größeren Rostflecken ab. Weitaus problematischer aber war, dass auf der Fahrerseite so gut wie kein Bodenblech mehr vorhanden war. So musste sich der Fahrer mit einer halben Drehung auf den Sitz plumpsen lassen, dann die Beine hinterherziehen und anschließend die Füße sofort auf Gas und Bremse stellen. Jo beherrschte diese besondere Stellung problemlos, auch noch bei höherem Alkoholpegel. Auf diese Weise war im Laufe der Zeit von unten und auch noch von oben durch das nicht mehr ganz dichte Schiebedach Feuchtigkeit in das Auto eingedrungen, und Muff hatte sich in den Polstern eingenistet. „Die Karre riecht nicht so lecker, du musst die Scheibe etwas runterkurbeln“, entschuldigte sich Jo. Manuela kicherte als ob sie noch nie in solch einer alten Kiste gesessen hätte. Die Fahrt verlief dann weitgehend schweigend. Jo zermarterte sich den Kopf, was er wohl Sinnvolles sagen könnte, aber ihm fiel nichts ein. „Woher weißt du denn, dass ich aus Langenheide komme“, fragte sie plötzlich. „Als ich noch kein Auto hatte und mit dem Bus fuhr, habe ich dich dort immer aussteigen sehen.“ Jo merkte, wie ihm bei dieser Antwort schon wieder deutlich warm wurde. Das mit dem Bus stimmte zwar, aber in Wirklichkeit hatte er auch noch im Telefonbuch nachgesehen, wo sie wohnte.
In Langenheide hatte Manuelas Vater einen Baustoffhandel. Auf der einen Seite der Straße war eine umzäunte Lagerfläche mit Steinen, Sand und Kies und einer Lagerhalle, auf der anderen Seite stand ein nagelneuer weißer Bungalow. Und daneben standen der schwarze zweihunderter Mercedes von Manuelas Vater und ein weißes Karmann-Ghia-Cabriolet. Vor dem Benz hatten zwei Männer jeweils ein Bein auf die chromblinkende Stoßstange gestellt. Mit einer Bierflasche in der Hand stützten sie sich auf dem Oberschenkel ab und unterhielten sich angeregt. Wie sich herausstellte, war der Linke mit Lederjacke und Pepita-Hut Manuelas Vater. „Oh Kindchen, gerade als ich losfahren wollte, kam der August und wollte noch was bestellen. Und dann haben wir uns verquatscht. Ich wäre aber sofort losgefahren“, wandte sich der Baustoffhändler an seine Tochter. „Ist nicht so schlimm, Hans-Joachim hat mich mitgenommen, der fuhr hier sowieso lang“, säuselte Manuela. „Nett von dir, Junge! Willst du auch ein Bier?“ Er hielt Jo seine große Pranke hin und zerdrückte seine Hand fast, solch einen festen Griff hatte er. „Nein danke, ich muss jetzt auch nach Hause fahren“, beeilte sich Jo, der keine Lust auf ein Elterngespräch hatte. „Hallo Mutti.“ Manuelas Mutter erschien in der Haustür. Sie sah ein wenig aus wie eine Ärztin, mit hochhackigen Schuhen, einem dunklen Rock, von dem man nur die unteren zehn Zentimeter sah und darüber einem weißen Kittel. Mit ihrer blonden Dauerwelle sah sie aus wie die Schwester von Doris Day. Sie wirkte sehr gepflegt im Gegensatz zu dem Vater, der gut auf den Bau passte. Jo gab ihr die Hand zur Begrüßung und verabschiedete sich auch sofort. „Wir sehen uns ja morgen in der Schule“, sagte er noch zu Manuela und brauste dann ab. Mit Verwunderung hatte er registriert, dass sie ihrem Vater gegenüber seinen Namen genannt hatte. Sie schien doch mehr über ihn zu wissen als er vermutet hatte.