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IV
ОглавлениеSamstagabend hatte Jo sich wie üblich für die Dorffreizeit in Schale geworfen. Das bedeutete, weißes Nyltesthemd mit goldfarbenen Manschettenknöpfen, rote Krawatte mit schwarzen Punkten, blauer zweireihiger Blazer und graue Wollhose mit Bügelfalte. Das war die Dienstkleidung für das ländliche Wochenende. So war er zum Letzten Heller gefahren, wo die anderen Jungs von Tura auch nach und nach eintrafen. Man spielte einige Runden Kicker und dann einige Knobelrunden. So gegen halb elf teilte sich die Truppe. Ein Teil wollte zu einem großen Festsaal ins Nachbardorf fahren, wo Manuela sang. „Schuld war nur der Bossanova“ fand aber nicht ungeteilte Zustimmung. Jo mit seinen über die dörfliche Kultur hinausgehenden Musikkenntnissen meinte, man könne gar nicht genug trinken, um diese Musik gut zu finden.
Didi hatte schon angedeutet, dass es heute Abend wieder Party gab. Er hatte seit einigen Monaten eine feste Freundin. Selbst hätte er das zwar nie so bezeichnet, aber eigentlich entsprach es der gängigen dörflichen Sichtweise. Das hieß dann: „Die gehen miteinander“ und war die Vorstufe der Verlobung. Das Verhältnis zu Monika war zwar nicht so eng, dass er ständig bei ihr hockte, aber nach außen wurden sie als Paar wahrgenommen, auch weil sie ihn sonntagnachmittags auf dem Fußballplatz anfeuerte. Das machten nur wenige Frauen im Dorf. Monikas Vater züchtete Brieftauben. Deshalb war er mit seiner Frau häufig über das Wochenende mit dem Reisetaubenverein unterwegs. Er fuhr den großen grauen Taubenbus ein paar hundert Kilometer weit weg, damit die Rennfahrer der Lüfte dann auf dem schnellsten Weg wieder zurück in ihren heimatlichen Schlag kehrten. Monika, die eine kaufmännische Lehre machte, war dann alleine zu Hause und machte eben Party. Das lief immer nach einem ähnlichen Schema ab. Zunächst waren fünf oder sechs Freundinnen gekommen. Jede hatte eine Flasche Kirsch-Whisky oder Cola-Rum mitgebracht, ein paar Schachteln Zigaretten und Schallplatten. Im Wohnzimmer stand eine Musiktruhe. Dort hatten sie es sich gemütlich gemacht, das heißt, Musik gehört, geraucht, getrunken und getratscht.
Man muss dazu sagen, dass es für die Mädchen auf dem Lande nicht so ganz einfach war, für die Jungs übrigens auch nicht. Wenn so ab sechzehn die Jungs den Mädchen an die Wäsche wollten, so mussten sich diese erst einmal geschickt dagegen wehren, auch wenn sie es gerne zugelassen hätten. Wer auf dem Schützenfest oder dem Sportlerball allzu sehr rumknutschte oder hinter dem Festzelt in eindeutigen Positionen erwischt wurde, hatte schnell den Ruf eines Flittchens weg. Und damit waren die Chancen auf eine dauerhafte Beziehung schon stark eingeschränkt. Der übliche Ablauf einer Eheanbahnung lief wohl seit mehr als hundert Jahren so ab, dass ein verliebtes Paar irgendwann die Hemmungen ablegte und sie schwanger wurde. Beim Friseur konnte man zwar auch Pariser kaufen, aber das trauten sich nur die verheirateten Kerle. Da der Friseur auch gleichzeitig die dörfliche Nachrichtenzentrale war, hätte es sofort Gerede gegeben. Schwangerschaft bedeutete, dass geheiratet werden musste.
Der evangelische Pastor traute deshalb die Mehrzahl der Paare, bei denen die Braut schon einen mehr oder weniger gewölbten Bauch unter ihrem weißen Hochzeitskleid hatte. Dieses Verfahren hatte sich bewährt und wurde allgemein akzeptiert. Wenn eine junge Frau aber die zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig überschritt und immer noch nicht verheiratet war, wurde es kritisch. Da hieß es dann: „Die bekommt wohl keinen mehr mit. – Wird ein altes Mädchen.“ Jo´s Schwester Marlies gehörte da schon zu den Ausnahmen, die geheiratet hatte, ohne schwanger zu sein. Dass es aber ausgerechnet dieser Harald war, an den sie ihr Leben verschenkte, konnte er nicht nachvollziehen
Monika und ihre Freundinnen waren so siebzehn, achtzehn, also im heiratsfähigen Alter. Ob sie aber mit den Partys die Erwartung an ein solches Verkupplungsverfahren verbanden, war für die Jungs nicht so ganz klar. Monika hatte Didi jedenfalls deutlich verklickert, dass sie nur mit Gummi mit ihm ins Bett gehen würde. Der war daraufhin extra nach Osnabrück gefahren. Dort gab es in der Toilette der Bahnhofsgaststätte einen Pariser-Automaten. Er hatte erst einmal fünf Packungen auf Vorrat gekauft.
Didi, Ingo, Albert, Kalle, Heinz und Jo hatten bei Heinrich noch zwei Kisten Bier gekauft und waren dann mit zwei Autos zu Monika gefahren. Sie wurden schon mehr oder weniger sehnsüchtig erwartet. Man tanzte ein bisschen zu Musik von Drafi Deutscher, Roy Black, Graham Bonney, Udo Jürgens oder Al Martino. Jo behielt seine Meinung über diese Musik für sich. Dazu wurde ziemlich viel durcheinander getrunken und geraucht, was das Zeug hielt. Gegen zwölf Uhr quollen die Aschenbecher über und man konnte im Tabakqualm die anderen nur schemenhaft erkennen. Das mit der eingeschränkten Wahrnehmung lag vielleicht auch am vielen Schnaps.
Da fast immer zufällig die Zahl an Jungs und Mädchen übereinstimmte, zogen sich mit zunehmendem Alkoholpegel die daraus gebildeten Paare in irgendwelche Ecken zurück. Monikas Zimmer war schon belegt, deshalb ging sie mit Didi ins elterliche Ehebett. Jo konnte sich mal wieder für kein Mädchen entscheiden, was zur Folge hatte, dass nur noch er und Ingrid übrig blieben – wie fast immer.
Er fand Ingrid äußerlich eigentlich ganz nett. Im Gegensatz zu den meisten anderen Mädchen hatte sie eine Kurzhaarfrisur in Kupferrot, dazu eine kleine Stupsnase und einen hübschen Erdbeermund. Sie hatte auch einiges in der Bluse. Ihre Lehre als Friseuse hatte sie gerade abgeschlossen. Problematisch wurde es für Jo, wenn Ingrid den Mund aufmachte. Sie hatte eine etwas schleppende Singsang-Stimme, deren Klang er nicht gut ertragen konnte. Erschwerend kam noch hinzu, dass das Gesagte auch inhaltlich zu der Stimmlage passte. Da es jetzt schon in seinem Kopf surrte und die geistige Kontrolle schon etwas eingeschränkt war, packte er die Vorbehalte gegenüber Ingrid beiseite. Er nahm sie wortlos in den Arm und küsste sie lange. Küssen konnte sie wirklich gut. Sie zwängten sich dann in eine Sofaecke und knutschten unendlich lange herum. Jo tat schon die Zunge weh davon. Mit der rechten Hand umfasste er ihre Schulter und mit der linken begann er, ihre Brüste zu umrunden. Dann ging es mit der Linken eine Etage tiefer unter ihren Rock auf den Bauch und zwischen die Beine. Sie trug eine Strumpfhose und darunter ein festes Miederhöschen, soviel konnte er ertasten. Damit war sie ziemlich fest eingepackt. Aber dieser manuelle Angriff war wohl für Ingrid ein Überschreiten der Tabu-Zone. Sie zog seine Hand wieder nach oben und legten sie wortlos auf ihre Brüste.
Jo brauchte eine Pause für seine Zunge und unterbrach seine Aktivitäten. Sie tranken ein gemeinsames Glas Cola-Rum und rauchten eine Zigarette, schwiegen sich aber ansonsten an. Dann begann das Knutsch- und Fummelspiel von neuem.
Sonntagmorgen wachte Jo mit dumpfen Schädel und ziemlich belegter Zunge auf. Es war schon fast Mittag. Er hatte keine rechte Vorstellung mehr, wie und wann er nach Hause gekommen war. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass sein Wagen unten auf dem Hof stand, ziemlich ordentlich eingeparkt sogar. Das war zumindest beruhigend.
Er musste seine Gedanken erst mal ein wenig sortieren, soweit das möglich war. Ein paar Stunden fehlten ihm da allerdings. Dann fiel ihm ein, dass er um eins auf dem Fußballplatz stehen musste. Er zog sich an und nahm die schon gepackte Tasche mit den Sportsachen mit in die Küche. Seine Mutter war mit der Zubereitung des Mittagessens fast fertig. Auf sein „Morgen!“ gab es keine Antwort. Damit war klar, dass die vierte Eskalationsstufe erreicht war. Wenn der Haussegen extrem schief hing, dann wurde geschwiegen. Seine Mutter hielt das locker bis zu zwei Wochen aus; und mit den gleichen Genen ausgestattet konnte er das genauso. Er schmierte sich also ohne weitere Worte zwei Scheiben Graubrot, die eine mit Rübenkraut und die andere mit der Mettwurst aus hauseigener Schlachtung. Die nahm er dann zusammen mit einer Flasche Sprudelwasser auf sein Zimmer. Beim Essen überlegte er immer noch, wie das wohl mit Ingrid gestern Abend geendet hatte. Aber da war ein schwarzes Loch in seinem Gedächtnis. Wenn er den Kopf zu schnell drehte, schmerzte es noch sehr.
Der Trainer hatte ihn in die Reservemannschaft versetzt, weil er in den letzten Spielen in der ersten Mannschaft vor dem Tor ziemlich glücklos gewesen war. Die Reserve spielte immer vor der Ersten. Darin waren vor allem die etwas älteren, verheirateten Spieler, die zum Kaffeetrinken am Nachmittag wieder zu Hause sein wollten oder mussten. Die waren gut eingespielt, und er bekam den Ball nur selten. Da der Alkohol noch nicht ganz verschwunden war, gelang ihm aber auch nicht viel, zumindest in der ersten Halbzeit. In der Pause war Didi dann vorbei gekommen, der in der Ersten den Mittelstürmer spielte. Dabei stellte sich dann heraus, dass sie beide gemeinsam so gegen vier nach Hause gefahren waren. Didi meinte, alles wäre ziemlich korrekt abgelaufen, soweit er sich noch erinnern könnte. Ingrid habe bei Monika übernachtet. In der zweiten Halbzeit ging es Jo dann schon deutlich besser. Er hatte sogar kurz vor Schluss das entscheidende Tor zum Drei-zu-Zwei-Sieg geschossen. Naja, der Ball war ihm vor die Füße gefallen, und er musste ihn nur noch über die Torlinie schieben.
Nach dem Duschen wurden die grünen Tura-Trikots in eine große Tasche gepackt. Reihum wurden sie dann immer von einem Spieler mit nach Hause genommen und zum nächsten Spiel gewaschen und gebügelt wieder zurückgebracht. Jetzt sollte Jo die Tasche mitnehmen. Er meinte aber, dass es im Augenblick zu Hause nicht so gut passen würde. Jemand anders hatte sich dafür gefunden. Dann hatten sie bei Heinrich noch schnell ein paar Stiefel kreisen lassen. Das lief immer so ab, dass der vorletzte Trinker den ganzen Stiefel bezahlen musste. Manchmal nahm der erste ein paar Schluck und der zweite trank dann die restlichen knapp anderthalb Liter aus, nur um ihn zu ärgern. Da konnte sich dann schnell eine lustige Sauferei ergeben. Aber heute war niemand an einem Exzess interessiert. Die Mitspieler waren entweder nach Hause gefahren oder wieder auf den Fußballplatz gegangen, um die Erste noch zu sehen. Jo fuhr mit seiner alten Kiste in die Stadt.