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Jo schlurfte lustlos über den Schulhof. Die rote Asche knirschte unter seinen Mokassins, und ein wenig knirschte es auch unter seiner Schädeldecke. Mittlerweile war es kurz vor halb zehn und damit kurz vor Beginn der großen Pause. Biologie und Deutsch hatte er damit verpasst. Verpassen war aber nicht der richtige Ausdruck für seine Abwesenheit heute Morgen. Dieser Begriff suggerierte doch einen Wert- oder Nutzenverlust, der durch das Fehlen entstanden wäre. Aber ihm fehlte nichts.

Der alten Hexe Christiansen hatte er vor einem Jahr im Biologieunterricht die Frage gestellt, wann denn endlich der menschliche Körper dran wäre. Der hätte doch schon längst laut Lehrplan behandelt werden müssen. Und unter dem Gelächter des Restes der Klasse hatte er dann hinzugefügt, dass er insbesondere bei der Fortpflanzung noch einige offene Fragen hätte. Sie war deutlich erkennbar nervös geworden. „In diesem Schuljahr steht aber die Bedeutung von Parasiten für Flora und Fauna auf dem Lehrplan. Für die Defizite meiner Kollegen aus den vorherigen Jahren bin ich nicht verantwortlich“, hatte sie sich nicht besonders geschickt aus der Affäre gezogen. „Letzte Woche habe ich geknutscht. Hoffentlich bekomme ich jetzt kein Kind“, hatte eines der Mädchen unter Beifall der ganzen Klasse von sich gegeben. Der damalige Versuch, dem Biologieunterricht eine interessante Wendung zu geben, gelang damit aber nicht. Die Parasiten hatten über den größten Teil des Jahres den Unterricht beherrscht. Darin kannte sich die Christiansen jedenfalls aus. Wie es um die Fortpflanzung bei ihr stand, entzog sich der Klasse aber weiterhin. Jo hatte seine geistige und auch körperliche Anwesenheit im Biologieunterricht stark eingeschränkt. Ohne weitere Kommentare hatte sie ihm auf dem letzten Zeugnis eine Drei gegeben. Damit schien die Angelegenheit für beide Seiten eine befriedigende Lösung gefunden zu haben.

In Deutsch war die Sache komplizierter. Deutsch war wichtig aber mindestens genauso uninteressant wie Biologie. Klar geworden war ihm das schon in der Sekunda, als es um die Interpretation romantischer Gedichte gegangen war. Marianne hatte doch bei der Interpretation des zerbrochenen Ringleins mehr als sieben Seiten gesulzt und natürlich eine Eins erhalten. Er selbst hatte für sein Gestammel ein Ungenügend bekommen, und das war nach eigener Einschätzung sogar ok. In der Prima hatten sie dann in Deutsch den Hotzenplotz gekriegt, offiziell Studien-Assessor Mönkeberg. Der hatte in seinem ersten Jahr an der Schule die nach Ansicht des Kollegiums nicht ganz einfache Unterprima in Deutsch, Gemeinschaftskunde und dazu auch noch als Klassenlehrer aufs Auge gedrückt bekommen. Er kam mit dem Rad zu Schule, immer mit ziemlich hohem Tempo. Seine buschigen schwarzen Augenbrauen und die durch den Fahrtwind zerzauste Frisur war das eine, die zusammengekniffenen Augen und die faltige Stirn das andere Element seines Äußeren, das zu seinem Namen geführt hatte.

Hotzenplotz suchte noch nach einer passenden Strategie im Überlebenskampf mit den halbwüchsigen und ziemlich unangepassten Schülern seiner Klasse. Er hatte sich ein zweigeteiltes Vorgehen zurechtgelegt. Sein Unterricht sollte modern sein. Darunter verstand er Kafka. Vermutlich hatte er seine Examensarbeit auch über diesen geschrieben und betrieb jetzt eine Zweitverwertung seiner Kenntnisse. Jedenfalls war der größte Anteil im Unterricht der letzten zwei Kurzschuljahre dem Werk Kafkas gewidmet. Gegenüber den alten Säcken im Kollegium war das sicherlich mutig, war Kafka für die doch noch entartete Kunst. Für Jo aber war gegenüber Eichendorff und Chamisso kein wesentlicher Vorteil erkennbar. Die Denkweise Kafkas lag jedenfalls nicht auf seiner Wellenlänge.

Der zweite Teil der Hotzenplotzstrategie war der Versuch der Fraternisierung mit seinen Schülern. Dazu hatte er eine Arbeitsgemeinschaft außerhalb der Schule angeregt, die sich mit moderner amerikanischer Literatur beschäftigen sollte. Diese fand im Zyklus von zwei Wochen dienstags im Hinterzimmer des Deutschen Hauses statt. Jo war solchen Anbiederungsversuchen von Lehrerseite her skeptisch gegenüber, ging aber dennoch regelmäßig hin. Er glaubte, dass es nützlich sein könne, Hotzenplotz etwas besser einzuschätzen. Außerdem könnte er ja vielleicht auch Sympathiepunkte außerhalb der Schule für das eigene Überleben sammeln. Ziemlich schnell hatte sich gezeigt, dass für alle Beteiligten die amerikanische Literatur nur ein Vorwand war für etwas Anderes. Für Hotzenplotz schien es die Möglichkeit zu sein, sich mal für einen Abend von seiner Frau und seinem Säugling abzusetzen und gemütlich Einen zu heben. Da ein größerer Teil der Schülerinnen und Schüler der UIs auch gerne und ausgiebig trank, war das schon mal eine gute gemeinsame Basis für solche Abende. Außerdem war in der Woche abends sowieso wenig los, und Hotzenplotz hatte für die Schüler durchaus einen gewissen Unterhaltungswert. Er referierte in der ersten halben Stunde die Werke von Ginsberg, Mailer oder Burroughs. Das machte die Anwesenden schon neugierig. Mancher ging am nächsten Tag tatsächlich in Königs Buchhandlung und schaute nach, ob es dazu nicht vielleicht ein Reclam-Heft gab. Nach diesem intellektuellen Vorspiel kam man dann einvernehmlich zum eigentlich Grund der Zusammenkunft, einem kollektiven Besäufnis. So nach dem vierten oder fünften Bier wurde Hotzenplotz in der Regel immer gesprächiger. Hauptthema war dabei sein Studium in Freiburg und seine damit verbundenen Erlebnisse. Die machten den einen oder anderen Schüler schon etwas neidisch. Freiburg schien als zukünftiger Studienort eine gute Wahl zu sein.

„Das Gemeine in Freiburg ist der Glottertäler“, begann Hotzenplotz dann regelmäßig zu dozieren, wobei sich seine Gesichtsfarbe mittlerweile der des Spätburgunders näherte, über den er sich ereiferte. „Da fährst du zum Schauinsland hoch und sitzt mit ein paar Kommilitonen in einer gemütlichen Hütte und trinkst ein Viertel Glottertäler. Der geht samtweich runter und ist so schnell alle, dass du einen zweiten und dritten zu dir nimmst.“ Es wurde dann nie ausgesprochen, wie viel Hotzenplotz davon tatsächlich vertrug, aber die Quintessenz war immer die gleiche: „Und wenn du dann gut gelaunt aufstehen willst, dann haut es dir ganz fürchterlich die Beine unter dem Körper weg.“ Wie er dann tatsächlich zurück nach Freiburg gekommen war, und wie oft während seines Studiums ein solcher Exzess stattgefunden hatte, blieb offen. Da er praktisch bei jeder Zusammenkunft aber wieder dieselbe Geschichte aufwärmte, musste sein studentischer Erlebnishorizont doch eher begrenzt gewesen sein. Niemand hatte auch offensichtlich ein Interesse daran, darüber Näheres zu erfahren. Wenn der Junglehrer an diesem Punkt der Schilderung seiner damaligen Bewegungsunfähigkeit angelangt war, schaute er auf die Uhr, zahlte und verabschiedet sich nach Hause. Der Rest des Zirkels ging danach für weitere zwei Stunden zum verschärften Trinken über.

So war es auch gestern Abend wieder gewesen. Uwe hatte von seiner älteren Schwester erzählt, die in Freiburg Jura studierte. Die kam nur noch in den Semesterferien nach Hause. Das lag an der Entfernung von fast sechshundert Kilometern, aber auch wohl an der hohen Lebensqualität der Stadt. „Im Sommer scheint dort immer die Sonne, man kann innerhalb von einer Stunde in Frankreich oder in der Schweiz sein, und im Winter kann man im Schwarzwald Ski fahren“, gab Uwe die Erkenntnisse seiner Schwester weiter. Jürgen hatte gehört, man solle im Sommersemester in Kiel studieren und den Segelschein machen und im Wintersemester in Freiburg Skilaufen, das wäre die ideale Standortkombination für ein ereignisreiches Studium. Innerhalb der nächsten zwei Stunden hatten sie dann noch so sechs bis acht Pils getrunken und genauso viele Zigaretten geraucht, bis der Wirt Feierabend machen wollte. Jo war dann mit seinem Wagen nach Hause gefahren.

Heute Morgen war dann der Restalkohol dafür verantwortlich, dass er noch keine Lust auf Schule verspürte. Als seine Mutter ihn weckte, hatte er gesagt, dass die erste Stunde ausfalle. Nun stand er vor der Frage, ob er noch für den Rest der Deutschstunde in die Klasse gehen sollte. Oberstudienrat Wöhler kam gerade mit einer Klasse von Sextanern zurück vom Sportplatz. Obwohl es Ende Oktober war und schon empfindlich kühl, trug Wöhler wie üblich einer kurze, schwarze Turnhose und ein schmales weißes Hemd, das sich von seinem braun gebrannten sehnigen Körper abhob. Mit seinen geschätzten sechzig Jahren hatte er noch einen durchtrainierten Körper, mit dem er selbst den Primanern im Sportunterricht ihre Grenzen aufzeigen konnte. Die Kleinen marschierten in Zweierreihe hinter ihm her mit roten Köpfen und völlig fertig. Für Wöhler hatte Sport vor allem etwas mit Disziplin und Leistungsdruck zu tun. Ältere Schüler hatten mal verbreitet, dass er ein Nazi und SS-Scherge gewesen sei. Als Indiz wurde eine seltsame runde Narbe an der Innenseite seines linken Oberarmes angeführt. Dort wäre mal sein Blutgruppenzeichen eintätowiert gewesen, ein typisches Kennzeichen für SS-Angehörige.

Jo wollte Wöhler nicht begegnen und beschloss deshalb, doch noch in seine Klasse zu gehen. Er klopfte an und öffnete ohne abzuwarten die Tür. „Entschuldigung, Herr Mönkeberg, aber mein Auto sprang heute Morgen nicht an“, gab er in etwas belegter Stimme von sich und setzte sich sogleich auf seinen Platz. Das war ein eigentlich plausibler Grund für seine Verspätung. Sein zehn Jahre alter Fiat 600 machte schon rein äußerlich den Eindruck, dass seine besten Jahre hinter ihm liegen würden. Außerdem war die Anlasser Problematik von Fiat allgemein bekannt. „Hans-Joachim, wer saufen kann, der kann auch arbeiten – das sollten Sie sich zum Prinzip machen“, polterte Hotzenplotz mit feindlichem Unterton los. Jo hasste es, wenn er mit seinem doppelten Vornamen angesprochen wurde. Aber er wollte sich auf keine weitere Diskussion einlassen und holte stattdessen sein Deutsch-Heft aus der Tasche. Das war keine kluge Handlung. Hotzenplotz hatte am Vortag Kafkas Erzählung „Kleider“ auf einem Umdruck vervielfältigt herausgegeben. Das Blatt rutschte jetzt aus dem Heft. Jo roch noch den leichten Hauch von Spiritus, und ihm wurde schwindelig. „Hans-Joachim, Sie haben sich doch gestern sicherlich noch intensiv mit der Erzählung beschäftigt und können uns erklären, was Kafka in den Kleidern wohl zum Ausdruck bringen wollte“, bohrte Hotzenplotz. Jo war nicht viel eingefallen zu diesem Text, der nur eine halbe Seite auf dem Blatt ausmachte. „Der war wohl depressiv als er das geschrieben hat“, quälte er sich heraus, ahnend, dass er damit nicht den richtigen Ansatz gefunden hatte. „Der war wohl depressiv“, echote Hotzenplotz. „Bei Ihnen bekomme ich auch langsam Depressionen“, fuhr er fort, wobei sich sein Gesicht schon wieder leicht verfärbte. „Wenn Kafka das hörte, würde er sich noch im Grab umdrehen. Diese Aussage ist die Verhöhnung seiner Kunst. Das geht bald über meine Kräfte, was hier geboten wird.“ Einige Mädchen fingen an zu kichern. Jo dachte blitzschnell über die Hotzenplotzschen Ergüsse nach. „Entweder kann Kafka meine Aussagen hören, dann ist er aber nicht tot, könnte sich aber auch noch umdrehen. Oder aber er ist, wovon auch auszugehen war, tatsächlich bereits gestorben, dann würde auch die Aussage eines kleinstädtischen Gymnasiasten, wie banal sie auch immer sein mag, nicht zu einer Wiederauferstehung führen. Jedenfalls steht fest, dass er gelebt hat und wohl tatsächlich unter Depressionen gelitten hat.“ Das hätte er antworten können, aber er verkniff es sich. Stattdessen merkte er langsam Wärme in sich aufsteigen. Es ärgerte ihn fürchterlich, wenn er in solchen Situationen einen roten Kopf bekam; aber er konnte nicht dagegen steuern. Die Pausenklingel beendete die für ihn peinliche Situation.

Der Schulhof des Leibniz-Gymnasiums war so angelegt, dass er verschiedene Bedürfnisse der Schüler aller Altersklassen erfüllen konnte. Das war vermutlich nicht so geplant worden, hatte sich aber in der Praxis so entwickelt. Der umzäunte Platz wurde durch eine kreisrunde Straße eingerahmt. In der Mitte standen ein paar große Bäume, der Boden war mit roter Kieselasche bedeckt. Hier war der Tummelplatz für die jüngeren Schüler, die sich dort austobten. Mädchen spielten Hinkel Kästchen oder Gummitwist, Jungens eher Fußball mit einem Tennisball oder einem in der vorhergehenden Stunde geformten Papierknödel. Die Älteren benutzten die Straße und drehten in Gruppen diskutierend ihre Runden. Meistens gingen Jungen und Mädchen dabei getrennt, wobei geheime Kräfte darauf hin wirkten, dass das eine Geschlecht rechtsherum drehte und das andere linksherum. Das führt dazu, dass man sich nach jeweils einer halben Runde also alle zwei bis drei Minuten einmal begegnete. Auf diese Weise ergab sich im Stadium aufkeimender Paarungsbereitschaft eine Übersicht über die attraktivsten Exemplare des jeweils anderen Geschlechts.

In der großen Pause verkaufte der Hausmeister Getränke an die Schüler. Der Schulsprecher feierte es als großen Erfolg seiner Tätigkeit, dass neben Milch und Kakao jetzt auch sogenannte Kaltgetränke verkauft wurden. Jo hatte sich für die Pause eine Libella und eine Afri-Cola geholt, um damit seinen trockenen Hals und seinen dumpfen Kopf zu bekämpfen. Zusammen mit Jens und Uwe drehte er seine Runden. „Wie findest du die in der Mitte, die mit dem Pferdeschwanz, Bauer?“, fragte Jens. Jo mochte die großkotzige Art dieses Unternehmerjünglings nicht. Der war auch der einzige, der ihn so von oben herab mit seinem Nachnamen ansprach als wäre er sein Chef. Jens hatte es nach eigenen Angaben schon einmal mit einer zweiundzwanzigjährigen Studentin in deren Ente getrieben. Er nahm deshalb für sich in Anspruch, gegenüber den anderen Jungs der Klasse einen deutlichen Erfahrungsvorsprung in Bezug auf Frauen zu besitzen. „Ich glaube, an die werde ich mich mal ran machen“, fuhr er fort, ohne eine Antwort der anderen abzuwarten. Jo war der Pferdeschwanz natürlich auch schon aufgefallen. Er wusste, dass sie Manuela hieß, in der Untersekunda 2s war und aus seinem Nachbardorf kam. Seit Wochen hatte er sie schon auf den Pausenrunden beäugt. Sie aber war mit den anderen Mädchen immer in intensive Gespräche vertieft und hatte bisher seine Blicke auch nicht einmal im Ansatz erwidert. Vermutlich hätte er auch wieder einen roten Kopf bekommen, wenn sie es tatsächlich mal getan hätte.

Das mit den Frauen hatte er sich sowieso fürs Erste aus dem Kopf geschlagen. Er hatte genug andere persönliche Baustellen zu bewältigen. Zuerst war da das Abitur. In Latein hatte er wohl keine realistische Chance. Gleich die erste Arbeit in der Untertertia war ein Ungenügend wegen eines plumpen Täuschungsversuchs gewesen. Und von diesem Schock hatte er sich bis jetzt nicht erholt. Es fehlt ihm auch jede Motivation, sich mit den Kriegen von vor zweitausend Jahren zu beschäftigen und das auch noch in der damaligen Sprache, die seitdem nur noch von lebensfremden Popen gesprochen wurde. Latein war für ihn ein Folterinstrument, um Schülern das Abitur vorzuenthalten. Und jetzt wurde es auch in Deutsch noch eng.

Die zwei Kurzschuljahre machten seine ehrlichen Bemühungen nicht einfacher. Unter- und Oberprima waren jeweils nur acht Monate lang. Da musste man von Beginn des Schuljahres an alles geben. Aber so einfach war das nicht, wenn er neben der Schule noch so viel anderes geregelt bekommen musste. Er musste sich was einfallen lassen; und jetzt kam auch noch eine Doppelstunde Latein, de bello Gallico.


Nach der Schule war er nach Hause gefahren. Auf dem Ölofen bruzzelte seit mindestens zwei Stunden sein Mittagessen in einer Jenaer Glasform, Schweinebraten mit Kartoffeln und Rotkohl. Seine Mutter hatte das Essen bereitgestellt, bevor sie in den Nachbarort gefahren war. Dort arbeitete sie an drei Nachmittagen in der Woche als Kassiererin in einem neuen Spar-Markt. Die Fleischscheibe hatte einen mindestens drei Zentimeter dicken Fettrand und war damit für ihn ungenießbar. Jo war nach unten zur Oma gegangen, der allerliebsten Oma der Welt. Seit Marlies verheiratet und aus dem Haus war, hatte er die Oma jetzt auch für sich ganz alleine. Er hatte sowieso schon immer das Gefühl gehabt, dass er ihr Liebling war. Sie machte ihm einen Pfannkuchen mit Apfelmus. Das war wenigstens ein vernünftiges Essen. Dann hatte er sich für zwei Stunden ins Bett gelegt und erst einmal gepennt.

Als er sich gerade in ein Interpretationsheft über das Werk Kafkas vertieft hatte, von dem er entscheidende Impulse erwartete, kam Dieter vorbei, den aber alle nur Didi nannten. Das lag daran, dass er ein guter Fußballspieler war. Irgendwann hatte mal ein Mitspieler voll Begeisterung von Dieters Künsten gemeint, der spiele wie der große Brasilianer Didi. Damit hatte er dann seinen Namen weg. Sie kannten sich schon aus der ersten Klasse der Volksschule. Seitdem waren Didi und er die besten Freunde. Ihr Verhältnis war etwas komplizierter geworden als Jo in das fünfzehn Kilometer entfernte Gymnasium in Lüdecke gewechselt war. Didi war zwar genauso schlau oder dumm gewesen wie er, aber er wollte auf keinen Fall die Schule wechseln. Nach der achten Klasse der Volksschule war er in eine Schlosserlehre gegangen und war jetzt Geselle. Sie verbrachten nur noch einen Teil ihrer freien Zeit miteinander, da Jo einerseits noch seine alten Freunde im Dorf hatte, andererseits aber auch an seiner Schule neue Gruppen mit doch anderen Interessen gefunden hatte.

Didi lud ihn ein auf eine Runde Kickern im „Letzten Heller“. Das war die Dorfkneipe, in der sich das gesellschaftliche Leben von Langhorst abspielte. Es war der Treffpunkt der Jugend, der berufstätigen Männer nach Feierabend und der Vereine. Dazu war der angeschlossene Festsaal der dörfliche Mittelpunkt für alle möglichen Feiern, von Hochzeiten und Beerdigungen über Schützen- und Sportfeste bis zur Weihnachtsfeier der Volksschule mit Krippenspiel. Jo spielte noch bei Tura Langhorst Fußball. Er war gerade von der A-Jugend in die erste Mannschaft aufgerückt.

Am Tresen standen Ingo und Heinz gelangweilt, ebenfalls Fußballer von Tura. Alle vier waren Kicker-Profis, so dass sich ein Spiel auf hohem Niveau entwickelte. Man spielte um Runden. Nach vier bis fünf Revanchespielen standen vor jedem noch vier gefüllte Biergläser. Sie spielten schneller als sie um diese Tageszeit trinken konnten. Deshalb wurden die nächsten Runden um Frikadelle, Bratrollmops und Soleier ausgespielt. Als Jo so gegen halb acht nach Hause kam, hatte er dementsprechend auch keinen Hunger mehr und Durst sowieso nicht. Damit wurde dann sein nächstes Konfliktfeld geöffnet.

„Komm sofort an den Tisch, wir warten schon mit dem Abendbrot auf dich“, zeterte seine Mutter schon als er noch auf dem Flur war. „Ich hab keinen Hunger, hab schon was bei Dieter gegessen“. – „Wie siehst du denn schon wieder aus und wie du riechst! Wahrscheinlich hast du wieder den ganzen Nachmittag bei Heinrich gesessen und gesoffen.“ Heinrich war der Wirt im Letzten Heller. Bis dahin hatte der kurze Gesprächsverlauf noch die üblichen friedlichen Formen gehabt, an die Jo sich im Laufe der letzten Jahre gewöhnt hatte. Mutter wollte ihm erklären wie sein Leben abzulaufen hatte, und er war gerade dabei, seinen eigenen Weg zu finden. Sein Vater machte mal wieder den Eindruck als ob ihn die ganze Auseinandersetzung nichts anginge. Er las beim Essen den Sportteil des Westfälischen Anzeigers.

Schlimm für Jo wurde es, wenn seine Mutter zur nächsten Eskalationsstufe ansetzte. Darauf lief es jetzt hinaus. Sie steigerte sich dann zu einem verbalen Rundumschlag. „Ich schufte mich hier ab, damit der Herr Sohn zur Schule gehen kann; und was macht er, er gammelt nur herum und bringt unser Geld in die Kneipe. Das Zimmer sieht aus als ob eine Bombe eingeschlagen hätte. Der Herr macht doch keinen Handschlag mehr zu Hause, lässt sich nur bedienen. Bei der Roggenernte hättest du Opa auch ruhig helfen können. Der muss sich nach Feierabend noch abmühen, in seinem Alter. Hätten wir dich bloß nach der mittleren Reife in die Lehre gesteckt. Wenn du so weiter machst, schaffst du dein Abitur sowieso nicht!“

Es gab jetzt nur noch eine letzte Stufe der verbalen Gewalt; Jo wartete schon darauf. Das machte es vielleicht etwas leichter für ihn. „Du solltest dir mal ein Beispiel an Marlies nehmen, die hat einen anständigen Beruf gelernt und liegt uns nicht mehr auf der Tasche.“ Marlies war seine Schwester. Sie war zwei Jahre älter und zur Realschule gegangen. Das war für ein Mädchen aus Langhorst schon eher eine Ausnahme. Dann hatte sie in einem Nachbardorf bei einer neuen Kunststofffabrik eine Ausbildung zum Industriekaufmann gemacht. Dort saß sie jetzt im Büro und bearbeitete Lieferaufträge. Mutter fand das ganz toll und Vater vermutlich auch, ohne dass er es allerdings jemals gesagt hätte. Dort in der Plastikfabrik, wie die Leute sagten, hatte sie dann auch Harald kennengelernt. Der war jetzt schon vierundzwanzig, Schlossergeselle und Vorarbeiter. Vor einem halben Jahr hatten die beiden geheiratet. Marlies war dann mit ihrem frisch Angetrauten in eine eigene Wohnung gezogen. Jetzt hatten sie auch noch einen eigenen NSU Prinz.

Jo hatte zu Marlies immer ein etwas distanziertes Verhältnis gehabt. Sie war älter, und sie war ein Mädchen. Mit ihren Freundinnen hatte sie sich früher immer über den kleinen Bruder lustig gemacht. Und er durfte auch nie bei den Mädchen mitspielen. Das hatte er nicht vergessen. Mit Harald konnte er jetzt auch überhaupt nichts anfangen. Der lebte wohl in einer anderen Welt, hatte von Politik keine Ahnung, fand aber Kiesinger gut. Und dann hackte er noch immer auf den italienischen Gastarbeitern rum, die in seiner Firma arbeiteten. Itakas und Spaghettifresser nannte er sie abfällig; und Marlies hörte ihm dabei noch geduldig zu.

Nach dem erwarten Verweis auf Marlies stand Jo wutentbrannt auf. Selbst wenn er noch Hunger gehabt hätte, wäre ihm das Essen an diesem Tisch spätestens jetzt vergangen. Mit gepresster Stimme sagte er nur noch: „Ich ziehe sowieso bald aus; dann habt ihr eure Ruhe!“ „Und hör mir auf mit Marlies. Ich bin nun mal nicht Marlies. Kapiert das doch endlich.“ Dann warf er die Küchentür von außen zu und ging in sein Zimmer.

Er hasste diese Auseinandersetzungen um das Geld, vor allem weil sie völlig ungerecht waren. Die einzige finanzielle Zuwendung seiner Eltern war ein monatliches Taschengeld von zwanzig Mark. Und das für einen Achtzehnjährigen. Auf die hätte er eigentlich auch noch verzichten können. Er arbeitete in jeden Ferien, manchmal in einer Möbelfabrik an einer Maschine, in den längeren Ferien als Briefträger bei der Post. Auf diese Weise kam er ganz gut über die Runden. Vor einem halben Jahr hatte er den Führerschein gemacht. Die hundertachtzig Mark dafür hatte er natürlich selbst bezahlt. Trotzdem hatte seine Mutter einen Aufstand gemacht, als er vom Vater die Unterschrift für die Fahrschule einforderte. Das gleiche Theater dann wieder, als er die Zustimmung zur Anmeldung des alten Fiats brauchte. Die dreihundert Mark hatte er natürlich auch selbst aufgebracht. Und die Versicherung für das Auto hatte der Opa übernommen. Das Geld konnte also wirklich nicht der Grund für die aggressive Haltung seiner Mutter ihm gegenüber sein. Ihr passte einfach sein Lebensstil nicht. Schule war eben keine richtige Arbeit. Mit seinem Übertritt zum Gymnasium hatte er andererseits auch Neuland betreten. Im dörflichen Leben von Langhorst gab es keine praktischen Erfahrungen mit Gymnasiasten. Nach dem Krieg war er der zweite, der nach einer Hochschulreife strebte; der erste war der Sohn eines Gutbesitzers gewesen, der aber selten in der Dorfgemeinschaft angetroffen wurde. Und er würde sich wohl auch bald vom Acker machen.

Trotz der Wirkung der Biere vom Nachmittag gelang es ihm erstaunlich gut, mit der gerade aufgestauten Wut seine Hausaufgaben zu machen. Die Aufgaben zum Integral waren kein Problem, das Kurzreferat über die Bergvölker in Marokko ebenfalls nicht, und die Lateinübersetzung schrieb er mit einigen absichtlich eingebauten Fehlern aus dem Pons ab. Über der aktuellen ´pardon´ war er dann am Schreibtisch eingeschlafen.


Hey Joe

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