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VII
ОглавлениеOberstudienrat Steinkamp übte auf die Oberprima einen erstaunlichen Einfluss aus. Und das geschah, ohne dass sich der so verehrte Lehrer auch nur im Geringsten anstrengen musste. Er hatte eine so souveräne Art, dass Jungen wie Mädchen nur so ins Schwärmen kamen. Allerdings gab er auch manchen Anlass zu Spekulationen. So war er selbst im Januar und Februar so braun im Gesicht als wenn er gerade aus einem vierwöchigen Italienurlaub zurückgekommen wäre. Wie machte er das bloß?
Er trug keinen Ehering, so dass man davon ausging, er sei ein Junggeselle und führte bei seinem Auftreten vermutlich das Leben eines Playboys. Aber dann erwähnte er so in einem Nebensatz mal etwas von seiner Frau. Das führte bei den Mädchen der Klasse dann zu nicht enden wollenden Diskussionen. Was könnte der wohl für eine Frau haben. Irgendjemand brachte dann das Gerücht auf, Steinkamp wäre mit einer Barfrau verheiratet. Das hätte zwar gut in das Klischee von ihm gepasst, wurde aber nie auf seinen Wahrheitsgehalt überprüft. Seine Attraktivität wurde dadurch aber eher noch größer.
„Beginnen wir mit Aristoteles. Der ist der Größte – nach wie vor. Danach kam nicht mehr viel Neues“, so hatte er begonnen. Und sie hatten sich mit dem Seienden und dem Nichtseienden, dem Wahren und dem Falschen, mit dem Woher und Wohin beschäftigt. Sie hatten heiß diskutiert und sich in einen Rausch von Gedanken hineingesteigert, bei denen man die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit stellen musste. Steinkamp holte sie dann mit seiner tiefen Stimme wieder zurück, mit einem einzigen Satz: „Hans-Joachim, wenn das Nichtseiende, aus dem alles Seiende entsteht, etwas nur der Möglichkeit nach Seiendes hervorbringt, was bedeutet das dann für Ihre Existenz?“ Sie hatten nichts verstanden und geschwiegen und dann zaghaft von neuem diskutiert. Später hatten sie dann Hegel gelesen, Kant und Nietzsche.
Bei all der Souveränität, die Steinkamp ausstrahlte, formte sich langsam bei den Schülern ein Bild von einem Mann, der sich keinen großen Illusionen über das Hier und Jetzt und die Zukunft hingab. Es wäre interessant gewesen zu erfahren, wie er durch den Krieg gekommen war. Als kämpfenden Landser im Schützengraben konnte man sich diesen Beau wirklich nicht vorstellen. Aber niemand traute sich, ihn danach zu fragen. Steinkamp schien einfach nur ein gutes Leben im Hier und Jetzt führen zu wollen, gut in der aristotelischen Tradition und Sichtweise. Und dabei schien er wirklich konsequent seinen eigenen Weg zu gehen. Er störte sich nicht im Geringsten an dem Rest des Kollegiums, in dem alle bei aller Verschiedenheit so völlig anders waren als er. Wenn er auch nicht die äußeren Insignien trug, so war er doch für die Schüler der Prototyp eines Existenzialisten.
Sich als Existenzialist zu fühlen und nach außen auch darzustellen, das schien für Jo eine erstrebenswerte Perspektive zu werden. Im Dunstkreis der Frage, was eigentlich aus ihm werden solle, formte sich unter dem Einfluss von Steinkamps philosophischen Wagenspuren und dem, was er in ´Konkret´ und ´pardon´ so las, langsam ein eigenes Weltbild. Das bestand zunächst aus zwei ganz elementaren Grundansichten. Er wollte auf gar keinen Fall so werden wie seine Eltern oder seine Schwester. Und er wollte ein schönes Leben führen. Das mit den Eltern war relativ klar und einfach, stellte es doch auch nur eine allgemeine Form des Nichtseins dar. Aber was war ein schönes oder gutes Leben? Sartre hatte dazu in etwas so argumentiert: „Das Leben an sich ist sinnlos, aber man sollte dennoch das Beste daraus machen!“ Das gab ihm eine gewisse Hoffnung, dass auch er noch irgendwie glücklich werden könne, er müsse halt sein Schicksal nur in die eigenen Hände nehmen. Das war ihm in der Zwischenzeit auch klar geworden. Wenn er einfach so weiter machen würde, dann würde er vermutlich spätestens mit vierzig auf dem Langhorster Friedhof landen - mit einer deformierten Leber. Dafür gab es genügend warnende Beispiele in der vorhergehenden Dorfgeneration.
Aristoteles behauptete jedenfalls, dass Genuss alleine nicht glücklich machen würde. Gut, der war vor mehr als zweitausenden Jahren auch nicht dem Warenangebot des deutschen Wirtschaftswunders ausgesetzt gewesen. Wein und hübsche Frauen hatte es damals vermutlich auch schon gegeben. Aber so eine Villa mit Hauspersonal, wie Vonnes Eltern sie besaßen, dazu ein oder zwei schicke Autos, das war schon nicht schlecht. Aber wenn man aus Langhorst kam, fiel das sicherlich nicht vom Himmel. Da musste man für sich klare Ziele definieren, klug sein und clever und vermutlich auch in gewissem Umfang rücksichtslos. Klar, Reichtum war vermutlich nicht alles zum Glück, konnte aber doch wesentliche Voraussetzungen dafür schaffen. Und der Rest von einem erfüllten Leben würde sich dann auch schon irgendwie einstellen.
Der erste Schritt auf diesem Weg in das eigenproduzierte Glück musste also die Abgrenzung von den alten Kumpels aus Langhorst sein, vor allem von dem exzessiven Zudröhnen mit Bier und Wacholder durchschnittlich drei bis vier Mal pro Woche. Dazu musste er sich einen Freundeskreis schaffen, der eher dem Milieu entsprach, dem er sich nähern wollte. Das waren zunächst die Leute, mit denen er seit mehreren Jahren jeden Tag mindestens sechs Stunden in einen Klassenraum eingesperrt war. Letztlich aber war er dort ein Außenseiter gewesen, ohne dass ihn das sonderlich gestört hätte. Das sollte sich jetzt auf der Zielgeraden zum Abi noch ändern. Und er ging diesen Veränderungsprozess aktiv an.
Auch äußerlich veränderte sich Jo. Sehr zum Missfallen seiner Mutter wurden die Haare länger und hinten auf der Mitte des Hinterkopfes zusammengedrückt. Damit sie so wie bei Elvis auch mit der so entstandenen Naht zusammenhielten, wurde eine Tube Brisk Frisiercreme zum Einsatz gebracht. Mutter nannte das einen Entenschwanz und dass er aussehe wie ein Halbstarker. Das bestärkte ihn aber eher in seinen Veränderungsabsichten. Dann trug er nur noch einen schwarzen Rollkragenpullover, eine schwarze Levis und schwarze Schuhe. Wenn es richtig kalt war, trug er darüber ein graues Wolljacket.
Die schwarze Jeans hatte einen durchaus praktischen Nebeneffekt weil sie einfacher in der Handhabung war. Sie löste die blaue Levis 501 ab, die er vorher ständig wochentags getragen hatte. Mit der hatte er nach dem Kauf zunächst immer in die Badewanne steigen müssen. Mit einer Nagelbürste hatte er dann den Stoff auf den Oberschenkeln so lange bearbeitet, bis er etwas heller wurde. Die Badewanne sah danach aus als ob sie mit Tinte gefüllt wäre. Dann musste er drei bis vier Stunden mit der feuchten Hose durch den Garten laufen, bis sie langsam am Körper trocknete und auf die richtige Form einlief. Manchmal hatte er es danach an der Blase gehabt. Schwarze Jeans trug man sowieso etwas weiter.
Er versuchte, in der Woche abends nicht mehr in den Letzten Heller zu gehen, was ihm auch einigermaßen gelang. Allerdings litt darunter logischerweise das Verhältnis zu Didi und den anderen Jungs im Dorf. Aus der ersten Mannschaft von Tura war er nun endgültig verbannt worden, und auch in der Reserve war man nicht gerade scharf auf ihn. Wenn genügend andere Spieler vorhanden waren, wurde er selbst dort zum Reservespieler degradiert. Das lag sicherlich nicht alleine an seinen fußballerischen Fähigkeiten. Einige Male war er nach der Schule in Lüdecke geblieben und hatte in der Leichtathletikabteilung des dortigen SC beim Lauftraining mitgemacht. Einmal hatte er sogar Stabhochsprung geübt. Die Leichtathleten waren völlig andere Typen als die Fußballer in Langhorst. Sie hatten ihn freundlich aufgenommen und gemeint, er sei immer herzlich willkommen.
Er rauchte jetzt Gitanes ohne Filter. Die kratzten zwar ganz schön im Hals, aber die Folge war, dass er davon auch deutlich weniger rauchte. Das kam seinen begrenzten Finanzen wieder entgegen. Abends fuhr er häufig noch mal in die Stadt und traf sich dort mit ein paar Klassenkameraden im „Old Monk“. Das war eine verräucherte Kneipe, die von Schülern und in den Semesterferien auch von den heimkehrenden Studenten besucht wurde. Dort gab es ausschließlich amerikanische und französische Musik. Francoise Hardy fand er toll und France Gall. Vonne war auch manchmal dort, die sah der Hardy durchaus etwas ähnlich.
Am Wochenende ging er nicht mehr zu den Fummelpartys bei Monika. Von Didi hatte er gehört, dass die immer noch in alter Form stattfanden. Ingrid hatte auch schon nach ihm gefragt. Aber das berührte ihn nicht im Geringsten. Er ging jetzt lieber samstags in Lüdecke in den Jazzclub. Dort spielten sie Musik von Miles Davis, John Coltrane, John Lee Hooker und Herbie Hancock. Positiver Nebeneffekt des Jazzclubs war, dass dort eigentlich nie getanzt wurde. Da konnte man die anderen durch seine geschliffene Argumentation überzeugen. Das was Jo dabei so an Ansichten vertrat, stimmte schon weitgehend mit dem Weltbild überein, das er in ´Konkret´ und ´pardon´ vorfand, ab und zu auch mit ein paar kritischen Artikeln aus dem Spiegel gewürzt. Auf diese Weise schuf er sich in der Klassengemeinschaft, die zu einem großen Teil auch in denselben Schülerlokalen auftauchte, langsam den Status eines wachen und kritischen Geistes. Vonne sah er dort eher selten. Die bevorzugte eher ein großbürgerliches Umfeld. Und Manuela durfte am Wochenende nicht alleine abends ausgehen. Sie musste vielmehr ihre Mutter häufig zu irgendwelchen Kulturveranstaltungen in anderen Städten begleiten. Ihr Vater hatte auf dieses „Gedöns“, wie er es nannte, keine Lust, blieb lieber alleine zu Hause und widmete sich der Pflege seines Autos mit dem Stern auf der Kühlerhaube.
Diese neue Ausrichtung gab Jo ein gutes Gefühl. Er hatte sich die Veränderungen ganz bewusst ausgesucht. Es tat sich was; er wusste nur noch nicht genau, wo er landen würde. Aber die Richtung stimmte. Es zeichnet sich ein Aufbruch in neue Welten ab.