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XIII

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Das Abitur näherte sich seiner letzten und entscheidenden Phase, nämlich den mündlichen Prüfungen. Eine Woche vor dem festgelegten Termin war der Klasse mitgeteilt worden, wer zur mündlichen Prüfung zugelassen worden war, auf Grund der Vorzensuren und der Ergebnisse der schriftlichen Arbeiten. Es war mittlerweile keine große Überraschung mehr, dass sämtliche siebzehn Schülerinnen und Schüler die nächste Hürde genommen hatten. Das hieß aber immer noch nicht, dass damit schon alles gelaufen war. Da aber bis zum Tag der mündlichen Prüfung offen blieb, in welchen Fächern man geprüft wurde, war auch eine gezielte Vorbereitung darauf nicht möglich.

In manchen Fächern gaben die Lehrer allerdings schon deutliche Hinweise. So war Jürgen, dessen Schwächen in Englisch unüberhör- und -sehbar waren, plötzlich in den letzten Stunden besonders intensiv dran genommen worden, und immer ging es um das Globe-Theatre in London und die historischen Shakespeare-Aufführungen dort. Und Jutta war plötzlich in Physik gefragt, obwohl alle wussten, dass das wahrlich nicht ihre Leidenschaft war. Sie hatte mehrfach Fragen zu Brechgesetzen und Brechzahlen in der Optik beantworten sollen, und das, obwohl es Gegenstand der Unterprima gewesen war und sie sowieso alles, was sie jemals darüber gewusst haben könnte, in der Zwischenzeit mit Sicherheit vergessen hatte. „Vielleicht bemühen sie sich ein ganz kleines Bisschen, der Optik zum Abschluss Ihrer Schulkarriere noch eine Chance zu geben“, hatte Studienrat Meinders ziemlich deutliche Hinweise auf das bevorstehende Finale gegeben. Jo hatte mit solchen Zaunpfahl-Winken kein Glück. Für ihn blieben die möglichen Fächer völlig im Dunklen.

Am 10. Juli war für die Oberprima 1s der Tag der mündlichen Prüfungen. Das war ein Montag. Das gesamte Wochenende davor war schon irgendwie ungewöhnlich gewesen. Keiner aus der Klasse hatte genau gewusst, was man machen könne, um die Zeit totzuschlagen. Samstagabend hatte sich der größte Teil von ihnen im Old Monk getroffen. Yvonne war schon wieder dabei, ohne ihren Freund. Jo hatte Manuela eröffnet, dass er sich an diesem Wochenende voll auf seinen Abschluss konzentrieren müsse und sie deshalb alleine lasse. Sie hatte dafür Verständnis gezeigt.

Aber der Abend war dann komisch gewesen. Jeder von ihnen wirkte irgendwie abwesend. Es gab keine vernünftigen Gespräche, und das Bier schmeckte auch nicht. Um elf Uhr beschloss man dann, nach Hause zu gehen. Da es leicht regnete, hatte Jo Yvonne noch nach Hause gefahren. Sie hatte sich tatsächlich in seine alte Kiste gesetzt, obwohl er sie eindringlich vorgewarnt hatte. „Vermutlich hast du in deinem ganzen Leben noch nicht in so einer Schrottkarre gesessen. Außerdem besteht jederzeit die Gefahr, dass der Motor seinen Geist endgültig aufgibt.“ „Du solltest so ein Auto nicht überbewerten“, hatte sie ihm darauf geantwortet und die hakelnde Beifahrertür tatsächlich alleine auf bekommen. Naja, bei dem häuslichen Wagenpark konnte einem eine solche Bemerkung vermutlich leicht über die Lippen kommen.

Am Sonntagnachmittag war der dann seit längerer Zeit mal wieder in Langhorst auf dem Fußballplatz gewesen, dieses Mal ausschließlich als Zuschauer. Didi spielte natürlich nicht, da er immer noch bei der Marine war. Auch ein paar andere Jungs aus seiner alten Truppe fehlten wegen des Wehrdienstes. Tura verlor 2:3, allerdings etwas unglücklich. Jo merkte, dass ihn das alles mittlerweile völlig kalt ließ. Und er stellte auch fest, dass sich niemand so recht für ihn interessierte. Langhorst und er schienen mittlerweile getrennte Wege zu gehen. Danach hatte seine Mutter Kaffee und Kuchen aufgetischt. Als Stärkung vor dem großen Finale gab es einen Frankfurter Kranz. Den gab es ansonsten nur an besonderen Feiertagen. In der Nacht hatte er dann sehr unruhig geschlafen. An die Träume konnte er sich morgens nicht mehr erinnern, aber sein Nacken war ziemlich verspannt.

Jürgen hatte sich bereit erklärt, ihn von zu Hause abzuholen. Jo hatte nämlich die Befürchtung, dass gerade an diesem entscheidenden Tag sein Wagen streiken könnte. So waren sie dann pünktlich um acht Uhr im Klassenraum gewesen. Hotzenplotz war ebenso pünktlich erschienen und hatte zunächst wortlos zwei Blätter an die Tafel geklebt. Das erste enthielt die Liste der Prüfungen für den Vormittag, das zweite den Nachmittagsablauf. Dazu muss erwähnt werden, dass der Ablauf die Namen der Prüflinge sowie der Prüfer und den Zeitpunkt der Prüfung enthielt, nicht aber das Prüfungsfach. Das blieb bis zum letzten Augenblick geheim.

Es gab ein dichtes Gedränge vor der Tafel; und Jo fand seinen Namen nicht. Dann hörte er Vonne von hinten sagen: „Jo, du bist als Allerletzter dran, du Armer!“ So war es tatsächlich. Jürgen war der Vorletzte und er Letzter, und zwar stand der Name Mönkeberg in der Spalte der Prüfer. Seine Prüfung war auf achtzehn Uhr dreißig gelegt. Und dann das noch. „Deutsch, Hans-Joachim, Deutsch, das ist doch mittlerweile Ihr Lieblingsfach.“ Hotzenplotz hatte seine Stimme wiedergefunden und polterte in Richtung Jo. „Deutsch, da haben Sie sich doch sicherlich gut vorbereitet.“ Jo ging, ohne den Klassenlehrer weiter zu beachten, schnell nach draußen. Die Vorstellung, am Abend als Letzter auch noch in Deutsch geprüft zu werden, war schon ein herber Schock. In den Wochen vor der Prüfung hatte Hotzenplotz sich sehr neutral verhalten, der ganzen Klasse gegenüber. Da war auch nicht im Ansatz erkennbar gewesen, wer bei ihm in der mündlichen Prüfung dran kommen würde, geschweige denn, in welchem Fach oder mit welchem konkreten Thema. Also hatte Jo sich auch nicht gezielt auf irgendetwas vorbereiten können. Insgeheim hatte er auf Gemeinschaftskunde gehofft. Auch in Religion hätte er bei Steinkamp vermutlich glänzen können. Aber Deutsch bei Hotzenplotz war der Horror schlechthin. Womöglich müsste er ein Gedicht der Romantik interpretieren.

Für Jürgen war schon klar, dass er in Englisch geprüft wurde. Bei Frau Kleinmann hatten sie nur Englisch. Da er mit einer Vier vorzensiert war, schien es also in Englisch in der schriftlichen Arbeit nicht geklappt zu haben und er musste jetzt den Nachweis antreten, dass er besser als Fünf war. Das glaubte er jedenfalls.

Sie beide hatten jetzt einen ganzen Tag vor sich, der mit Hochspannung geladen war. Und sie wussten nichts mit sich anzufangen. Eines wollten sie aber auf gar keinen Fall, nämlich sich auf die Schnelle noch auf irgendetwas prüfungstechnisch vorbereiten. Steinkamp hatte ihnen nämlich die Grundlagen der Lernpsychologie beigebracht. Danach würden die Inhalte, die man sich direkt vor einer Prüfung noch einprägen wollte, sowieso nicht mehr in den Speicher aufgenommen. In der Ausnahmesituation der Prüfung würden sie dementsprechend also auch nicht verfügbar sein. Man sollte deshalb nur entspannen und auf diese Weise Gehirnblockaden vermeiden.

Also verließen sie erst einmal die Hektik der Schule und fuhren nach Langhorst. Jo´s Oma hatte tiefes Mitgefühl mit den Jungs und machte ein gutes zweites Frühstück mit selbstgebackenem Brot, Eiern und Mettwurst aus der Hausschlachtung. Als sie damit fertig waren, zeigte die Uhr aber erst zehn. Jürgen schlug vor, zum Steinhuder Meer zu fahren. Dafür brauchte man so etwa eine Stunde. Jürgen fuhr aber hektisch und holte aus dem Opel des Vaters alles raus, so dass sie schon in fünfundvierzig Minuten dort waren. Montagmorgens war auf dem See nicht viel los. Sie sahen in der Ferne drei weiße Segel. Die Sonne war etwas verhangen, und das Seewasser roch modrig. Zunächst machten sie einen ausgiebigen Spaziergang entlang des Ufers, um sich dann auf eine Bank zu setzen. Bloß nicht über die Prüfung sprechen.

Sie sprachen über ihre Erwartungen an den Grenzschutz. Nachdem sie beide ihre Aufnahme zum ersten Oktober bestätigt bekommen hatten, hatten sie den schriftlichen Wunsch geäußert, bei derselben Einheit aufgenommen zu werden. Sie wollten die ganze Angelegenheit möglichst sportlich angehen und ihrer eigenen Linie treu bleiben. Dann ging es auch noch um die Frauen. Jürgen war schon seit zwei Jahren mit Petra zusammen. Er war neunzehn und sie achtzehn. Zwar mochten sie sich sehr, aber ihre Zukunftspläne waren doch unterschiedlich. Jürgen sah das weitere Leben zunächst noch als unbekanntes Abenteuer vor sich. Er wollte aus Lüdecke raus, studieren und etwas erleben. Petra dagegen hatte ihre Lehre bei der Sparkasse schon beendet und schielte nach einer Ehe mit Haus und Kindern. Es hatte in den letzten Monaten schon heftige Diskussionen zwischen ihnen gegeben, wie es nach dem Abi weitergehen sollte. Bei Jo war das anders. Die Beziehung zu Manuela lief eher auf Sparflamme. Klar, sie sah toll aus; und er war stolz, dass er sie erobert hatte. Aber sie war immer so kontrolliert. Obwohl sie fast zwei Jahre jünger war als er, wirkte sie erwachsener. Außerdem hielt sie ihn körperlich immer noch auf Distanz. Aber das erzählte er Jürgen nicht.

Sie überlegten, ob sie nicht vor der Einberufung noch einmal gemeinsam in Urlaub fahren sollten – nur sie beide alleine. Eigentlich kam der Vorschlag von Jürgen. Jo hatte bisher nur spärliche Urlaubserfahrungen. Er hatte ein paar Mal Campingurlaub mit seinen Eltern gemacht, an der Nordsee in Holland. Aber das war schon einige Zeit her. In den letzten Jahren hatte er in den großen Ferien gearbeitet. Nach den Ferien hatte die anderen Schüler der Klasse immer vom Urlaub in Italien oder Spanien geschwärmt. Er hatte dann nichts beizutragen gehabt. Alleine hätte er sich vermutlich auch nicht ins Ausland getraut. Aber Jürgen verfügte über Urlaubserfahrungen. Er war mit seinen Eltern auch schon in Paris und London gewesen. Deswegen glaubte Jo, von einer gemeinsamen Reise profitieren zu können.

Gegen drei Uhr brachen sie wieder auf nach Lüdecke. Als sie eine Stunde später am Leibniz-Gymnasium ankamen, waren die ersten Kandidaten von den Vormittagsprüfungen schon leicht angetrunken. Der sonst immer so vorlaute Jens hatte schon einen glasigen Blick. Er glaubte, in der Mathe-Prüfung versagt zu haben. In dem Fall würde ihm sein Vater, ein ziemlich dominanter Textilfabrikant, die Hölle heiß machen. Jutta hatte eine Physik-Prüfung hinter sich. Wie nicht anders zu erwarten, war es um die Brechgesetze in der Optik gegangen. Vonne hatte eine Lustprüfung hinter sich in Kunsterziehung. Gegenstand war die Renaissancemalerei in den Niederlanden – für Vonne ein Heimspiel.

Dann war Hotzenplotz plötzlich wieder aufgetaucht. Als er Jo sah, kam er sofort auf ihn zugeschossen und polterte in seiner unnachahmlichen Art: „Na, Hans-Joachim, Deutsch, ich hoffe, Sie haben noch den Tag genutzt, um sich auf Deutsch vorzubereiten. Deutsch wird gleich Ihr Schicksal sein.“ Jo hätte ihm am liebsten in den Hintern getreten. Aber er schluckte nur mehrmals und ging schweigend auf den Schulhof.

Pünktlich um achtzehn Uhr wurde er dann von Studienassessor Mönkeberg in den Vorbereitungsraum gerufen. Die Prüfungsaufgabe in Geschichte lautete: „Vergleichen Sie das 14-Punkte-Programm Wilsons mit dem Versailler Vertrag.“ Da der Geschichtsunterricht aus den bekannten Gründen mit dem Jahr 1929 geendet hatte, hatte sich die Klasse ziemlich lange mit dem ersten Weltkrieg und seinen Folgen beschäftigen müssen. Deshalb war das Thema auch für denjenigen, der im Unterricht einigermaßen aufgepasst hatte, keine besondere Herausforderung. Jo war wütend. Er war so wütend auf Hotzenplotz mit seinem Psychoterror, dass er dabei seine Prüfungsangst völlig vergaß. Als er vor der Prüfungskommission Platz nahm, legte er sofort los. Er redete fast ohne Unterbrechung zwanzig Minuten lang. Hotzenplotz unterbrach ihn nicht einmal. Hinterher fragte Jo sich, was wohl passiert wäre, wenn er ihn unterbrochen hätte. Er erhielt für seine Leistung eine Eins. Damit war das Abitur erledigt, jedenfalls der formale Teil. Alle Schülerinnen und Schüler hatten bestanden. Jürgen hatte in Englisch noch eine Drei gemacht, und Jens hatte sich wohl in Mathe mit Rücksicht auf den Vater durchgemogelt. Die Abiturprüfungen der Kurzschuljahre waren damit Geschichte.

Was jetzt folgte war das informelle Abschlussprogramm. Mit dem Beginn der Oberprima hatte sich schon abgezeichnet, dass aus dem losen Verbund von sehr unterschiedlich sozialisierten jungen Menschen eine doch relativ feste Gemeinschaft erwachsen war. Dieser soziale Gedanke wurde jetzt noch gefestigt, zumindest während der nächsten zwei Wochen.

Nach der letzten mündlichen Prüfung hatten zunächst alle Abiturienten ihre endgültigen Zensuren erfahren, wobei die Details an diesem Abend niemanden interessierten. Danach war eine kleine Feier bei Vonne vorgesehen, oder das, was man in großbürgerlichen Kreisen darunter verstand. Bei sommerlichen Temperaturen war auf der weitläufigen Terrasse ein großer Tisch mit bunten Lampions aufgebaut worden. Ein Mann in weißer Kleidung und mit einer Kochmütze auf dem Kopf bediente einen großen Grill und legte Mengen von Koteletts und Würstchen nach. Dazu gab es diverse Salate. Das ganze wurde als Barbecue bezeichnet. Jo sah bei einem Blick durch die offen stehende Küchentür, dass Clarissa bei der Vorbereitung der Speisen half.

Zum ersten Mal sah er Vonnes Vater, eine imposante Persönlichkeit, braungebrannt und mit silbergrauem Haar. Er wurde von allen im Haus als der Herr Professor bezeichnet. „Sie haben nun eine entscheidende Phase in ihrem Leben erfolgreich abgeschlossen. Das sollten Sie heute ausgiebig und fröhlich feiern. Ich wünsche Ihnen für die Zukunft viel Erfolg“, sagte der Professor und rauschte anschließend wieder ab – ein viel beschäftigter Mann.

Damit begann die Party, zunächst noch etwas verhalten. Jeder musste den anderen zuerst seine persönliche Version des Prüfungstages mitteilen. Unter dem reichlichen Zuspruch von Ravensberger Pils ließen dann die Verspannungen nach und man kam zu anderen Themen, nämlich zu den kurz-und mittelfristigen Zukunftserwartungen. Irgendwann saß Vonne neben Jo. Sie hatten sich schon eine Weile über belangloses Zeug unterhalten. Jo hatte unter dem ganztägigen Prüfungsstress, den vielen Zigaretten und Bieren schon einen leicht benebelten Kopf. Deshalb bemerkte er zunächst auch nicht so richtig, wie Vonne ihm ihr Herz ausschüttete. Ihr Freund machte zurzeit ein medizinisches Praktikum an einer Klinik in Bayern. Sie hatte ihn schon länger nicht mehr gesehen und zweifelte auch, ob er für sie noch der Richtige sei. Ein Bekannter ihres Vaters hatte berichtet, dass er sich an der Uni-Klinik in Münster mit Krankenschwestern vergnügt hätte. Sie hatte dann ihren Arm um ihn gelegt, wie selbstverständlich, und weiter geredet. Jo war etwas verdutzt wegen dieser Offenbarungen. Er wusste auch nicht, wie er darauf reagieren sollte. Was dann passierte, verschlug ihm fast den Atem. Vonne hörte mitten im Satz auf, festigte ihren Griff um seine Hüfte und kam ihm wie aus heiterem Himmel sehr nahe. Ihre Zunge drang zwischen seine Lippen und er erwiderte den Kuss, eine ganze Weile lang. Jo lief trotz seiner schon etwas eingeschränkten Wahrnehmung ein leiser Schauer den Rücken runter. Abrupt löste sie sich von ihm, stand auf und ging zu einem anderen Platz, als wenn nichts gewesen wäre. Er war irritiert.

Diese Veranstaltung war der Auftakt zu einer ganzen Reihe von Feiern, die in den nächsten Tagen noch stattfinden sollten. Dabei wurde spontan geplant, von einem Klassenmitglied zum nächsten zu ziehen. So gegen fünf Uhr morgens hatte man beschlossen, dass der zweite Abend in Langhorst bei Bauers stattfinden sollte. Wie diese Entscheidung entstanden war, ließ sich im Nachhinein nicht mehr genau feststellen. Jo hatte sich aber wegen des eingeschränkten Wahrnehmungsvermögens zum Schluss der Party offensichtlich nicht dagegen gewehrt. Als er am nächsten Mittag gegen eins in seinem Zimmer aufwachte, konnte er sich an diese Abmachung auch nur noch vage erinnern. Er konnte seiner Mutter dann eine gute und eine weniger gute Nachricht vermelden, die gute war, dass er der Erste in der Familie Bauer war, der das Abitur gemachte hatte und die zweite, dass in ein paar Stunden vermutlich seine Klasse zur nächsten Abi-Feier eintreffen würde.

Diese Meldung versetzte sowohl Mutter als auch Oma in helle Aufregung. Beiden war klar, dass junge Leute aus der Stadt kommen würden, vor denen man sich wegen der ländlich-bescheidenen Lebensart nicht schämen wollte. Außer Jürgen war noch niemand aus seiner Klasse jemals bei ihm zu Hause gewesen. Die Mutter sagte sofort ihre Nachmittagsbeschäftigung im Supermarkt ab, um sich ganz der Vorbereitung zu widmen. Sie hatte dann auch eine geniale Idee. So wurde das große Steilwandzelt im Garten aufgebaut. Eigentlich war es nur die äußere Hülle des Zeltes, mit dem die Eltern seit mehr als zehn Jahren in Sommerurlaub an die Nordsee fuhren. Das Zelt wurde so platziert, dass damit der Misthaufen und der Gemüsegarten aus dem Sichtfeld verschwanden.

Jo durfte mit Vaters Kadett zum Getränkemarkt fahren und ein 50-Liter-Fass Ravensberger Pils einschließlich Zapfanlage holen. Dann fuhr die Mutter los um einzukaufen, hauptsächlich Grillfleisch vom Metzger, während Oma Bohnensalat, Rote-Beete-Salat, Tomatensalat, Kartoffelsalat und eingelegten Blumenkohl produzierte. Gottseidank hatte sie am Vortag Brot gebacken, das noch frisch duftete und herrlich schmeckte. Dann wurden Campingstühle und -tische aus der gesamten Nachbarschaft eingesammelt und letztlich eine bunte Lichterkette quer durch das Zelt gezogen.

Jo verspürte vielleicht auch wegen des noch vorhandenen Restalkohols vom Vortag keine besondere Aufregung wegen der erwarteten Gästeschar. Dann fiel ihm aber noch ein spezielles Problem auf, nämlich die Frage der Toilettennutzung. Seine Großeltern wohnten unten im Haus. Sie hatten in der Waschküche noch eine Handpumpe, deren Pumpzylinder und Schwengel mit glänzendem Messing verkleidet sehr schön aussahen, aber nicht unbedingt den städtischen Komfortstandards entsprachen, genauso wenig wie das Plumpsklo, das vom Kuhstall abgetrennt direkten Zugang zur Jauchegrube hatte, ohne Geruchsverschluss. Jo versuchte, sich Vonne auf diesem Donnerbalken vorzustellen. Das ging auf keinen Fall. Er schnitt deshalb aus einer bunten Pappe Pfeile aus, die er durch den Flur, die Treppe hoch bis ins elterliche Badezimmer führte.

Als gegen halb acht die OIs in Langhorst eintraf, war das Bier angezapft und der Grill glühte. Es wurde eine schöne und sehr lange Feier. Jo´s Eltern ließen sich zu Beginn kurz blicken und begrüßten alle. Jo bemerkte bei ihnen eine gewisse Anspannung und Unsicherheit wegen der Gäste. Nach dem Essen musste die Oma noch kommen und Komplimente wegen der außergewöhnlich geschmackvollen Salate über sich ergehen lassen. Es ging dann wieder so bis zum Morgengrauen. Im Verlauf des Abends wurde die Toilettenfrage eher pragmatisch gelöst, indem die Jungs nach links an das angrenzende Roggenfeld pinkelten und die Mädchen rechts in den Hafer. Vonne hielt sich zu Jo auf Distanz. Der kleine Zwischenfall vom Vorabend blieb zwischen ihnen jedenfalls unerwähnt. Das Fass war fast leer als die fröhliche Runde zu Fuß und mit Rädern den Heimweg antrat. Oma hatte die ganze Nacht wohl kein Auge zugetan. Jedenfalls stand sie plötzlich hinter Jo und begann noch in der Morgendämmerung aufzuräumen.

In ähnlicher Weise ging es dann die nächsten Tage weiter. Man traf sich am Abend bei einem Mitschüler und feierte die ganze Nacht durch. Dabei erwiesen sich auch diejenigen, von denen Jo das vorher nicht unbedingt erwartet hatte, als ganz schön trinkfest, insbesondere die Mädchen. Vonne war zwischendurch für ein paar Tage nach London geflogen. Einmal waren sie morgens und halb sechs zum Fabriktor von Schmieder&Söhne gegangen, wo gerade der Schichtwechsel stattfand. Im ziemlich angetrunkenen Zustand hatten sie sich lustig gemacht über die arbeitende Bevölkerung, die hier in die kapitalistische Knechtschaft gezwungen wurde. Jo hatte ein paar Männer aus Langhorst erkannt und sich trotz seines Zustandes ein wenig über diese Überheblichkeiten geschämt. Sein Schwager Harald arbeitete auch dort, aber den sah er nicht, gottseidank.


Hey Joe

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