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III
ОглавлениеAm Donnerstag war Versetzungskonferenz gewesen. Die Lehrer der Oberstufenklassen waren auch nicht ganz sicher, wie sie bei der Benotung zum Ende des ersten Kurzschuljahres verfahren sollten. Nach den Osterferien waren die Schüler in die Unterprima versetzt worden und Ende November sollte es schon in die Oberprima gehen. Das Kulturministerium hatte für das einzigartige Verfahren zwar eine Menge Papier produziert, aber in der praktischen Umsetzung waren die Lehrer mal wieder auf sich alleine gestellt. Jule, deren Leistungskurve auch gerade im unterirdischen Bereich verlief, hatte gegenüber Studiendirektor Müller-Menke so beiläufig erwähnt, dass die Kurzschuljahre geradezu nach Verwaltungsklagen schreien würden. Das hätte sie von ihrem Vater gehört; und der war immerhin der Direktor des Amtsgerichtes. Müller-Menke war eigentlich Schülern gegenüber ein eher harmloses Lehrerexemplar, aber er war innerhalb und außerhalb der Schule für seine Geschwätzigkeit berüchtigt. Man nannte ihn auch „die städtische Kommunikationszentrale“. Deshalb hatte dieser Hinweis bestimmt schnell innerhalb des Kollegiums die Runde gemacht.
Nach der Versetzungskonferenz hatte Hotzenplotz plötzlich in der Klasse eine ganz neue Attitüde an den Tag gelegt. Offensichtlich besaß er eine bisher unterdrückte sadistische Ader, die er nun gegenüber seinen Schülern voll auslebte. „Hans-Joachim, Deutsch ist eine Kultursprache, die Sprache von Dichtern und Denkern. Wer sich nicht im Geringsten mit dem deutschen Kulturgut auseinanderzusetzen vermag, dem wird man wohl kaum die geistige Reife bescheinigen können; Deutschland hat auch einen Mangel an Bäckergesellen, Hans-Joachim“, polterte er vor versammelter Klasse. Jo war mal wieder rot geworden, aber diesmal, weil er so sauer auf diese Bloßstellung war. Und es gab nicht einmal was darauf zu antworten. Und so ging es weiter. Mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogener Stirn sah der Klassenlehrer noch zorniger aus als schon normal. So tigerte er durch die Klasse, die Hände auf dem Rücken verschränkt und steif nach vorne gebeugt. Es herrschte Totenstille. Da sein nächstes Opfer: „Melissa, würden Ihre Mathematikfähigkeiten zum allgemeinen Maßstab erhoben, dann begäbe sich die Menschheit auf das Niveau der Bronzezeit zurück. Nur mit schönen blauen Augen kann man im 20. Jahrhundert auch nicht bestehen.“ Der stechende Blick machte weiter die Runde, wobei es aus seinen Mundwinkeln leicht seiberte. Er genoss diese Situation: „Ach Jürgen, wer den neusprachlichen Zweig gewählt hat, der sollte doch zumindest in Englisch und Französisch eine Tasse Kaffee bestellen können. – Nein, nein, ich sehe ganz schwarz! Man sollte mit dem Schlimmsten rechnen.“ „Und Jutta, wie wäre es, wenn Sie einen kräftigen Jungbauern heiraten und den Hof Ihrer Eltern übernehmen anstatt sich ständig in Chemie und Physik zu blamieren.“ Hotzenplotz schoss bei seinen emotionalen Entgleisungen wieder das Tomatenrot ins Gesicht.
Etwa die halbe Klasse war von diesem Psychoterror betroffen. War die UIs bisher ein eher lockerer Haufen von Schülern mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten gewesen, die außer dem Schulbesuch wenig verband, so schweißte der gemeinsame Feind sie jetzt auf einmal enger zusammen. Sechs bis acht Schüler mussten befürchten, nicht in die Abi-Klasse versetzt zu werden, darunter auch Jo. Machte sich bei denen eine Resignation und Lethargie breit, so erfuhren sie doch auf einmal eine bisher unbekannte Solidarität der ungefährdeten Mitschüler. Das ging so weit, dass Yvonne, die Tochter des Chefarztes im Kreiskrankenhaus, Jo anbot, ihm Nachhilfe in Latein zu geben, wenn er es doch noch schaffen sollte. Bisher hatte er immer das Gefühl gehabt, Vonne hätte ihn überhaupt nicht wahrgenommen innerhalb der Klasse. Sie hatte einen Medizinstudenten als Freund und fuhr einen eigenen Renault Caravelle. Das war eine Frau der Oberliga. Diese Zuwendung tat ihm aber gut.
Neben der Niedergeschlagenheit wegen der drohenden Nichtversetzung kam aber auch das Gefühl der Rache auf. Diesem Arsch würden sie es schon zeigen. Erst machte er einen auf Kumpel, benutzte sie, um sich von seiner Frau davonzustehlen, und dann haute er sie plötzlich und gnadenlos in die Pfanne. Das konnte so nicht stehen bleiben. Aber es fiel ihnen auch keine geeignete Gegenmaßnahme ein. Ihm die Fahrradreifen zu zerstechen, wäre auch nur eine primitive Lösung gewesen. Auf dieses Niveau wollte sich niemand hinab begeben.
Am Dienstag hätte der Brief mit der Nichtversetzung zu Hause angekommen sein müssen. Jo raste nach der Schule mit dem Wagen nach Hause, was die alte Kiste noch gerade so hergab. „Oma, war der Briefträger schon da?“ Die Oma verstand die Frage nicht sofort. Normalerweise kam der Briefträger schon so gegen zehn. Offensichtlich war er noch nicht da gewesen. Als er um zwei immer noch nicht aufgetaucht war, war davon auszugehen, dass an diesem Tag gar keine Post kam. Damit schien die ganze Aufregung um die Versetzung eine neue Richtung einzuschlagen. Jo umarmte seine Oma, hob sie hoch und wirbelte sie zweimal um sich herum. „Oma, ich glaube heute ist ein guter Tag!“
Er hatte sich schon ausgedacht, im Falle seiner Nichtversetzung zu Hause auszuziehen. Dann wollte er sich eine Bude in der Nähe des Leibniz-Gymnasiums nehmen und eben eine Ehrenrunde drehen, um doch noch das Abitur zu schaffen. Jetzt aber schien die Angelegenheit sich abrupt anders zu entwickeln. Da sie kein Telefon zu Hause hatten, musste er sich persönlich bei den Mitopfern erkundigen, wie dort die Lage war. Er fuhr bei Jürgen vorbei; auch der hatte keine Post bekommen. Gemeinsam ging es zu Jule, dann zu Melissa. Dort telefonierte man mit Günter, Hermann, Marlies und Jutta, die ebenfalls auf Hotzenplotz Abschussliste standen. Niemand hatte Post von der Schule erhalten. Da der größte Teil von ihnen direkt in der Stadt wohnte, hätte dort in jedem Fall der Brief angekommen sein müssen. Es deutete alles darauf hin, dass die gesamte Klasse geschlossen in die Oberprima versetzt worden war. Die ganze Aufregung war also wohl umsonst gewesen. Und Hotzenplotz hatte sie alle auf eine ganz widerliche Art verarscht.
Jürgen und Jo hatten eine Kiste Bier besorgt, und Melissa fand im Keller zwei Flaschen Racke Rauchzart. Damit wurde in ihrem Zimmer die neue, unerwartete Schicksalswendung erst einmal gebührend gefeiert. Günter wusste: „Wenn wir diese Hürde genommen haben, dann schaffen wir auch das Abi. In der Abi-Prüfung lassen die uns nicht so schnell durchfallen, das würde nach außen dringen und das Bild der Schule in der Öffentlichkeit beschädigen. Trinken wir also auf unsere erfolgreiche Zukunft.“ Die nächsten acht Monate würde man also auch noch gemeinsam bewältigen; und dann würde ein neues Leben beginnen. Man beschloss, die Rache an Hotzenplotz aus strategischen Gründen auf die Zeit nach den Abiturprüfungen zu verschieben. Zu den nächsten AG-Abenden ging allerdings niemand mehr hin. Die Spannungen zwischen Schülern und Lehrer wurden damit von beiden Seiten totgeschwiegen. Hotzenplotz hatte wohl gemerkt, dass er zu weit gegangen war.
Von alledem hatten Jos Eltern nichts mitbekommen. Das hatte sie auch nicht zu interessieren; die Oma wusste allerdings etwas mehr, behielt es aber für sich. Auch die Freunde aus dem Dorf hatten natürlich keine Ahnung, aber die hätten das Ganze auch kaum verstanden.