Читать книгу Hey Joe - Leon Lichtenberg - Страница 13
XI
ОглавлениеEs war Ende Mai, und die schriftlichen Abiturprüfungen standen vor der Tür. Das war schon ein Hammer, in einer Woche mussten vier fünfstündige Klausuren geschrieben werden. Aber wie schon nach der Versetzung in die Oberprima vermutet wurde, waren die höchsten Hürden scheinbar schon genommen. Bei dem letzten Zwischenzeugnis Anfang April hatte Jo jedenfalls keine Fünf bekommen. Sogar in Latein hatte er mit der gütigen Hilfe von Vonne und eine paar Spickzetteln eine Vier ergattert. Da Latein kein schriftliches Abi-Fach war, hatte er jetzt sogar schon vorweg das große Latinum. Damit hätte er im Prinzip sogar Theologie oder Medizin studieren können. Aber das waren wirklich nur theoretische Überlegungen.
Die Prüfungen begannen mit Mathe. Das war kein sonderlich großes Problem für ihn. Er rechnete mit einer soliden Drei. Danach war Französisch dran. Das war schon schwieriger, aber Jo hatte sich in den letzten Monaten einen begrenzten Grundwortschatz angeeignet, mit dem er auch kompliziertere Sachverhalte geschickt umschreiben konnte. Das klang dann zwar nicht besonders elegant, führte aber dazu, dass unter dem Strich nur wenige Fehler standen. Die Zahl der Fehler war aber der entscheidende Maßstab zur Bewertung. Das war so simpel. Auch da war also nicht mit einem Abrutschen zu rechnen. Dann kam Deutsch. Davor hatte er echten Bammel. Zwar gab es eine Auswahl zwischen drei verschiedenen Aufgaben, aber bei Hotzenplotz wusste man nie, was er sich so ausgedacht hatte.
Es kam dann auch schlimm. Die Auswahl bestand zwischen der Interpretation eines Gedichtes von Wolfgang Borchert, einer saublöden und völlig unbekannten Kurzgeschichte von Kafka sowie einem Textauszug eines Werkes von Ortega Y Gasset. Den letzten Namen hatte Jo noch nie gehört. In dem Text von fast zwei Seiten ging es um das Individuum in der Masse. Die Vorstellung, über eines der Themen den ganzen Vormittag etwas Sinnvolles zu schreiben, lähmte ihn. Er saß eine halbe Stunde vor den Blättern, ohne sich entscheiden zu können.
Dann nahm er die Textanalyse in dem Glauben, er könne ein paar Seiten damit füllen, den Inhalt zunächst mit eigenen Worten wiederzugeben. Bei der Interpretation suchte er dann Bezüge zur Geschichte des Dritten Reiches. Er kam zu der These, dass Massenphänomene die individuellen Sicht- und Verhaltensweisen überdeckten und den einzelnen gefügig machten. Nur die ganz starken Charaktere könnten sich dem entziehen. So waren die Deutschen zu einem Volk von begeisterten Mitläufern geworden. Als er dann die immerhin neun gefüllten Seiten am Ende noch einmal durchlas, waren ihm doch erhebliche Zweifel an seinem Geschreibe gekommen. Bei Hotzenplotz war im Unterricht nie so richtig dessen gesellschaftlich-politischer Standpunkt durchgekommen. Gut, er war noch ziemlich jung und hatte Nazi-Deutschland nur als Kind und Jugendlicher erlebt. Ihn eines unreflektierten Mitläufertums zu bezichtigen, würde ihn deshalb wohl nicht treffen. Bei den älteren Lehrern wäre er da sicherlich vorsichtiger gewesen. Päffken hatte jedenfalls früher mal im Unterricht geäußert, bei Hitler wäre nicht alles schlecht gewesen. Und keiner von den Schülern hatte es gewagt, dem zu widersprechen. Aber was Hotzenplotz wirklich für eine Einstellung zu Vergangenheit und Gegenwart hatte, war nie herausgekommen. Jo hatte deshalb ein mulmiges Gefühl nach Abgabe der Arbeit.
Die letzte Arbeit war dann in Englisch gewesen. Da hatten sie eine Nacherzählung zu schreiben, nachdem der Text zweimal vorgelesen worden war. Dazu hatten sie dann zwei Fragen zu den Textinhalten mit eigenen Meinungen und Einschätzungen zu beantworten. Das ging Jo mit der gleichen Strategie an wie schon in Französisch.
Am Freitagnachmittag war dann eine Last von allen abgefallen und sie waren nach der Schule noch zusammengeblieben. Yvonne hatte aus dem Schulbüro zu Hause angerufen und die Ankunft der gesamten Klasse angekündigt. Sie waren dann zu der Villa gefahren, die Jo schon von seinen Nachhilfestunden kannte. Vorsichtshalber hatte er seinen Wagen etwas abseits geparkt und die Pappe unter den Motor gelegt. Weil die Sonne schien, war die gesamte Gruppe auf die Terrasse geleitet worden. Dort standen geflochtene Gartenmöbel für mindestens zehn Personen. Für den Rest hatte man schon Gartenstühle dazugestellt. Auf einem Tisch standen Sektgläser und in einem großen silbernen Kübel ein paar Flaschen Henkell Trocken.
Die Haushälterin, von der Jo schon Tee kredenzt bekommen hatte, erschien und schenkte den Sekt ein. Dann kam auch noch Vonnes Mutter, die Jo bisher noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Sie war eine elegante Frau in einem eng geschnittenen grauen Kostüm. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie sich aktiv an der Hausarbeit beteiligen würde. „Ich möchte mein Glas erheben und anstoßen auf den Abschluss der Abiturprüfungen. Ihnen allen wünsche ich, dass Sie ihre selbstgesteckten Ziele damit erreicht haben.“ Nach diesem kurzen Trinkspruch nippte sie kurz an ihrem Glas. „Frau Doktor, darf ich jetzt die Schnittchen servieren?“, meldete sich die Haushälterin. „Selbstverständlich, Clara, die jungen Leute werden doch Hunger haben. Ich muss mich leider verabschieden. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Nachmittag.“ Mit diesen Worten verschwand die Frau Doktor, wobei Jo nicht klar war, ob sie wohl selber Ärztin war oder sich nur mit dem Doktortitel ihres Mannes dekorierte.
Die Terrasse ging in einen Park über, der sich über einen Hang zog. Eine riesige nutzlose Rasenfläche wurde von Sträuchern und Blumenbeeten begrenzt. Von seinem eigenen Zuhause kannte Jo nur Gartenflächen, die für irgendetwas nützlich waren. Zwar hatten sie an der Straße auch einen kleinen Blumengarten, aber hinter dem Haus befand sich eine Wiese, die der Opa im Sommer mit der Sense mähte, um Grünfutter für die Kühe und Schweine zu haben. Außerdem standen dort Kirschen-, Pflaumen-, Birnen- und Apfelbäume. Daneben gab es einen großen Gemüsegarten, in dem seine Mutter und Oma den größten Teil des Jahres arbeiteten, um die Versorgung sicherzustellen. Außerdem gab es noch einen Hühnerhof am Haus. Und hier war eine Fläche, die mindestens genauso groß war, einfach nur so für nichts da. Sie musste sogar noch von einem Gärtner gepflegt werden. Der mühte sich gerade mit einem Rasenmäher ab.
Von weitem erkannte Jo, dass es sich bei dem Gärtner um Erwin handelte, einen etwas älteren Mitspieler aus der Reservemannschaft von Tura. Als der mit seinem Mähgerät näher kam, ging Yvonne auf ihn zu: „Herr Hodding, vielleicht können Sie erst einmal etwas anderes erledigen. Ihre Arbeit stört uns doch etwas.“ Erwin hatte nur unterwürfig genickt und sich dann verzogen, nicht ohne vorher einen Blick auf die Gesellschaft zu werfen und dabei natürlich auch Jo zu entdecken. Er wagte aber nicht, sich ihm zu erkennen zu geben. Jo hob auch nur schwach die Hand zum Gruß. Vermutlich würde es in Langhorst nun die Runde machen, dass Jo jetzt Zugang zu den besseren Kreisen bekommen hätte. Aber er war in letzter Zeit auch nur noch selten im Dorf unterwegs gewesen. Didi war mittlerweile bei der Marine, und Fußball spielte er auch nur noch, wenn wirklich Not am Mann war.
Sekt war vielleicht ein geeignetes Getränk, wenn man in feineren Gesellschaften belanglos plaudern wollte, aber es war nichts gegen den Durst von ausgelaugten Abiturienten. Deshalb verabschiedete sich der harte Kern, das heißt fünf Jungs und drei Mädchen der Klasse, nachdem auch das letzte Schnittchen von der Platte verschwunden war. Man beschloss, mit einer Kiste Bier im Stadtpark die immer noch vorhandenen Spannungen aus dem Körper zu vertreiben. Jo war natürlich auch dabei. Nach Hause schaffte er es dann nicht mehr, nachdem es nicht bei der einen Kiste geblieben war. Er schlief bei seinem neuen besten Freund Jürgen, mit dem er vermutlich auch die nächsten eineinhalb Jahre beim Grenzschutz verbringen würde. Am Wochenende musste er sich mal wieder etwas intensiver um Manuela kümmern. Die hatte er wegen der Schule etwas vernachlässigt.