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Meine Schwester und ich

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Wir verarmten und zogen in eine Parterrewohnung am Donaukanal. Ein Abstieg für die Erwachsenen –, da ich aber ein Kind von sieben Jahren war, wohnten wir natürlich herrlich in einem Hause mit vielen Kindern, nahe der Donau, und vom Zimmer aus konnte man direkt in den Hof gehen.

Im Hof lagen Bretter vom Tischler, ein Schuppen war da, eine Katze und in einer Ecke ein Grab mit einem Kreuz. Hier ruhte in einer Zündholzschachtel eine grüne Heuschrecke. Sie hatte sich hierher verirrt, war verschieden und kam durch mich ganz unerwarteterweise zu einem christlichen Begräbnis.

Im Winter erlaubte mir die Hausmeisterin, im Hofe Schnee zu kehren. Der Lehrbub vom Tischler lieh mir einen von seinen Schlittschuhen – mit dem zweiten lief er. Ich habe später nie richtig Schlittschuh laufen gelernt, das heißt: mit dem rechten Fuß lief ich wundervoll, aber der linke hat es nicht mehr erfaßt, er war es von Jugend auf nicht gewöhnt.

Ich fühlte mich also gar nicht arm, und die Kinder, die ohne Hof, Straße und Donau aufwachsen, tun mir heute noch leid. Für Kinder kann doch Reichtum nur etwas Hemmendes und Lästiges sein.

Ich wäre also soweit ganz zufrieden gewesen, aber leider hatte ich eine Schwester, die um sieben Jahre älter war. Ob reich, ob arm – eine ältere Schwester ist schrecklich. Sie fühlt sich erwachsen, übernimmt Muttersorgen, weiß alles besser, ist unerbittlich, und wenn sie nicht doch noch von der Mutter ab und zu eine »fangen« würde, wäre ihre Würde schlechthin unerträglich.

Sie sagt: »Was wünschest du dir zu Weihnachten?« »Eine Puppe«, sage ich. »Eine Puppe?« sagt die Schwester verächtlich und höhnisch. »Gott, wie kindisch!« Ich sage: »Keine so gewöhnliche Puppe! Sie muß als Braut angezogen sein, ein Atlaskleid haben, einen Schleier, einen Kranz und blonde Haare, die man wirklich kämmen kann.«

»Ja«, sagt die Schwester überlegend, »vielleicht könntest du eine solche bekommen, das heißt, wenn ich mit dem Christkindl rede. Aber von morgen an mußt d u in der Früh die Milch und die Semmeln holen.« (Sonst ein Nachteil der älteren Schwester.)

Auf der Straße war es kalt, finster und unheimlich. Nach acht Tagen bat ich meine Schwester, lieber an das Christkindl zu schreiben. Aber sie sagte, sie halte von Briefen gar nichts, das müsse sie persönlich besprechen, und solche Protektion wäre das Sicherste. So holte ich weiter Milch und Semmeln, und die Schwester lag bis Viertel acht im Bett.

Dann kam der Weihnachtsabend.

Und da stand sie wirklich, die weiße Braut. Ich war so fassungslos, daß alle lachten, ich lachte ein wenig mit, und dann warf ich mich weinend in die Arme meiner Mutter. Die Schwester sagte: »Nimm sie doch! Schau sie doch an! Nimm sie doch!« Aber ich weinte meiner Mutter ins Ohr: »Ich will ins Bett!« Als ich im Bette lag, hörte ich noch, wie meine Schwester sagte: »Sie ist gar kein richtiges Kind.« Sie war entsetzlich enttäuscht.

In der Nacht, als alle schliefen, stand ich leise auf und holte mir die Puppe ins Bett.

Nun war ich mehr als zufrieden – ich war glücklich. Als ich am nächsten Tage in den Hof kam, die Puppe am Arm, erregte ich große Bewunderung bei den Mädchen, aber die Buben sagten nur »Pfui Teixel« und liefen an die Donau.

Die Braut allein zu Hause lassen, wollte ich nicht, zum Halten konnte ich sie niemand anvertrauen, so lief ich denn einige Tage noch so mit, als Ausgeschaltete, Überflüssige, und zog mich dann ganz in den Schuppen zurück. Die Katze hatte sich uns zugesellt, und wir drei waren nun ganz auf uns selbst angewiesen. Die Kinder hatten mich bald vergessen, mich, die am besten springen konnte, die im Wettlaufen drei Radiergummi und acht ausgeschriebene Schulhefte gewonnen hatte. »Sie werden schon kommen«, dachte ich anfangs, aber sie kamen nicht.

Ich hielt aber wirklich wochenlang, monatelang in dem Winkel aus, ich, die gewohnt war, auf der Straße zu leben, im Freien, ich, die nie etwas vom Familienleben gehalten hatte.

Welches Ansehen hatte ich bei den Gassenbuben genossen und wie weit war es jetzt mit mir gekommen! Sie wagten es, mir auf dem Schulwege nachzuschreien: »Puppengretl!« »Die Katzenmutter spielt sich mit Puppen!« Aber ich hielt aus, ich war glücklich, wenn auch nicht mehr ganz zufrieden.

Und eines Tages nahm ich der Braut den Schleier und den Kranz ab, riß ihr das Kleid herunter, denn sie war ein für allemal als Braut angezogen und konnte nicht umgekleidet werden, und ließ die Sägespäne aus ihrem Bauche laufen, bis Arme und Beine schlaff wurden, dann warf ich den Balg in eine Ecke.

»Wir wollen Räuber und Gendarmen spielen«, rief ich schon von weitem in den Hof hinein; ich fühlte, es mußte etwas Besonderes geboten werden. Es war kein alltägliches Spiel, da durfte man sich in allen Häusern der ganzen Straße verstekken, auf allen Böden, in allen Kellern.

Ich war »Räuber«, und im Elferhaus wurde ich fast gefangen, hätte ich nicht den Mut gehabt, eine fremde Wohnungstür zu öffnen und einzutreten. Zum Glück waren so viele Leute gekommen, sich eine Tote dort noch einmal anzusehen, daß ich mich die längste Zeit aufhalten konnte, ohne bemerkt zu werden.

Ich wurde nicht gefangen, ich hatte gesiegt. Stolz und mit mir selbst zufrieden kehrte ich zur Nachtmahlzeit zur Familie zurück.

»Wo ist deine Puppe?« fragte die Schwester.

»Ich brauche keine Puppe mehr«, sagte ich kalt.

Meine Schwester warf meiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. Es konnte doch jetzt kein Zweifel mehr darüber walten, daß dieses letzte Kind kein richtiges Kind geworden war.


Die zweite Geschichte war so arg, daß meine Mutter meiner Schwester lange Zeit nicht in die Augen sehen konnte, aus Scham, daß ich auch ihre Tochter sei.

Meine Schwester besaß ein großes Osterlamm aus weißem glitzerndem Zucker. Der Boden, auf dem es stand, war grün bemalt, und es war kein Zweifel, daß dies Gras vorstellen sollte. Neben dem Lamm stand eine Fahne aus roter Seide. Dieses Lamm zu besitzen, war meine ganze Sehnsucht, und das war auch so ziemlich der einzige Wert, den es für meine Schwester hatte. Das Lamm hatte nämlich sonst Fehler, es war, um offen zu sein, sehr staubig, man könnte sogar »dreckig« sagen, und meine Schwester mußte zu Hause Staub abwischen (ein Nachteil der älteren Schwester).

Sie erklärte also eines Tages so ganz nebenbei, sie hätte die Absicht, das Lamm zu verschenken. Genoß meine Aufregung und ihre Macht und verstand es wirklich, eine große Sache daraus zu machen. Sie verteilte an alle Kinder des Hauses Lose; Ziehung am Ostersonntagmorgen im Hof! Ich trug den kleinen Zettel immer bei mir und sprach tagelang nur mit dem lieben Gott, er solle an mein Los denken und mir helfen, und versprach, dafür brav zu sein.

Bei der Ziehung war meine Schwester sehr feierlich und schüttelte den Topf mit den Losen endlos lange, alle Kinder umdrängten sie, nur ich stand abseits und sprach noch einmal ein ernstes Wort mit dem lieben Gott.

Endlich zog meine Schwester den Zettel heraus und darauf stand Lina! Das war ich! Dann zerriß sie den Zettel ohne weitere Erklärung, sagte nur: »Das gilt nicht!« und schenkte mein Lamm dem kleinen Mädchen vom ersten Stock, das einen Lackhut aufhatte, wenn es regnete; das alles ging so schnell, und doch werde ich es mein Leben lang nicht vergessen.

Was war geschehen? – Eine Ungerechtigkeit wurde begangen, ein Wort wurde gebrochen. Wurde aber deshalb ein Kinderherz verbittert? Wurde Grund gelegt für spätere böse Dinge des Lebens? Nein; nichts von alledem! Ich war tief davon überzeugt, daß der liebe Gott für mich war – er hatte es mir doch deutlich gezeigt. Nur meine Schwester war gegen mich und den lieben Gott, gegen uns beide; da konnte man eben nichts machen. Aber ich war so stolz auf diese Freundschaft, daß ich meiner Schwester einfach ins Gesicht lachte.

Sie war sprachlos …

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