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Der Mann, der nur glücklich sein wollte

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Die Menschen wollen reich sein oder berühmt oder mächtig, ohne viel dazu zu tun; sie möchten geliebt werden, eigentlich auch nur so für nichts und wieder nichts. Aber so einfach ist es im Leben nicht.

Ihr Wollen ist gewöhnlich ohne jede Voraussetzung.

Ich denke jetzt an die beiden armen hungrigen Männer, die bei Sacher vorbeigehen. Der eine wirft einen wehmütigen Blick hinein und sagt: »Wie gern möchte ich wieder einmal da essen«, und der andere fragt voll Erstaunen: »Hast du denn schon einmal bei Sacher gegessen?« – »Nein, aber gemocht habe ich schon einmal.«

Aber einem Menschen bin ich begegnet, der wirklich etwas Wünschenswertes erstrebte, der es sich Zeit und Geld kosten ließ, um den für seine Person glücklichsten Zustand zu erreichen.

Die Geschichte ist viel zu wahr, um nicht grotesk zu sein; unbegreiflicherweise kümmert sich das Leben gar nicht um unsre Meinung.

Dieser Mann war jung, reich, Fabrikbesitzer, verheiratet, ein angesehener Bürger in den geordnetsten Verhältnissen. Wann die sonderbare Idee in seinem Gehirn entstand, zu alldem auch noch glücklich zu sein, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls beschloß er, auf keinen Fall so weiterzuleben. Um seine Frau ein wenig aufzurütteln, nahm er sich eine Freundin; seine Frau drückte ein Auge zu, alles blieb beim alten. Nun begann er sich mit seiner auffallend schönen Freundin überall öffentlich zu zeigen. Seine Frau wurde jetzt schon gezwungen, beide Augen krampfhaft zuzudrücken, aber alles blieb ohne Bewegung. Da wurde er ungeduldig.

Zu einer großen Festvorstellung kaufte er seiner Frau eine prächtige Abendtoilette mit einem ganz besonders aparten Kopfschmuck und begleitete sie in eine Loge. Nachdem er mit Genugtuung die bewundernden Blicke der Premierenbesucher festgestellt hatte, verschwand er, aber nur, um in der großen Pause mit seiner Freundin wieder aufzutauchen, die sich zu ihrem eigenen Erstaunen vollständig gleich gekleidet sah mit einer Dame in der gegenüberliegenden Loge. Die Augen dieser Frau waren jetzt übernatürlich weit geöffnet! Ganz Wien lachte damals über diesen Einfall.

Aber jetzt kam Bewegung in sein Leben.

Die Familie war er mit einem Schlag los. Das Vermögen wurde geteilt, und er begab sich schon wesentlich erleichtert auf Reisen, um sich zuerst einmal die Welt zu besehen.

Nach zwei Jahren kam er nach Wien zurück, strahlend vor Begeisterung; die Schönheit unsrer Erde hatte alle seine Erwartungen übertroffen. Geld hatte er zwar keines mehr, was ihn nicht im mindesten zu bedrücken schien.

Aber wie das Leben schon merkwürdig ist, diese Freundin war nicht nur jung und schön, sie war auch ein guter und anständiger Mensch. Sie verkaufte ihren ganzen herrlichen Schmuck, ihre kostbaren Pelze, die sie im Laufe der Zeit von ihrem Freunde erhalten hatte, und eröffnete ein Kaffeehaus, das durch seine Pracht eine Sensation für Wien wurde. Nun wurde wieder drauflosgelebt. Er war bei jedem Rennen, war überall mit seiner Freundin zu sehen, wo es gut und teuer war.

Zaghafte Bemerkungen ihrerseits, ob es genüge, ein Geschäft zu besitzen, oder ob man es nicht vielleicht auch führen müsse, wehrte er als lästige Vorurteile ab.

Es war kein Jahr vergangen, als sich herausstellte, daß die Ausgaben weit die Einnahmen überschritten. Nun kam eine traurige Zeit. Er war gezwungen, im Geschäft zu bleiben, Gäste zu begrüßen, die er nicht sympathisch fand, Wünsche zu respektieren, die ihn nicht interessierten, eine Ergebenheit zu markieren, die er nicht empfand. Niemand war glücklicher als er, als die Leute anfingen wegzubleiben. Als sich dann doch jemand fand, der sich bereit erklärte, alle seine Schulden zu übernehmen und das Geschäft dazu, war er fast wunschlos. Aber nicht genug, gerade in dieser Zeit bot sich für seine Freundin eine günstige Gelegenheit, eine vorteilhafte Heirat; sie schlug ein. Unser Mann verließ Hab und Gut, frei, unabhängig und sorglos wie ein Vogel.

Nun hörten wir lange nichts von ihm.

Eines Tages tauchten sonderbare Gerüchte auf, man hätte ihn da und dort als Straßenkehrer gesehen, Genaues wußte niemand, bis es zur unleugbaren Tatsache wurde: er kehrte Straße und Gehsteig vor dem Lokal, dessen Besitzer er früher gewesen.

Die Gäste beratschlagten, wie man sich in diesem außergewöhnlichen Fall verhalten solle, ob man ihm taktvoll aus dem Wege gehen oder ob man ihn durch einen Gruß beglücken müsse.

Wieder kam es anders, als man erwartet hatte.

Sowie er einen seiner früheren Bekannten erblickte, winkte er schon von weitem mit seinem Besen, schüttelte allen hocherfreut die Hand, lachte über das ganze Gesicht, versicherte, daß es ihm ganz gut gehe, wobei seine treuherzigen blauen Augen lügelos offen keinem Blick auszuweichen suchten. Nur manches Mal verzog sich auf ein paar Sekunden sein Gesicht zu einer angewiderten Grimasse: »Fad is ’s Arbeiten …«

Nach einiger Zeit, als die Menschen schon anfingen, sich an diesen irgendwie beleidigend vergnügten Mann zu gewöhnen, der so neidlos jedes Avancement andrer hinnahm, daß man selbst an der eigenen Wichtigkeit zu zweifeln begann, fing er an, mysteriöse Bemerkungen von sich zu geben, es wäre noch nicht aller Tage Abend, seine Zeit würde auch noch kommen, und das Leben gehe eben bald abwärts, bald aufwärts usw.

Niemand konnte erraten, was er vorhabe.

Doch eines Mittags erschien er ganz unerwarteterweise bei uns in der Wohnung. Es waren meine Eltern, die ihm das Kaffeehaus abgekauft hatten, und er wurde ein Freund unseres Hauses. Er war in einer unbeschreiblich guten Laune, umarmte meine Mutter und rief wiederholt: »Gratulier mir, Karolin, gratulier!« und spannte meine Mutter mit dunklen Reden auf die Folter: »Ich bin ja doch Bürger von Wien schließlich, und Protektion hat man doch auch noch, wenn es nötig ist, schließlich bin ich doch wer …«

Meiner Mutter war schon ganz schlecht vor Neugierde, sie unterbrach rücksichtslos seine wunderbare Einleitung: »Jetzt sagst du mir sofort, was geschehen ist; hast du den Haupttreffer gemacht?«

»Aber geh, Karolin, was hab ich denn von einem Haupttreffer, was glaubst, wie lang sich das Geld bei mir halten möcht, und dann geht die ganze Gschicht von vorn an? Nein, viel mehr: denk dir, ich brauch nichts mehr zu arbeiten, nie mehr mein ganzes Leben lang; weißt, wo ich bin, Karolin? In der Versorgung! Mit fünfunddreißig Jahren, mit der Kraft, schau mich an«, und er reckte sich, daß alle Knochen krachten: »Ja a Glück muß man haben, bist starr, was, Karolin?«

Meine Mutter wurde ganz verwirrt durch seine Reden. »Ich hab keine Sorgen wegen dem Zins, ich hab mein Essen, kann den ganzen Tag machen, was ich will, brauch mir keine faden Reden wegen arbeiten anhören, ich bin ein Privatier ohne Angst um die Kapitalsanlage! Alles dem Bürgermeister sei Sorg; auch eine Idee, Bürgermeister werden, was der für Scherereien haben muß, nicht auszudenken! Wenn du mir beispielsweise jetzt fünf Gulden schenken würdest, Karolin, für kleinere vorherzusehende Nebenausgaben, wüßte ich faktisch nicht, was ich mir noch wünschen sollte.«

»Fünf Gulden sind viel Geld«, fühlte sich meine Mutter verpflichtet zu sagen, während sie schon ihr Portemonnaie suchte.

»Ja freilich, wenn man dafür arbeiten muß, schon, aber an und für sich sind fünf Gulden gar kein Geld für einen Kavalier! Du hast natürlich Sorgen mit dem Geschäft; wenn ich nur wüßte, wozu die Leute immer wieder Geschäfte aufmachen, nachher sagt ja doch jeder, es geht nicht. Aber wenn ihr nur alle arbeiten könnts.« Er sah meine Mutter mit einem so bedauernden und überlegenen Blick an, als hätte er jede Hoffnung aufgegeben, sie je in der Versorgung zu sehen.

»Ich arbeit für meine Kinder«, beeilte sich meine Mutter entschuldigend zu erwidern.

»Ah, da kann ich dir auch einen guten Rat geben, laß sie was lernen, du glaubst nicht, wie mir das hilft, daß ich Französisch und Klavier spielen kann; also das Französische brauch ich nicht, aber das Spielen! Abends im Gasthaus unterhalten wir uns großartig, ich spiel Klavier, sie zahlen mir den Wein, ich bin lustig, und die anderen denken an ihre Sorgen.« Er sah mich an: »Du, Lina, bist noch zu jung, aber glaub mir, man kann nie wissen, wozu man eines Tages die Bildung brauchen kann.«

Sein Ideal war: von der Schule direkt in die Versorgung, kein Vertrödeln der Zeit mit Wünschen, die gar nicht wünschenswert sind.

Meiner Mutter wurde es unheimlich, sie zog mich an sich und sagte ablenkend: »Willst du bei uns zu Mittag essen?«

»Nein, ich dank dir schön, aber ich muß jetzt gehen.« Bei der Tür wandte er sich noch einmal um, blinzelte mir lustig zu und sagte: »Weißt du, wo ich jetzt hingehe, Karolin, mit deine fünf Gulden? Zu ›Meißl und Schadn‹ auf ein Rindfleisch; privat ist es nie so saftig, wie ein gutes Rindfleisch sein muß.« Ehe meine Mutter ihren weitgeöffneten Mund nur halbwegs geschlossen hatte, hörten wir ihn schon auf der Stiege singen, den Mann, der nichts wollte als glücklich sein.

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