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Unsre Mutter

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Ich kann mir eine bessere Mutter als die unsre gar nicht denken. Sie hatte die einzig richtige Erziehungsmethode, die es gibt: sie war uns ein ständig gutes Beispiel. Ließ uns Bewegungsfreiheit und freute sich über unsre wilden Entwicklungskräfte.

»Ja«, sagte sie einmal in einer philosophischen Anwandlung, »wenn die Kinder von mir allein wären, möchte ich schon wissen, was für sie das beste ist, aber sie sind doch von zwei verschiedenen Menschen. Wer kann wissen, was dabei herausgekommen ist.«

Sie hatte viele schwere Schicksalsschläge erlitten, aber sie blieb immer mutig und hat ihr Leben so tapfer zu Ende gelebt wie kaum ein Mensch.

Geheimnisse vor Mutter gab es einfach nicht, sie lebte unser Leben mit, blieb jung dabei und war der zuverlässigste Kamerad, den man sich nur denken konnte. Sie stammte aus einem reichen niederösterreichischen Bauernhof, hatte etwas Klavier und ein wenig Französisch gelernt; im übrigen wurde sie nicht viel mit Bildung beschwert. Sie behielt ihr ganzes Leben eine so merkwürdige einfache, natürliche Denkungsweise, die oft die lustigsten Aussprüche ergab. Es verband sich in ihr glücklich ein angeborner künstlerischer Instinkt mit einem ausgesprochenen Mut zum ureigensten Urteil, und wenn wir Kinder »Muttergeschichten« erzählten, lachte sie herzlich mit. Nannte uns dann »respektlose Fratzen«, fügte aber versöhnend hinzu, »aber was, besser als fade Kinder«.


Mutter war eine begeisterte Kaffeesiederin; sie liebte ihren Beruf und war schwer von Wien fortzulocken.

Aber einmal machte ich eine kleine Sommerreise mit ihr; wir kamen nachts in Salzburg an. Morgens um zehn Uhr weckte sie mich und sagte:

»Du liegst noch im Bett, und ich bin schon in vier Kaffeehäusern gewesen; hier kann ich übrigens nichts lernen; fahren wir fort!«

Wir fuhren nach Karlsbad; das Café P. dort imponierte ihr außerordentlich; sie war Aug und Ohr. War so vertieft, daß sie, als zwei Billardspieler ihre Partie beendet hatten, zum großen Erstaunen der noblen Kurgäste laut durch das Lokal rief: »Abmarkieren!«

Ich machte ihr daraufhin den Vorschlag, nach Hause zu fahren.

Niemand war erfreuter als sie.


Mutter lebte ganz in der Führung der Kaffeehausgeschäfte. Wenn irgend etwas nicht in Ordnung war, regte sie sich fürchterlich auf. Wir besorgten, daß ihr die Aufregung schade; infolgedessen beschloß meine ältere Schwester, mit Mutter zu einem Seelenarzt zu gehen. Das war damals gerade Mode und meine Schwester daher begeistert davon. Mutter wurde in einen Sessel gesetzt, meine Schwester stand hinter ihr.

Der Arzt sprach beruhigend und eindringlich auf Mutter ein:

»Ja, liebe Frau, Sie nehmen die Dinge zu ernst; mein Gott, wenn jemand etwas im Kaffeehaus nicht bekommt, das ist doch keine solche Sache, Sie müssen alles leichter nehmen …« usw.

Mutters große blaue Augen wurden immer größer und größer.

Als er aber leicht humoristisch sagte: »Nun, was liegt schon daran, wenn ein Gast nicht sein gewohntes Kipfel zum Kaffee bekommt?«, sprang sie mit einem Satz in die Höhe.

»Sie, ich werde Ihnen etwas sagen: Ich soll mich nicht aufregen, wenn ein Gast sein Kipfel nicht bekommt; ja, über was soll ich mich denn dann aufregen? Ich verstehe mein Geschäft. Gott sei Dank! Und wenn Sie glauben, daß Sie Ihr Geschäft mit solchen Ansichten führen können, dann können Sie mir leid tun! Adieu!«

Und draußen war sie.

Als meine Schwester eine halbe Stunde später ins Kaffeehaus kam, saß Mutter bereits stolz an der Kassa. Sie lächelte der Schwester spitzbübisch zu und sagte leise:

»Er ist sehr erschrocken; hat er sich schon beruhigt, der Seelendoktor?«


Eines Tages bat mich Mutter um ein Buch. Ich hatte aber alle in meiner Sieveringer Wohnung, nur ein Band Grillparzer fand sich vor. Trotz meiner Warnung fing sie an zu lesen. Nach einer Weile nahm sie die Brille ab, sah mich sehr erstaunt an und sagte:

»Woher kommt das eigentlich, daß Prosa in Versen ganz unverständlich wird?«


Sie war immer sehr damit einverstanden, daß alle ihre Kinder künstlerische Berufe erwählt hatten. Sie sagte oft: »Sorgen habt ihr mir ja genug gemacht, aber das tut nichts!«

Als sie aber einmal ihren Bruder traf, der den Bauernhof der Großeltern übernommen hatte, war sie ganz entsetzt, als sie hörte, daß der jüngste seiner sechs Buben – fünf waren brave, solide Kaufleute, Offiziere geworden – Maler werden wollte. Sie sagte:

»Nein, so etwas! Die Tante Resi weint sich auch die Augen aus, so ein Unglück! Ja, da kann man nichts machen. In jeder Familie kommt eben etwas vor!«

Oder sie liest in der Zeitung ein Inserat: »Musikalische Edelsteine«, schüttelt mißbilligend den Kopf und sagt zu mir: »Glaubst du an solche Dinge?«

Mutter hatte oft von der Hofrätin B. Z. sprechen gehört. Als sie sie persönlich kennenlernte, konnte sie sich vor Erstaunen gar nicht fassen. Sie sagte:

»Ich weiß nicht mehr, was ich mir vorgestellt habe, aber das hätte ich nie für möglich gehalten, daß eine so vornehme, gebildete Dame so gescheit und sympathisch sein kann!«


Ich sagte einmal im Scherz zur Mutter, auf die etwas mißglückte äußere Erscheinung des Vaters anspielend: »Mutter, wie hat der Vater eigentlich ausgesehen, als er jung war?«

Sie dachte eine Weile nach und sagte ganz ernsthaft: »Er war nicht so schön wie jetzt.«

Nach einer fast fünfzigjährigen Ehe!


Einmal fragte sie mich:

»Sollen wir uns das neue Stück ›Sterne‹ ansehen? Was geht da vor?«

»Es handelt von Galilei.«

»Wer war das?«

»Das war der, der behauptet hat, daß die Erde sich dreht.«

»Die Erde dreht sich?«

»Die Erde dreht sich.«

»Wieso?«

»Wieso kann ich nicht erklären; du mußt mir glauben.«

»Gut. Und wie geht es weiter?«

»Er wird dafür zum Tode verurteilt.«

»Seit wann wird man zum Tode verurteilt, wenn man sagt, daß die Erde sich dreht?«

»Früher war das so.«

»Du, das ist ein blödes Stück; in das gehen wir nicht.«

Bei der Premiere von »Turandot« fragt mich Mutter während des Spieles mit halblauter Stimme:

»Du Lina, was ist das: ein Eunuch?« Die Nebensitzenden lachten.

Ich sagte leise: »Das werde ich dir zu Hause erklären.« Sie erwiderte, recht unbekümmert um unsre Nachbarn: »Du immer mit deinen Geheimnissen!«

Alles brüllte vor Lachen.

Nachdem sie eine Weile den Vorgängen auf der Bühne gefolgt war, sagte sie stolz:

»Du brauchst mir nichts mehr zu erklären; ich weiß schon alles.«

Ich bat sie beschwörend, ruhig zu sein, aber sie war nicht mehr aufzuhalten.

Alles horchte.

»Ich möchte nur wissen, warum du dich so patzig machst – es ist ein böser Mensch, das sieht doch jeder.«


Wir waren bei der Generalprobe von »Don Carlos«. Um halb vier Uhr bat ich Mutter, fortzugehen. Sie sagte »Nein! Dieses Stück interessiert mich sehr. Um was handelt es sich da?«

»Mutter, ich bin schon so müde, ich habe das Buch zu Hause; willst du nicht fertig lesen?«

»Gut; ich werde es lesen! Ein sehr gutes Stück! Von wem ist es denn?«

»Von Schiller.«

Abends lege ich ihr das Buch hin: »Mutter, da ist der ›Don Carlos‹!«

»Ich will es nicht.«

»Aber du hast doch gesagt, du willst es lesen.«

»Ich habe gesagt, ich will den ›Don Carlos‹ lesen, weil ich nicht gewußt habe, von wem er ist, Schiller lese ich nicht, dazu bin ich zu alt.«


Mein Bruder brachte Mutter eine Karte zu »Nathan der Weise«. Nach der Vorstellung sagte sie: »Es war ganz nett, ich habe mich nur gewundert, wie viele Erwachsene im Burgtheater zu Kindervorstellungen gehen.«


Mutters Einstellung zur Politik war auch eine sehr merkwürdige.

Bei einem so großen Kaffeehauspersonal gab es oft begreifliche Differenzen wegen Urlaubes, Kündigungen und so weiter. Solche Dinge erledigte sie einfach damit, daß sie ihren Angestellten drohte, zu Viktor Adler zu gehen. Daß er der Führer der Sozialdemokraten war, genierte sie gar nicht. Für sie war Viktor Adler der Inbegriff von Gerechtigkeit und Weisheit, und sie zweifelte gar nicht, daß er sich ihrer annehmen würde, wenn sie sich im Recht fühlte. Sie hatte aber nie nötig hinzugehen, die Drohung genügte immer, die Gegenpartei teilte anscheinend ihre Ansicht.

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