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»Ich habe nicht viel Zeit. Vor der Kautionsverhandlung gegen drei Uhr heute Nachmittag muss ich zurück in die Kanzlei«, sagte Judy zu Frank, obwohl sie neugierig war.

»Kein Problem.« Sie verließen das Roundhouse und überquerten den davor liegenden Parkplatz, der mit Cops und Polizeibediensteten geradezu überquoll, die zwischen Einsatzfahrzeugen und Streifenwagen das Frühlingswetter genossen. Ein weißer Ford F-250 Pick-up stach aus all den dunklen Limousinen heraus, auf einem Platz unter dem Schild NUR FÜR PRESSEVERTRETER. Frank nahm den kürzesten Weg in Richtung Pick-up, Judy nur einen Schritt hinter ihm.

»Sie sind also Reporter?«, erkundigte sie sich.

»Nein. Ich brauchte nur einen Parkplatz.« Frank zog einen Schlüsselring aus seiner Gesäßtasche, entriegelte mit einem melodischen Zirpen den Pick-up und ging zur Beifahrerseite, um den Wagenschlag zu öffnen. »Steigen Sie ein, aber achten Sie auf den Laptop.«

»Sie müssen mir nicht immer alle Türen öffnen«, sagte Judy.

Frank lächelte.

»Das weiß ich.« Er ging um die schmutzige Ladefläche des Pick-up herum zur Fahrerseite und stieg ein. »Ich habe es nicht getan, weil ich es tun muss.«

Judy verkniff sich einen Kommentar, während sie in den Pick-up stieg, ein richtiges Büro auf Rädern. Womit verdiente dieser Typ nur seinen Lebensunterhalt? Die Vordersitze waren weich und angenehm breit, dabei befand sich zwischen Fahrer- und Beifahrersitz eine schreibtischgroße Konsole, auf der ein geöffneter Gateway-Laptop mit einem schmalen tragbaren Drucker stand, der an den Zigarettenanzünder angeschlossen war. Außerdem gab es da ein weiteres Handy und ein Walkie-Talkie mit einer stummeligen Antenne. Judy kapitulierte. »Sind Sie Drogendealer?«, fragte sie. Frank lachte und ließ den Wagen an.

»Natürlich nicht! Ich bin Steinmetz.« Er nahm das Handy von der Konsole. »Entschuldigen Sie mich bitte eine Minute. Ich muss meine Termine verlegen, damit ich um drei Uhr dabei sein kann.« Er drückte eine Kurzwahlnummer. »Ich möchte nicht, dass Sie glauben, ich sei einer von diesen Hornochsen, die ständig am Handy hängen.«

»Ich kenne das«, sagte sie, als sie losfuhren. Und das tat sie wirklich, will heißen, sie wusste, dass Frank für den Rest der Fahrt telefonieren würde, was er auch tat. Er beantwortete Fragen, bestellte Werkstoffe und gab Kostenvoranschläge für Stützmauern. Einmal hielt Judy das Lenkrad, während er eine Auftragsbestätigung ausdruckte und nebenher energisch wegen einer verspäteten Lieferung diskutierte. Sie machte sich währenddessen einen Spaß daraus, ihre eigene Voicemail abzuhören, um in Sachen Handys nicht übertrumpft zu werden. Außerdem rief sie die Empfangssekretärin der Kanzlei an, um herauszufinden, ob Bennie noch in Sachen Zeugenaussage unterwegs war. Die Katze war immer noch aus dem Haus.

Judy sah aus dem Fenster, während der große Pick-up rasch die Innenstadt hinter sich ließ und auf die Vororte im Westen zuhielt, wo der graue Asphalt sich in eine Abfolge von Staples-Märkten, Chili’s-Restaurants und Gap-Outlets verwandelte. Judy war in zwanzig verschiedenen Bundesstaaten aufgewachsen, weil ihr Vater mit jeder Beförderung in der Navy versetzt worden war, und sogar in diesen paar Jahren hatte sie mitverfolgen können, wie ähnlich sich alles wurde. Ironischerweise fühlte sie sich dadurch nicht überall zu Hause, im Gegenteil. Sie sah weiter aus dem Fenster, und bald wichen die Einkaufsstraßen sanften, grünen Hügeln mit repräsentativen Häusern. Judy gefiel es allmählich, die Arbeit zu schwänzen und in einem lärmigen Pick-up mit einem Steinmetz herumzufahren, der trotz Zwiebelatem attraktiv war.

Frank beendete das letzte Gespräch durch einen Knopfdruck auf dem Handy und seufzte auf, während er langsam auf eine rote Ampel zufuhr. »Tut mir Leid«, sagte er und bremste. Jedes Mal, wenn der Pick-up zum Stehen kam, rollte etwas auf der Ladefläche herum. »Ich wollte für reinen Tisch sorgen, und es gefällt mir nicht, wenn meine Jungs ohne mich zugange sind. Trockenmauern sind schwieriger, als man denkt.«

»Was sind Trockenmauern?«

»New England Trockenmauern. Reine Steinmauern, ohne Mörtel. Meine Spezialität. Im Moment mache ich nichts anderes. Früher habe ich auch Ziegel- und Backsteinmauern hochgezogen, wie mein Vater und mein Großvater, aber das ist langweilig. Bei einer Trockenmauer ist es, als ob man ein Puzzle legt. Man verwendet Feldsteine oder was eben vor Ort vorkommt. Man muss mitdenken. Meine Jungs sind zwar gut, aber niemand ist so gut, wie er sein könnte, wenn der Boss nicht dabei ist.«

»Da würde ich drauf wetten«, stimmte Judy zu, als ob das nicht auch auf sie zuträfe.

»Jetzt habe ich ein paar Stunden frei.« Frank bog mit dem Pick-up in eine Auffahrt zur Rechten und fuhr an dem ZUTRITT VERBOTEN-Schild vorbei. »Wir sind da.«

Judy drückte auf den Knopf und ließ das Fenster heruntergleiten. Sie fuhren auf einen Friedhof, herrlich und grün und übersät mit melancholischen grauen Grabsteinen. Viele der Gräber waren mit Blumen geschmückt, einige mit kleinen Flaggen, die in der sanften Brise flatterten. Die Luft roch bemerkenswert süß. »Was machen wir hier?«, fragte sie überrascht.

»Ich will Ihnen zeigen, warum mein Großvater Angelo Coluzzi getötet hat.«

Frank ging vor Judy her und blieb eine Minute mit gesenktem Kopf vor einem Grab stehen. Judy sah an ihm vorbei auf den schwarzen Granitblock, der auf dem Grasteppich ruhte:

LUCIA

FRANK GEMMA

Vereint im Leben, vereint im Tod.

Judy brauchte eine Weile, bis sie begriff, was sie da sah. Es war das Grab von Franks Eltern. In den funkelnden Granit war nur ein einziges Datum eingemeißelt, der 25. Januar des vorigen Jahres. Judy blieb das Herz stehen. Frank hatte beide Eltern verloren. Hatte Tauben-Tony einen Sohn verloren? Frank hob den Kopf und drehte sich um. Schmerz überschattete seine markanten Gesichtszüge, aber seine Augen blieben trocken. »Kommen Sie ruhig näher, das ist okay«, sagte er und winkte sie zu sich. Judy trat auf ihn zu.

»Es tut mir Leid.«

»Mir auch. Aber deshalb habe ich Sie nicht hergebracht.« Frank räusperte sich, aber seine Stimme klang belegt wie nicht anders zu erwarten. »Meine Eltern sind letztes Jahr gestorben. Bei einem Unfall. Der Pick-up, es war der alte Pick-up meines Vaters, stürzte von einer Überführung über den Expressway. Es geschah spät nachts. Der Pick-up ging sofort in Flammen auf. Sie waren auf der Heimfahrt von einer Hochzeit in New Jersey, und die Bullen glauben, dass mein Vater am Steuer eingeschlafen ist.«

Judy schwieg. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Die Brise war so sanft, die Luft so frisch. Das einzige Geräusch war Franks leise Stimme, mit der er seinen knappen Bericht fortsetzte.

»Entweder das oder er hatte am Steuer einen Herzinfarkt, ich weiß es nicht genau. Das ist auch egal. Ich ließ sie einäschern, das war ... nun ja, notwendig. Aber das erwies sich als Problem, zumindest was meinen Großvater betrifft.«

»Warum?«

»Sehen Sie, mein Großvater glaubte nicht an einen Unfall. Er dachte, meine Eltern seien ermordet worden. Eine Autopsie hätte vielleicht bewiesen, dass dem nicht so war. Und er gab sich selbst die Schuld an ihrem Tod.«

Judy schüttelte den Kopf. »Wer sollte Ihre Eltern ermorden wollen?«

»Angelo Coluzzi.« Frank betrachtete die Eichen in der Ferne, dann den sonnenbeschienenen Rasen, der sich über einen sanften Hügel hinzog. »Das reicht so viele Jahre, Jahrzehnte, zurück – bis nach Italien. Mein Großvater hat Ihnen von Coluzzi erzählt, nicht wahr?«

Judy überlegte kurz. »Was Ihr Großvater mir gesagt hat, ist vertraulich. Es wäre nicht korrekt, etwas davon auszuplaudern, selbst Ihnen gegenüber.«

»Ich respektiere das.« Frank nickte, mit der Andeutung eines Lächelns um die Mundwinkel, dann drehte er sich zu ihr um. Seine Augen waren von einem erdigen Braun, und die Lachfalten in den Augenwinkeln verrieten Judy, dass er älter sein musste, als sie zuerst gedacht hatte, möglicherweise schon vierzig. »Soll das heißen, dass Sie zwar Anwältin sind, aber eine mit Moral und Anstand?«

»So was kommt vor.«

»Nein, kommt es nicht.« Frank lachte, ein tiefes, maskulines Lachen, das Judy gefiel. Sie war immer der Ansicht gewesen, man könne viel aus dem Lachen eines Mannes heraushören, aber Franks Lachen sagte ihr nur, dass sie schon seit Ewigkeiten keine Verabredung mehr gehabt hatte.

»Ich bin eine Anwältin mit Moral und Anstand, und es ist durchaus korrekt, wenn Sie mir etwas erzählen. Und ich darf zuhören. Rein anständig, versteht sich.«

»Ich rede und Sie hören zu? Können Frauen das überhaupt?«

Judy lachte, aber der Gedanke, dass sie an einem Grab stehend flirteten, ernüchterte sie rasch. Zumindest vermutete Judy, dass sie flirtete, obwohl sie das gar nicht beabsichtigt hatte. Juristisch ausgedrückt, hatte sie nicht den Vorsatz gehabt zu flirten, es hatte sie einfach so überkommen. Ihr wurde klar, dass ihr Frank seit dem Moment sympathisch war, als er versucht hatte, es mit dem Cop aufzunehmen. »Wie wäre es, wenn Sie jetzt erzählen, und ich höre zu? Und den Geschlechterkampf lassen wir außen vor.«

»Hervorragend.« Frank drehte sich wieder zum Grab seiner Eltern um, und sein Lächeln verschwand. »Vielleicht sollten wir ein paar Schritte gehen.«

»Guter Vorschlag.« Mit Judy dicht hinter sich steuerte Frank die grasbewachsene Reihe zwischen den Gräbern entlang auf einen Kiesweg zu. Er schien jetzt befreiter zu atmen.

»Die Frau meines Großvaters – meine Großmutter – wurde von Angelo Coluzzi in Italien getötet. Meine Großmutter war mit Coluzzi ausgegangen, bevor sie meinen Großvater traf. Dann zog sie den Antrag meines Großvaters dem von Coluzzi vor. Coluzzi kam nie darüber hinweg. Er hatte sein Gesicht verloren und hasste meinen Großvater deswegen. Und er hat sie umgebracht. Jeder in der Nachbarschaft weiß das.«

»Welche Nachbarschaft?«

»Unser Viertel in South Philly. Eines der Viertel, das immer noch die Italiener beherrschen. Die Koreaner und Vietnamesen wohnen direkt nebenan, aber unser Viertel ist so eng verflochten, es stammen sogar alle aus derselben Region in Italien, aus den Abruzzen. Alle Familien kennen sich untereinander, und jeder kennt die Coluzzis. Eine wohlhabende Familie. Eine mächtige Familie. Faschisten.«

»Ich verstehe.« In Franks Stimme hörte Judy ein Echo der Verachtung seines Großvaters.

»Es wurde nie in diesem Mordfall ermittelt. Die Coluzzis hatten genügend Geld, um dafür zu sorgen. Ihre Macht nahm zu, und als der Krieg ausbrach, ging der Fall meiner Großmutter in den Wirren einfach unter.« Seine Stimme verlor sich einen Augenblick, und Judy unterdrückte den Drang, ihn nach Details auszufragen. Sie schritten den Kiesweg entlang, vorbei an ein paar niedrigen Immergrünbüschen, an den scharfkantigen Blättern der Tigerlilien, die noch nicht blühten, und an lilafarbenem Steinkraut, das über die Steine an der Wegbegrenzung kroch. Die Luft unter den Bäumen, an denen sie vorbeikamen, war kühl. Franks Timberlands knirschten über den Kies, und Judy war zum ersten Mal an diesem Tag froh, dass sie Clogs trug.

Nach einer Weile meinte Frank: »Das war damals eine andere Welt, und eine andere Zeit. Mein Großvater versuchte, den Fall vor Gericht zu bringen, und hat dabei beinahe sein eigenes Leben verloren.«

»Wie das?«

»Man bedrohte ihn. Verwüstete sein Haus. Warf eine Brandbombe in seinen Wagen.«

»Wer ist ›man‹?«

»Angelo Coluzzi oder Männer, die für ihn arbeiteten. Schwarzhemden.«

»Woher wissen Sie das? Wurden sie gefasst?«

»Natürlich nicht. Wir wissen es einfach. Jeder weiß es, selbst heute noch.«

Judy runzelte die Brauen. Das hörte sich so an, als ob sich da eine Vermutung auf die andere türmte, aber jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt, um darüber zu streiten. Sie brauchte Informationen. »Was hat Ihr Großvater dagegen unternommen?«

»Er ist einfach umgezogen. Er hat sich nicht gerächt, nicht einmal, als sie seinen Wagen in die Luft jagten. Er hat das Land mit seinem Sohn verlassen – meinem Vater, Frank senior – , der damals zwei Jahre alt war. Sie haben sich hier niedergelassen. Mein Großvater hat die Landwirtschaft aufgegeben und als Maurer angefangen, wie viele Einwanderer aus dieser Region. Er versuchte zu akzeptieren, was mit seiner Frau geschehen war. Er machte weiter und zog seinen Sohn und seine Vögel groß.«

»Vögel?«

»Er hält Tauben. Brieftauben, die an Wettflügen teilnehmen. Er ist echt gut darin. Sie sollten mal zusehen. Er verbringt seine ganze Zeit draußen bei den Vögeln, dressiert sie, trainiert sie, lässt sie aufsteigen ...«

»Aufsteigen?«

»Das bedeutet, sie für Trainingsflüge freizulassen, damit sie lernen, wie sie ihren Weg zurück zum Taubenschlag finden. Er sitzt stundenlang bei den Tauben und sieht zu, wie sie fliegen.« Franks Gesicht hellte sich bei dem Gedanken daran auf, aber das war nicht die Art von Details, die Judy jetzt brauchte.

»Sie erzählten gerade, wie er damals eingewandert ist.« Sie schritten weiter den Weg entlang und traten dabei aus dem Schatten in die Sonne. Die plötzliche Helligkeit ließ Frank zusammenzucken.

»Dann kam der Unfall. Mein Vater, meine Mutter. Ich weiß, dass es nur ein Unfall war, aber mein Großvater glaubte, Angelo Coluzzi habe es getan. Sie müssen von der Familie schon gehört haben. Angelo und seine beiden Söhne, John und Marco. Ihnen gehört eine große Baufirma in South Philly. Sie bauen Einkaufszentren und haben Häuser in den Estates. Haben Sie von ihnen gehört?«

Judy schüttelte den Kopf. Sie wusste so gut wie nichts über die Baubranche.

»Es ist eine sehr, sehr kranke Familie.« Franks Gesichtsmuskeln zuckten noch immer, und Judy war klar, dass es nicht am Sonnenlicht lag. Oje. »Mein Großvater glaubt, dass Angelo Coluzzi den Pick-up meiner Eltern mit einer Bombe hochgejagt hat, so wie damals seinen Wagen in Italien. Und nachdem sie tot waren, ging es mit ihm bergab. Er meinte, das wäre nie geschehen, wenn er meine Großmutter gerächt hätte. Er glaubte, wenn er Vendetta geübt hätte, wäre sein Sohn heute noch am Leben.«

»Vendetta? Was ist Vendetta?« Judy hatte im Kino schon davon gehört, konnte aber nicht glauben, dass es so etwas heute immer noch gab.

»Das ist die Blutrache. Wenn man seine Rechte geltend macht oder die Rechte der eigenen Familie. Auge um Auge. Das stammt aus einem Land, in dem das Gesetz keine Hilfe war, nicht für die kleinen Leute wie meinen Großvater. Er sucht seine Rettung nicht im Gesetz und erwartet vom Gesetz auch keine Bestrafung. Man muss die Vendetta ehren – in meiner Kultur, in seiner Kultur.«

Judy kam in den Sinn, dass die Italiener Gefühle zu einer Kunstform hochstilisiert hatten, aber sie sagte nichts aus Furcht, geschlagen zu werden – oder umarmt.

»Und darum hat er einfach den Bezug zur Wirklichkeit verloren. Nach dem Tod meiner Eltern wurde er immer depressiver. Und er wurde älter. Das hat nicht geholfen.« Frank blieb abrupt stehen und wandte sich flehentlich an sie. »Er ist ein friedliebender Mann. Wissen Sie, er kann nicht einmal seine eigenen Tauben aussortieren. Er tötet keine von ihnen. Er behält selbst die langsamen und die alten. Er ist sanftmütig. Das haben Sie doch bemerkt, oder?«

»Ja«, erwiderte Judy und meinte es auch. »Es fällt schwer, sich vorzustellen, dass er jemand ermordet hat.«

»Er hätte Coluzzi nicht getötet, wenn er nicht geglaubt hätte, dazu verpflichtet zu sein. Er hat es all die Jahre nicht getan. Denken Sie darüber mal nach. Die Coluzzis zogen nach Philadelphia, nur zwei Häuserblocks entfernt, und jeden Tag musste mein Großvater mit der Tatsache leben, dass der Mörder seiner Ehefrau sein Nachbar war. Auch mein Vater lebte mit diesem Wissen und ertrug jahrelang die Nachstellungen der Coluzzis. Sie haben seine Firma praktisch in den Bankrott getrieben, aber mein Großvater erlaubte nicht, dass er sich rächte. Mein Großvater hatte das Recht, Rache zu üben, aber er hat nie davon Gebrauch gemacht.«

Judy sah zu ihm hinüber. »Niemand hat das Recht, jemand anderen zu töten.«

»Aber natürlich. Im Krieg oder zur Selbstverteidigung. Um die Todesstrafe zu vollziehen. Selbst wenn eine Ehefrau misshandelt wird. In dieser Gesellschaft, in dieser Kultur, wird ständig getötet. Ist das Recht?«

»Aber ...«

»Es gibt in Amerika mehr Todesfälle, mehr Morde als irgendwo sonst auf diesem Planeten. Wir rechtfertigen das Töten unter allen möglichen Umständen. Warum nicht, wenn jemand deine Ehefrau, deinen Sohn und dessen Frau tötet? Hat man dann nicht das Recht, zu töten?«

»Nein, das hat man nicht, und Ihr Großvater wusste ja auch gar nicht sicher, ob Coluzzi Ihre Eltern getötet hat. Sie glauben nur, dass er es wusste.«

»Aber für meinen Großvater ist es wie das Evangelium, und soviel ich weiß, hat er damit auch Recht. Sie müssen es einmal aus seinem Blickwinkel sehen, schließlich reden wir ja auch über seinen Geisteszustand, oder?« Franks Augen suchten ihre mit einer Offenheit, die Judy entwaffnend fand, aber ihre juristische Ausbildung wehrte sich gegen seine Worte.

»Die Menschen können sich nicht einfach gegenseitig töten. Um dem vorzubeugen, wurde das Rechtssystem entworfen.«

»Aber sie tun es trotzdem, in der Welt meines Großvaters. Da töten sie sich gegenseitig. Genau das ist ihm passiert. Und jetzt wurde derjenige, der ihm Unrecht zugefügt hat, bestraft.« Frank schüttelte den Kopf, und der Schatten eines langen Eichenzweiges huschte über seine schmerzlich verzerrten Gesichtszüge hinweg. »Was bringt es schon, wenn man meinen Großvater jetzt dafür verurteilt? Er wird niemand sonst verletzen.«

»Darum geht es nicht.«

»Nein?« Frank betrachtete die amerikanischen Miniaturflaggen, wie sie in einem plötzlichen Windstoß flatterten. Sein Blick ruhte auf einem Grabstein, in den CIARDI eingemeißelt war, fast verborgen durch einen Strauß großer lavendelfarbener Irise, deren Blütenblätter teilweise bereits bräunlich verfärbt und verschrumpelt waren und sich an den Rändern einrollten. »Der Mann ist neunundsiebzig. Das hier wartet auf ihn – verwelkte Blumen und Grabsteine. Dieser Friedhof. An der Seite seines Sohnes.«

Judy konnte ihr Mitgefühl nicht unterdrücken, aber dann zwang sie sich, wie ein Anwalt zu denken, ohne die Spur einer menschlichen Regung. »Nichts davon hilft mir, ihn zu verteidigen.«

»Sind Sie sicher?« Frank drehte sich plötzlich um. »Ich dachte, Sie könnten vielleicht auf vorübergehende Unzurechnungsfähigkeit plädieren oder so etwas.«

»Juristisch gesehen liegt die Latte für Unzurechnungsfähigkeit zu hoch.« Judy schüttelte den Kopf. »Gott weiß, welche Beweise sie gegen Ihren Großvater in der Hand haben, aber wenn das seine Geschichte ist, dann bietet sie einfach keinen Ansatz für eine Verteidigung. Es gibt keine juristische Rechtfertigung für Mord, die hier greifen würde.«

»Nicht einmal ein gebrochenes Herz?« Frank sah Judy an. Die Frage klang alles andere als rhetorisch.

»Nicht einmal das.«

»Wo bleibt da die Gerechtigkeit im Gesetz?«

Judy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Alles, was sie wusste, war, dass sie den Fall übernehmen wollte.

Jetzt musste sie nur noch ihre Chefin davon überzeugen.

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