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»Du hast was getan?«, schrie Bennie, und Judy durchlebte ein Déjà vu. Entweder das oder Bennie hatte genau dasselbe schon 3 462 430-mal zuvor gesagt. Judy gab sich flüchtig dem Gedanken hin, ob sie Du HAST was GETAN? auf ein T-Shirt drucken lassen sollte, aber dann würde sie mit Sicherheit gefeuert. Wütend genug dafür war Bennie. »Du bist ins Roundhouse gegangen? Du hattest kein Recht, das zu tun!«

Judy saß Bennie Rosato in deren Büro gegenüber, vor einem großen Schreibtisch, der fast so überladen war wie ihr eigener. Bennies Büro war genauso groß wie das ihrer Kanzleipartnerinnen. Beweis ihrer egalitären Überzeugung. Auf ihren Bücherregalen drängten sich Entscheidungssammlungen, Fallbesprechungen sowie schwarze Ordner mit Reden und Artikeln. Auszeichnungen von Bürgerrechtsbewegungen und Bürgervereinen, die sich für die Wahrung des Verfassungszusatzes einsetzten, bedeckten die Wände. In einer Ecke lag ein Haufen mit Trainingsklamotten und Joggingschuhen, deren Gummisohlen sich vor Abnutzung bereits nach oben wölbten. Kurz gesagt, es hätte auch Judys Büro sein können. Sie verstand das einfach nicht. Sie und Bennie waren sich viel ähnlicher, als man auf den ersten Blick denken würde, warum also stritten sie sich so oft?

»Du hast dich mit einem Familienangehörigen des Beschuldigten getroffen? Du bist am Familiengrab gewesen? Du hast ihm gesagt, du würdest den Fall übernehmen – am Grab seiner Eltern? Und du weißt absolut nichts vom Hergang des Verbrechens oder welche Beweise es gegen den Beschuldigten gibt!«

Judy musste schlucken. »Bennie, ich schwöre, ich habe ihm gegenüber klargestellt, dass die Kanzlei die Vertretung noch nicht formell eingereicht hat.«

»Ich bitte dich! Die Einreichung ist doch nur eine Formalität. Du warst dort. Das ist Einreichung genug.« Bennies blaue Augen funkelten. Sie zog die kakifarbene Kostümjacke aus und strich sie glatt, bevor sie sie über einen Kleiderständer hinter ihrem Lederstuhl hängte.

»Ich habe den Cops gesagt, dass es nur provisorisch ist.«

»Das bedeutet gar nichts. Außerdem geht es nicht nur um die Cops, es geht um den Mandanten. Um den Enkel. Du bist wirklich an einem Grab gewesen?« Bennie fuhr sich mit der Hand durch einen Schopf heller Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen. Letztere schienen unter der Leinenbluse aus Enttäuschung abzusacken. »Wir hängen am Haken. Man taucht nicht auf und verschwindet dann wieder. Zumindest tue ich das nicht. Was glaubst du wohl, wie eine Kanzlei Glaubwürdigkeit erlangt? Unsere Integrität steht auf dem Spiel. Meine Integrität.«

»Hör mal, wenn hier jemandes Integrität auf dem Spiel steht, dann meine und nicht deine. Ich habe uns da hineinmanövriert, und ich bekomme uns da auch wieder heraus. Ich möchte Tauben-Tony gern vertreten.« Judy hatte das Gefühl, ihren Standpunkt gut zu vertreten, aber Bennie wirkte keineswegs beeindruckt.

»Ach, möchtest du?« Bennie ging hinter ihrem Stuhl auf und ab, viel zu erregt, um stillzustehen. Bennie Rosato war einen Meter achtzig groß, eine muskulöse Ex-Ruderin und knallharte Prozessanwältin, die ihre Kanzleipartnerinnen, die Anwälte der Gegenseite und Schwerverbrecher gleichermaßen einschüchterte. So ziemlich jeden außer Judy, die erst noch herausfinden musste, warum sie nicht so viel Angst hatte, wie sie haben sollte. Vielleicht konnte sie nach einer Kindheit voller Oberstleutnants einfach besser mit einer stinksauren Anwältin umgehen.

»Frag mich mal, ob ich mich einen Deut darum schere, was du möchtest«, fuhr Bennie fort. »Diese Kanzlei gehört mir. Du arbeitest für mich. Das bedeutet, du vertrittst nur die, von denen ich sage, dass du sie vertreten sollst.«

»Du hast gesagt, wir sollen unsere eigenen Mandanten an Land ziehen«, hielt Judy entgegen, obwohl sie wusste, dass sie jetzt besser den Mund halten sollte – wie Ali, der seinerzeit Foreman sich erst mal bis zur Erschöpfung verausgaben ließ. Trotzdem, sie musste einfach zum Schlag ausholen. Vielleicht lag das an dem Boxunterricht, den sie genommen hatte. »Ich dachte, du würdest etwas Eigeninitiative begrüßen. Die meisten Kanzleien halten das für die Basis, wie Partnerschaften funktionieren.«

»In meiner Kanzlei ziehst du den Mandanten an Land, dann bringst du ihn zu mir, und ich entscheide, ob du seinen Fall übernimmst. Du entscheidest das nicht für dich allein.« Bennie starrte sie wütend an. »Hattest du wirklich vor, Partnerin dieser Kanzlei zu werden, als du diesen Fall übernommen hast? Ist es das, was du mir damit sagen willst?«

Judy spürte, wie sie rot wurde. Was war nur los mit Bennie? Warum brachte sie ein derart hirnrissiges Argument vor? »Eigentlich nicht.«

»Dann führe auch nichts an, woran du nicht glaubst. Die erste Regel vor Gericht und im Leben.« Bennies Stimme klirrte wie Eis. Die Arme in die Seiten gestemmt, die Bluse zerknittert. »Also, warum bist du ins Roundhouse gegangen? Und warum willst du Lucia vertreten?«

Judy versuchte, sich zu sammeln. Das hier war ernst. Sie hatte noch nie darum gebeten, einen Mandanten vertreten zu dürfen, schon gar keinen, der schuldig war. Sie fühlte sich auf einmal wieder wie ein Teenager, aber möglicherweise bedeutete Erwachsenwerden nicht zwangsläufig, dass man ganz automatisch gegen alles Widerstand leistete, was Bennie sagte. Judy erinnerte sich an den ersten Eindruck von Tauben-Tony, so klein in dem übergroßen Gefängnisoverall. Dann fiel ihr der Granitgrabstein der Lucias ein, so beredt in seiner düsteren Stummheit. Und schließlich Franks Trauer am Grab.

»Nun?«

Judy holte tief Luft. »Wenn das, was man mir gesagt hat, wirklich stimmt, dann liegt hier eine Ungerechtigkeit vor, und ich glaube, ich möchte Tauben-Tony einfach helfen. Ich meine, wenn es stimmt, dann ist er ein alter Mann, der sein Leben lang einen tiefen Schmerz mit sich herumgetragen hat. Er versuchte, darüber hinwegzusehen, aber diese Anstrengung führte zum Tod seines Sohnes und seiner Schwiegertochter. Er wählte den Frieden und bekam nur Krieg. Die meisten Menschen, die töten, sind schlecht. Tauben-Tony scheint mir dagegen ein guter Mann zu sein, der einfach jemanden getötet hat.« Als Judy sich selbst hörte, wurde ihr erst klar, dass sie genau so dachte. Selbsterkenntnis war nicht gerade ihre starke Seite, aber sie lernte dazu, und die neue Sicherheit gab ihr Kraft. »Auch auf die Gefahr hin, dass du mich feuerst, ich werde diesen Fall übernehmen.«

»Wirst du das?«

»Ja.«

Bennie stand regungslos wie ein Felsen. Die Falten in ihrer Stirn glätteten sich, und das zornige Rot ihrer Wangen wurde blasser. Judy hoffte, dass es sich dabei nicht um die friedliche Stille handelte, die eintritt, kurz bevor der Chef seinen Angestellten so richtig zur Sau macht.

»Übrigens, feuere mich bitte nicht. Ich würde nie eine andere Kanzlei finden, bei der ich mich so merkwürdig anziehen dürfte.«

Bennie lachte leise und setzte sich in ihren Sessel. »Na gut.«

»Heißt das, ich darf den Mandanten behalten?«

Bennie antwortete nicht, nahm aber eine Kaffeetasse von ihrem Schreibtisch, auf der ICH RIECHE DIE ANGST stand. Judy war sicher, dass es sich um einen Scherz handelte. Bennie senkte den Kopf und sah in die Tasse. »Leer. Was wird heute noch alles schief gehen?«

»Ich werde mich gut um ihn kümmern. Und jeden Tag mit ihm Gassi gehen.«

Bennie lächelte schief und blickte wieder in die leere Tasse, als würde sie sich durch schiere Willenskraft mit Kaffee füllen. »Kann es sich Lucia überhaupt leisten, uns zu engagieren?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt.«

»Natürlich nicht.«

»Ich finde es heraus, wenn ich ihn behalten darf.«

Die Kaffeetasse landete klirrend auf dem Tisch. »Also gut, in Ordnung. Du hast gewonnen. Aber du wirst es unter meiner Aufsicht machen.«

»Hurra!«

»Lass dir mit dem Applaus noch etwas Zeit.« Bennie brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Du wirst mir in jeder Phase des Verfahrens Bericht erstatten.«

»Einverstanden.«

»Und du bist nach wie vor für deine anderen Fälle verantwortlich. Du musst diesen Kartellrechtsartikel erledigen – ich will den Entwurf rechtzeitig auf dem Tisch haben. Die Redakteurin hat mir gesagt, sie warten schon darauf, um die Zitate gegenzuprüfen. Bau da keinen Mist.« Bennie dachte eine Minute lang nach. »Soweit ich mich erinnere, hast du noch sieben andere ziemlich akute Fälle, alle Zivilrecht. Du wirst daran weiterarbeiten. Diese Mandanten waren zuerst da, und sie haben niemanden umgebracht.«

»Zu Befehl!«

Bennie überhörte das. »Und weil du dir nicht die Mühe gemacht hast, nachzuprüfen, ob Lucia für unsere Dienste zahlen kann, werden deine Dienste für ihn kostenlos sein. Das bedeutet, die Zeit, die du in diese investierst, ist dein Privatvergnügen. Du wirst nichts davon in Rechnung stellen, weder ihm noch mir. Das wird dir eine Lehre sein.«

Das versetzte Judy einen Schlag, aber sie sah ein, dass es gerecht war. »Das ist nur fair. Mein Mund hat mich da reingeritten, mein Geldbeutel badet es aus.«

»Und du wirst an der kurzen Leine gehen: Jede Entscheidung wird mit mir abgesprochen. Das ist die Strafe dafür, dass du Initiative gezeigt hast: Du wirst viel Zeit mit mir verbringen müssen.«

»Was mich nicht umbringt, macht mich stärker«, entgegnete Judy und duckte sich, weil ein Bleistift auf sie zugeflogen kam.

»Treib es nicht zu weit, Carrier. Diese Kanzlei hat sich einen Namen gemacht. Und du bist nicht die einzige Anwältin auf Erden. So, und jetzt raus aus meinem Büro. Wenigstens eine von uns muss Geld verdienen. Bennie drückte eine Taste auf ihrer Tastatur und öffnete ihr E-Mail-Programm. Judy erhob sich glücklich, trotz allem. Sie hatte den Fall, auch wenn sie sich dafür dumm und dämlich arbeiten musste. Aber es gab noch ein Problem, und das nagte an ihr.

»Eine letzte Frage. Was mache ich, wenn ich einen Angeklagten vertrete, der schuldig ist?«

»Warum fragst du das mich?« Bennie starrte weiterhin auf ihren Computerbildschirm. »Du hast den Fall übernommen, also entscheide das selbst.«

Die Schärfe der Antwort ließ Judy zusammenzucken. So viel zum Thema Kollegialität. »Tja, also, ich meine, ich weiß, er hat ein Anrecht auf Verteidigung, aber ich weiß auch, dass er schuldig ist. Damit habe ich meine Schwierigkeiten, obwohl ich das nicht sollte, rechtlich gesehen.«

»Du warst immer schon eine große Theoretikerin, Carrier, darum hier die Kurzfassung.« Bennie klickte weiter, antwortete auf eine E-Mail nach der anderen. »Gemäß den Standesrichtlinien besteht deine einzige moralische Einschränkung darin, dass du ihn nicht aufrufen und ihn sagen lassen kannst, er sei unschuldig, wenn du weißt, dass er schuldig ist. Das wäre Anstiftung zum Meineid, zum Mindesten das Zulassen einer eindeutigen Falschaussage vor Gericht. Und es versteht sich von selbst, Standesehre hin oder her, dass ich vor den Geschworenen weder im Eröffnungs- noch im Schlussplädoyer erklären würde, er sei unschuldig.«

»Das würde ich sowieso nicht tun.«

»Das habe ich auch nicht geglaubt. Du bist ohnehin eine lausig schlechte Lügnerin. Ich weiß gar nicht, wie du’s durchs Jurastudium geschafft hast. Bennie drückte auf die Senden-Taste und öffnete die nächste E-Mail. Judy wusste plötzlich nicht mehr, was sie sagen sollte.

»Ich meine noch etwas anderes ... die emotionale Seite. Hast du jemals einen Angeklagten vertreten, der schuldig war?«

»Ja, in den guten alten Tagen, als ich vor allem Mordfälle übernommen habe. Offen gesagt, darum bin ich ausgestiegen.« Bennies große Hände bedeckten die Tastatur, während sie eine weitere Antwort tippte und ganz den Anschein erweckte, als sei sie sich keiner weiteren Person im Raum bewusst.

»Wie bist du damit umgegangen?«, fragte Judy trotzdem. »Hast du das Prinzip verteidigt und nicht den Menschen? Unschuldig bis zum Beweis des Gegenteils?«

»Es kommt nicht darauf an, wie ich damit umgegangen bin«, erwiderte Bennie und tippte weiter. »Es kommt darauf an, wie du damit umgehst. Du willst einen Schuldigen verteidigen? Dann tu es auf deine Weise.«

Judy bemerkte eine Veränderung in Bennies Stimme. Sie klang weicher, obwohl Bennie immer noch nicht von ihrem Computer aufsah.

»Kannst du mir einen Hinweis geben oder verstößt das gegen die Regeln?«

Bennies Finger glitten fachmännisch über die Tastatur. Sie hob ihren Blick, und zu Judys Überraschung sprach daraus keineswegs Gleichgültigkeit, sondern Sorge. »Ich habe dir doch gesagt, trete für nichts ein, an das du nicht glaubst. Das Gegenteil trifft ebenfalls zu. Glaubst du an ihn?«

»Ich denke schon.«

»Finde es heraus. Finde heraus, ob er in deinen Augen schuldig oder unschuldig ist. Aber analysiere es nicht als rechtliche Angelegenheit oder theoretische Streitfrage. Das ist zu abstrakt, zu einfach. Spiele nicht die Richterin, denn einen Richter gibt es bereits. Das ist der Typ im schwarzen Talar. Du bist die Verteidigerin.«

Judy begriff. Sie wusste, dass sie ein wenig zum Theoretisieren neigte. Das hatte ihr an der Uni erstklassige Noten beschert, aber nirgendwo sonst. »Lass uns annehmen, ich komme zu dem Schluss, dass er in meinen Augen unschuldig ist. Was hat er davon?«

»Es wird dir helfen, eine Verteidigung aufzubauen. Wenn du an ihn glaubst, dann wird sich deine Überzeugung auf den Richter und die Geschworenen übertragen. Durch deine Stimme, durch dein Verhalten, durch alles, was du tust. Wenn du nicht an ihn glaubst, hat Lucia keine Chance.« Bennies Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf ihren Bildschirm. »Und dann bist du das Schlimmste, was ihm je widerfahren ist.«

Die Worte ließen Judy verstummen. Sie stand eine Weile wie festgewurzelt und lauschte dem leisen Klicken der Tasten. Vor der Tür klingelten Telefone und quasselten weibliche Anwälte, aber die Geräusche des Arbeitstages schienen weit entfernt. Judy beschlich das dumpfe Gefühl, dass sie mehr abgebissen hatte, als sie schlucken konnte – und dabei hatte sie schon eine der größten Klappen der ganzen Stadt.

»Musst du nicht zur Kautionsverhandlung?«, durchbrach Bennie die Stille. »Es ist schwer, bei Mord eine Kaution zu erwirken. Zieh dir über dein Kleid einen Blazer an. Und unbedingt andere Schuhe. Du kannst dir meine braunen Pumps aus dem Schrank beim Empfang ausleihen. Ich habe eine komplette Zweitausstattung da drin. Nimm dir, was du brauchst.«

Judy sah auf ihre Uhr. Es war fast drei, und sie wurde in der Stadt erwartet. Sie würde ihre Angst mit ihren Clogs abstreifen müssen. Ein gemurmeltes Dankeschön später stürmte sie aus dem Büro, während sich Bennie wieder ihren E-Mails widmete. Judy wusste nicht, dass Bennie, nachdem sie gegangen war, eine kleine Ewigkeit auf ihren Bildschirm starrte, unfähig, auch nur eine einzige Silbe zu tippen.

Alte Schulden

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