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ОглавлениеDie Presse drängte sich vor dem Strafrechtsgebäude und ergoss sich über den Bürgersteig bis hinaus auf die Filbert Street, eine alte Straße aus Kolonialzeiten, gerade breit genug für ein einzelnes Pferd und einen leichten Einspänner, nicht breit genug für Reporter und ihre Egos. Die beiden letzteren blockierten den Verkehr und warteten darauf, dass etwas geschah, plauderten im Sonnenschein und bliesen Zigarettenrauch in die frische Luft. Judy fragte sich, nach welchem Fall sie diesmal gierten.
»Da ist sie!«, brüllte der Fotograf mit einem Belichtungsmesser um den Hals und drehte sich zu Judy um. »Ms. Carrier, nur eine Aufnahme!«
»Hier herüber, Ms. Carrier!«
Judy war überrascht, wurde aber nicht langsamer. Das konnte sie auch gar nicht, in Bennies viel zu großen Pumps. Sie eilte weiter, zog ihre Absätze über das Pflaster und fühlte sich wie ein Kind, das sich als Anwalt verkleidet hat und nun hofft, dass es niemand merkt. Ihre Gedanken rasten. Woher wusste die Presse von dem Fall? Warum kümmerten sich die Journalisten überhaupt darum? Alle drehten sich zu ihr. Reporter schnippten ihre Zigaretten weg. Kameraleute hievten sich Videokameras auf die Schultern. Freie Journalisten hasteten mit Notizblöcken in der Hand auf sie zu. Judy senkte den Kopf und stakste wackelig durch die Menge, die auf sie zustürmte.
»Ms. Carrier, wird Bennie Rosato Tony Lucia vertreten?« »Ms. Carrier, ist er schuldig oder unschuldig?« »Judy, wird Mary DiNunzio mit Ihnen an diesem Fall arbeiten?« »Ms. Carrier, die Familie Coluzzi hat bereits verlauten lassen, dass Ihr Mandant der Mörder ist. Irgendeinen Kommentar dazu?«
Judy bahnte sich schwankend ihren Weg und zielte auf die Messingdrehtür am Eingang des Gerichtsgebäudes. Es war nicht das Schlimmste, von Reportern umschwärmt zu werden. Bennie und Mary hatten das noch nie leiden können, doch Judy hatte zu ihrer Zeit Rugby in einem gemischten Team gespielt. Die Reporter rempelten sie an, aber sie rempelte zurück. Gerechtigkeit als Kontaktsportart. Eine Fernsehkamera prallte gegen sie, aber sie blieb nicht stehen, um dem Kameramann ihre Meinung zu sagen. Das hätte auf Band wenig professionell gewirkt. »Ms. Carrier, was halten Sie von den Beweisen der Staatsanwaltschaft?« »Wird Mr. Lucia auf schuldig plädieren?« »Glauben Sie, dass er auf Kaution freikommt?«
»Kein Kommentar!«, rief Judy und drängte weiter in Richtung Eingang. In dem Kunstwerk aus Buntglas über der Tür fing sich das Sonnenlicht in lebhaften Gelb-, Blau- und Goldtönen, aber Judy nahm sich nicht wie sonst die Zeit, es zu genießen. Sie musste einen Täuberich verteidigen, und laut ihren Recherchen war es höchst fraglich, ob eine Freilassung gegen Kaution möglich war. Die Präzedenzfälle sprachen dagegen. Ihre einzige Hoffnung ruhte auf seinem Alter und seinem tadellosen Führungszeugnis. Die Reporter stießen sie an und brüllten Fragen, auf die sie nicht antwortete, zur Belustigung eines Meeres von Cops in Sommeruniformen, die vor dem Eingang auf ihren Aufruf zur Zeugenaussage warteten. Zwei Zivilisten standen neben ihnen direkt vor der Tür, und Judy hatte beinahe die Schwelle erreicht, als sie eine fremde Hand auf ihrem Arm spürte und gereizt aufsah.
»Kein Kommentar«, erklärte sie, aber der Mann, der ihren Arm gepackt hatte, sah nicht wie ein Reporter aus. Er war untersetzt, mittleren Alters, mit fettigen Haaren und trug ein Polohemd aus Polyester. Seine Augen waren nur mehr braune Schlitze, und sein Gesichtsausdruck wirkte auf Judy unverkennbar unfreundlich. »Lassen Sie meinen Arm los«, sagte sie und entwand sich dem Griff.
»Ich wollte Sie nur begrüßen, Miss Carrier.« Er lächelte in die Kameras. Judy hörte das Surren der Geräte, die diesen Augenblick festhielten. »Mein Name ist John Coluzzi. Angelo Coluzzi war mein Vater. Sie haben von ihm gehört. Er ist von Ihrem Mandanten ermordet worden.«
Judy errötete. Es gab nichts, was sie darauf hätte erwidern können. Denn alles stimmte. Ihr Gesicht stand in Flammen. »Er hat das Genick meines Vaters gebrochen, Miss Carrier. Ihm den Hals umgedreht wie einem seiner Vögel.«
Judys Mund wurde trocken. Hatte Tauben-Tony es auf diese Weise getan? Es schien unvorstellbar.
»Ich bin hergekommen, um zu sehen, was für ein mieses Stück Anwalt Sie sind. Sie sollten sich was schämen«, fauchte Coluzzi und spuckte ihr in seiner frischen Trauer fast ins Gesicht. Judy suchte nach Worten. Sie fühlte sich gezwungen, etwas zu sagen, weil die Kameras sie beobachteten. Das Leben ihres Mandanten hing davon ab, und die Bänder konnten schon in den Spätnachrichten um 23 Uhr ausgestrahlt werden.
»Ich bedauere Ihren Verlust, Mr. Coluzzi«, sagte sie und eilte weiter zur Drehtür. Sie wusste nicht, wer der Bösewicht war, Angelo Coluzzi oder Tauben-Tony.
Und plötzlich überfiel sie das Gefühl, dass sie schlimmer war als beide zusammen.
Der Gerichtssaal, in dem die Kautionsverhandlung stattfinden sollte, lag im Keller des Gerichtsgebäudes und sprach jedem Fernsehklischee darüber Hohn, wie ein Gerichtssaal aussehen sollte, ironischerweise gerade deshalb, weil es sich um ein Fernsehstudio handelte. Wie die meisten Großstädte Amerikas hatte Philadelphia vor kurzem die Fernsehübertragung von Kautionsverhandlungen eingeführt, wodurch der Gerichtssaal zu einer Bühne wurde, ebenso breit, aber nur halb so lang wie die üblichen Gerichtssäle. Die durchsichtige Wand, die das Gericht vom Zuschauerraum trennte, bestand aus schalldichtem Spezialmaterial, das sich von einer Seite zur anderen zog; versteckte Mikrofone übertrugen die Worte des Richters in den Zuschauerraum, jedoch nicht umgekehrt.
Der Gerichtssaal enthielt das typische Podium mit dem Richterstuhl und die Tische der Anklage und der Verteidigung, aber es war ein gewaltiger Bildschirm neben dem Richterstuhl, der den Raum beherrschte. Als einziger Programmpunkt lief die große Quizsendung Kommt der Beschuldigte auf Kaution frei? Jeder Angeklagte erschien bei seiner Kautionsverhandlung in einer riesigen Nahaufnahme auf dem Bildschirm, aber er bekam nur drei Minuten Zeit vor der Kamera, weniger als der übliche Werbeblock. Die Beschuldigten wurden einer nach dem anderen eingeblendet, manchmal dreißig hintereinander, und wenn sie fertig waren, hörte man den Commissioner sagen: »Den Platz vor der Kamera räumen.« Als Judy diese Hochglanzbühne betrat, ließ das Szenario sie erschauern. Es war nicht nur bizarr, es war verfassungswidrig: Wollte der Beschuldigte seinen Anwalt konsultieren, konnte er das nur durch ein Spezialtelefon in der Zelle, dabei hörte sein Wächter jedes Wort. Und wenn Judy ihren Mandanten beraten wollte, stand ihr zwar ebenfalls das Telefon zur Verfügung, aber der gesamte Gerichtssaal – einschließlich des Commissioners, des Staatsanwalts und sogar der Prozessbeobachter – hörte alles, was sie sagte. Judy war der Überzeugung, dass dadurch das Recht auf Verteidigung verletzt wurde, aber niemand fragte sie nach ihrer Meinung oder hatte das Geld, um einen Musterprozess gegen diese Art von Prozess anzustreben, die in all ihren Varianten landesweit akzeptiert worden war. Die Regierung war damit nur durchgekommen, weil man die Kautionsverhandlung für ein Routineverfahren hielt, aber für Judy war kein Verfahren, bei dem jemand seine Freiheit verlieren konnte, jemals Routine. Sie ging den Gang hinunter. Ihre Knöchel schmerzten, und das flaue Gefühl in ihrem Magen nahm zu. Der Zuschauerraum war ungewöhnlich voll, die Leute saßen Schulter an Schulter, eng an eng in heller Kleidung. Warum waren so viele Menschen da? Konnte das wirklich an ihrem Fall liegen? Und wer hatte die Reporter informiert? Sie dachte an John Coluzzi draußen vor dem Gerichtsgebäude und spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Dann musste sie an Bennie denken und an ihre Worte: Wenn du nicht an Lucia glaubst, hat er keine Chance.
Judy schüttelte diese Gedanken ab, als sie Frank in der ersten Reihe zur Rechten entdeckte und seinen Blick auf sich spürte. Seine Jeansjacke hatte er durch ein sportliches Cordjackett ersetzt. Er drehte sich nur leicht in ihre Richtung und lächelte angespannt, seine dunklen Augen offensichtlich schmerzerfüllt. Mr. DiNunzio saß neben ihm in der ersten Reihe, gemeinsam mit einer Gruppe älterer Männer, und als er sie entdeckte, winkte er ihr im Gegensatz zu Frank und das mit einer Begeisterung, die für gewöhnlich dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorbehalten war. Wäre sie besserer Stimmung gewesen, Judy hätte gelacht.
Sie schritt auf ihn zu und bemerkte, dass sich ihr auf der rechten Seite jeder Kopf zuwandte. Zuerst glaubte sie, ihre braunen Pumps würden alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, bis ihr klar wurde, dass die Zuschauer auf dieser Seite – alte Männer, Frauen, kleine Kinder und alle möglichen Familienmitglieder – sie bewundernd ansahen, als sei sie eine Braut, die den Mittelgang der Kirche entlangschritt. Offenbar hatte sich die Kunde verbreitet, dass sie Tauben-Tony verteidigte, und das ganze Viertel war gekommen.
Glücklicherweise erreichte Judy die Absperrung zum Zuschauerbereich, bevor jemand in Applaus ausbrach. Mr. DiNunzio erhob sich auf seinen klobigen orthopädischen Schuhen und umarmte sie heftig, wobei er Franks Kopf zwischen ihnen einquetschte. »Judy, es freut mich so, dich zu sehen. Ich danke dir sehr«, sagte er, obwohl die Worte irgendwo in Judys Haaren verloren gingen.
»Ist schon okay, Mr. DiNunzio. Es wird alles gut.« Sie dachte genau das Gegenteil, aber die Worte kamen wie automatisch. Judy atmete seinen Duft von Mottenkugeln und frischer Stärke ein und klopfte ihm den Rücken in der Strickjacke, die er immer trug, ungeachtet der Jahreszeit. Sie war braun, wie alle seine Strickjacken, ein ausgeleiertes Wollteil, das sich für Judy wie ein Sicherheitsnetz anfühlte, obwohl er nicht einmal ihr Vater war. Darunter trug er ein weißes Hemd, eine Krawatte und altmodische braune Hosen. Judy hatte das Gefühl, dass es seine Kleidung für den Kirchgang war. Sie drückte ihn sanft zurück auf die Bank. »Setzen Sie sich und überlassen Sie alles Weitere mir. Wir vertreten diesen Fall jetzt offiziell.«
»Gott sei Dank. Und Dank an dich. Meine Frau lässt dich grüßen. Sie ist zu Hause geblieben, bei Mary.« Er klang entschuldigend und schien nicht zu merken, dass die Zuschauer hinter ihm die Hälse reckten, um ihre Unterhaltung mitzubekommen. »Sie wäre sehr gerne gekommen, du weißt das. Beide wären sie das. Aber du verstehst ja, Judy.«
»Natürlich verstehe ich es. Meine Güte. Und danke, dass Sie sich so gut um meine beste Freundin kümmern.« Aus dem Augenwinkel sah Judy auf den Fernsehbildschirm, aber Tauben-Tony war darauf noch nicht zu sehen. Das Gesicht einer jungen Schwarzen, der die Tränen in den Augen standen, füllte den Bildschirm. Auf der anderen Seite der durchsichtigen Wand brachte ihr Anwalt, ein Pflichtverteidiger, seine Argumente vor, warum man sie auf Kaution freilassen sollte. Sein Mund bewegte sich wie im Fernsehen, wenn man den Ton abgestellt hat.
»Ich möchte dir meine Freunde vorstellen, Judy«, sagte Mr. DiNunzio und wandte sich nach rechts. Neben ihm saß eine Reihe von Männern, die in seinem Alter oder in den Achtzigern zu sein schienen. Ihre Kleidung war der seinen erstaunlich ähnlich: Alle trugen Strickjacken über weißen Hemden und schmalen Krawatten, die noch aus ihrem Arbeitsleben in einer anderen Zeit stammten. Mr. DiNunzio zeigte mit faltiger Hand auf den Mann unmittelbar neben sich, der die Statur eines freundlichen Fleischklopses hatte. »Das hier ist mein Freund Tony LoMonaco vom anderen Ende des Viertels. Er kennt Tauben-Tony vom Club her.«
»Club?« Judy zweifelte, dass es die Art von Club war, die ihre Eltern meinten, wenn sie vom ›Club‹ sprachen.
»Der Taubenzüchterclub, du weißt doch«, erklärte Mr. DiNunzio, und Judy erinnerte sich wieder.
»Natürlich. Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. LoMonaco.« Sie schüttelte seine Hand und roch den Zigarrenrauch, der in seiner Kleidung hing. Sie nahm an, dass er besagter Tony-vom-anderen-Ende-des-Viertels mit dem Zigarrenkäuferruhm war. Judy drängte es, die Vorstellungsrunde hinter sich zu bringen. Sie musste sich auf die Kautionsverhandlung vorbereiten, zumindest mental. Und mit einem ungewöhnlichen Fall von Lampenfieber fertig werden. Die Begegnung mit John Coluzzi hatte sie nervös gemacht, und aus den Augenwinkeln konnte sie erkennen, dass er jetzt in der ersten Reihe auf der linken Seite des Zuschauerbereichs saß. Ein kleinerer Mann neben ihm strahlte eine ähnliche feindselige Haltung aus, weshalb Judy vermutete, dass es sich bei ihm wohl um Johns Bruder Marco handeln musste, von dem Frank ihr erzählt hatte. Um diese beiden Männer, von denen John der kräftiger gebaute war, sammelte sich eine finster dreinblickende Menge, bei der Judy offensichtlich unbeliebt war. Die rechte Seite des Zuschauerraums war also die Pro-Lucia-Sektion, die linke der Coluzzi-Clan, Seite an Seite, nur mit einem Mittelgang dazwischen, gleich einer modernen Version der Maginot-Linie.
Judy spürte instinktiv einen Anflug von Angst. Ihr dämmerte, dass Angelo Coluzzis Tod den Ruf nach Rache heraufbeschwören könnte, so tödlich, als wäre der Gerichtssaal nach Sizilien verlegt worden. Und die überlebenden Söhne John und Marco wirkten überaus lebendig. Marco, geschniegelt in Anzug und Krawatte, sah wie der intelligentere der beiden aus, daher vermutete Judy, dass er die Geschäfte führte. Aber es war Johns fleischiger Arm, der um eine sehr alte Frau in einem schwarzen Kleid gelegt war und der ihre greisen, roten Augen mit einem zusammengeknüllten Kleenex abtupfte. Das musste seine Mutter sein, Angelo Coluzzis Witwe. Er hat das Genick meines Vaters gebrochen, Miss Carrier. Ihm den Hals umgedreht wie einem seiner Vögel. Judy wandte den Blick ab. Ihre Gedanken rasten, aber Mr. DiNunzio zupfte an ihrem Ärmel.
»Und dieser junge Mann hier ist mein Freund Tony Pensiera«, sagte er. »Wir nennen ihn Tony Zweifuß, aber du kannst ihn einfach Fuß nennen.« Er lachte wie auch der Mann neben ihm, ein dünnes Männchen mit einer Hornbrille. Seine Füße wirkten auf Judy ganz normal. »Freut mich, Sie kennen zu lernen, Mr. Fuß«, sagte sie und entlockte damit Mr. DiNunzio, Fuß und der lauschenden Fangemeinde ein Lächeln.
»Mr. Fuß. Das gefällt mir. Mr. Fuß.« Fuß grinste und ließ dabei einen funkelnden Silberzahn aufblitzen, bei dessen Anblick sich Judy kurz fragte, warum man ihn nicht ›Zahn‹ nannte. Die übrigen alten Männer in der Reihe beugten sich vor, die zitternden Hände mit den arthritischen Fingern ausgestreckt. Sie wollten sich Judy vorstellen, aber die entschuldigte sich rasch.
»Ich würde Sie gern alle kennen lernen, aber ich muss nach vorn. Wir unterhalten uns später, wenn Sie einverstanden sind.« Die Männer zogen ihre Hände zurück, ließen sich wieder auf die polierten Bänke sinken und nickten zustimmend. Offensichtlich hießen sie alles gut, was sie tat. Genau das richtige Publikum für ihre braunen Pumps. Mit raschem Blick auf Frank eilte sie davon und gelangte mit Hilfe des Summers durch die Tür in der Sichtwand. Dann stand sie mit dem Rücken zur Tür, bis der vorhergehende Fall abgeschlossen war.
Tauben-Tonys Gesicht tauchte fünf Minuten später auf dem Bildschirm auf. Sein Erscheinungsbild ließ Judy zusammenzucken. Die Nahaufnahme zeigte jede Linie in seinem gebräunten Gesicht, verwandelte Falten zu tiefen Furchen in der braunen Erde seiner Haut. Die verwirrt gerunzelten Brauen ließen ihn wie Methusalem aussehen. Seine braunen Augen huschten hin und her; er war sich offensichtlich unsicher, ob er in die Kamera schauen sollte, desorientiert und verängstigt durch das Verfahren. Es war unmöglich, dieses Bild der Hilflosigkeit mit jemanden in Verbindung zu bringen, der einem anderen Menschen absichtlich das Genick brach. Sie erinnerte sich an Franks Worte: Wissen Sie, er kann nicht einmal eine Selektion bei seinen eigenen Tauben vornehmen. Er tötet keine von ihnen. Aber jetzt war nicht die Zeit, um sich darauf einen Reim zu machen.
Judy ging zum Tisch der Verteidigung, während der Pflichtverteidiger respektvoll zur Seite trat. »Euer Ehren, mein Name ist Judy Carrier, und ich vertrete in dieser Angelegenheit den Beschuldigten, Anthony Lucia«, sagte sie und setzte sich.
»Dann hat Mr. Lucia also eine private Verteidigung«, konstatierte der Commissioner unverbindlich, während er den Stapel an Gerichtsakten auf dem Richterpult durchging. Die mit der Entscheidung über Freilassung auf Kaution betrauten Beamten waren eigentlich keine Richter, obwohl dieser eine Robe trug, eine Krawatte mit einer Krawattennadel und den gehetzten Ausdruck eines Mannes, der den Vorsitz über 150 Kautionsanträge pro Tag führen musste. Seine hellblauen Augen hinter der Schildpatt-Lesebrille wirkten müde. »Wir können loslegen, Gerichtsdiener. Wo ist der Beschuldigte Anthony Lucia?«
Wie auf Stichwort schaltete sich der Ton des Bildschirms knackend ein, und Tauben-Tony flüsterte: »’allo? ’allo?«
Judy fürchtete, dass er nicht verstand, was da vor sich ging. Eine Welle der Unruhe lief durch den Zuschauerraum, sobald man seine zitternde Stimme über die Mikrofone hörte. Die Lucia-Seite des Gerichtssaals wirkte erschrocken beim Anblick von Tauben-Tony im Gefängnis, die Coluzzi-Seite wütend, weil er noch lebte. Judys Mund wurde trocken.
Der Commissioner blieb von all dem unberührt auf seiner Seite des kugelsicheren Plastiks. »Das Volk des Commonwealth von Pennsylvania gegen Lucia«, fing er an, nannte die Prozessnummer und sah dann in die Kamera vor sich, die sein Bild auf ein Fernsehgerät in Tauben-Tonys Zelle übermittelte. »Mr. Lucia, Ihnen wird ein Mord zur Last gelegt, verstehen Sie das?«
»’allo? Wer sein da?«, flüsterte Tauben-Tony und blinzelte in die Kameralinse.
»Mr. Lucia, ich entscheide über Ihre Kaution. Der Richter. Sehen Sie direkt in die Kamera.« Der Commissioner starrte in seine Kamera und posierte für eine ziemlich griesgrämige Nahaufnahme. »Mr. Lucia, brauchen Sie einen Dolmetscher? Ich glaube, bei Ihnen vor Ort befindet sich ein Spanisch-Dolmetscher.«
Judy schüttelte den Kopf. »Euer Ehren, er ist Italiener. Ein Mitglied seiner Familie könnte übersetzen, falls gerade kein Dolmetscher zur Verfügung steht.«
»Nein, das wäre nicht koscher. Lassen Sie uns versuchen, ob er es nicht auch so begreift. Mr. Lucia«, rief der Commissioner laut, als ob das helfen würde. »Verstehen Sie, dass man Ihnen einen Mord zur Last legt?«
»Si, sì. Mord. Richter? Ist das Richter?« Tauben-Tony sah immer noch nicht in die Kamera, und Judys Sorge verwandelte sich in blanke Angst. Wenn Tauben-Tony dachte, es handele sich um den Richter, würde er vielleicht mit der Wahrheit herausplatzen. Alles, was er bei der öffentlichen Kautionsverhandlung sagte, war bei dem Prozess zulässig. Wenn er jetzt ein Geständnis ablegte, würde ihn das um Kopf und Kragen bringen. Bloß nicht. Judys Hand griff nach dem schwarzen Telefon auf dem Tisch der Verteidigung, das sie direkt mit Tauben-Tony verbinden würde. Sie wollte es allerdings erst verwenden, wenn ihr keine andere Wahl blieb, da Gott und die Welt alles mithören könnte. Tauben-Tony würde sicher keine versteckten Andeutungen begreifen, und Bitte nicht beichten wäre mehr als ein versteckter Wink für den Staatsanwalt.
»Ja, ich bin der Richter. Sehr gut, Mr. Lucia.« Der Commissioner sah über seinen Brillenrand hinweg zum Tisch der Staatsanwaltschaft. »Ist die Staatsanwaltschaft in dieser Angelegenheit mit einer Kaution einverstanden?«
»Keineswegs, Euer Ehren«, erwiderte der Staatsanwalt. Seinem stacheligen Haarschnitt und dem schwarzen Anzug nach zu schließen, hatte er gerade erst die juristische Fakultät hinter sich und war durch einen Schichtwechsel in diese Kautionsverhandlung geraten. »Wie Sie wissen, ist Mord hier zu Lande normalerweise ein Verbrechen, für das man nicht auf Kaution freikommt, und hier handelt es sich darüber hinaus um einen besonders verabscheuungswürdigen Mord an einem achtzigjährigen Mann. Die Staatsanwaltschaft beantragt, dass keine Kaution gewährt wird.«
Tauben-Tonys Mund öffnete sich, so als wollte er etwas sagen.
»Euer Ehren«, warf Judy rasch ein und presste die Hand auf den Hörer. »Die Verteidigung ist der Ansicht, dass Mr. Lucia zweifelsohne ein Recht auf Kaution hat. Sein Führungszeugnis ist makellos, und er stellt offensichtlich keine Gefahr für die Bevölkerung dieser Stadt dar. Außerdem besteht auf Grund der Tatsache, dass er fast achtzig Jahre alt ist, keinerlei Fluchtgefahr.«
»Hat er seine Wurzeln in dieser Stadt, Ms. Carrier?«, las der Commissioner von der Standardcheckliste ab, mit der die Kautionswürdigkeit ermittelt wurde.
»Er hat feste Wurzeln in dieser Stadt, einschließlich seines Enkels Frank Lucia, der sich bereit erklärt hat, die Kaution zu hinterlegen.« Judy wies mit einer Handbewegung zur rechten Seite des Zuschauerraumes, und dort winkte man so wild zurück, dass sie sich fragte, ob die Anwesenden dachten, das Studiopublikum bei der Jerry Springer Show zu sein. »Wie Sie sehen, unterstützen ihn seine gesamte Großfamilie sowie alle seine Freunde. Sie sind extra zu diesem Verfahren erschienen. Er wird nirgendwohin fliehen, Richter.«
»Richter? Wo sein Richter?« Tauben-Tony zappelte nervös auf seinem Stuhl herum, lehnte sich zur Seite und lugte hinter die Kamera. »Richter, Sie mich sehen?« Er versuchte, von seinem Stuhl aufzustehen, wo man die Handschellen sah, mit denen er an den Sitz gefesselt war. Judy hielt es nicht länger aus und nahm den schwarzen Hörer ab.
»Mr. Lucia, hier spricht Judy. Nehmen Sie den Telefonhörer ab. Gehen Sie ans Telefon«, sagte sie schnell. Das Telefon hätte in der Spezialzelle klingeln sollen, und eine Sekunde später hörte sie es auch schon, gleich darauf das hohle Echo des Gefängniswärters, der Tauben-Tony aufforderte, an den Apparat zu gehen.
»Come?«, rief Tony verwirrt, drehte der Kamera den Rücken zu, als er sich an den Wächter wandte, der schließlich den Versuch aufgab, ihn zum Abnehmen des Hörers zu bewegen, nach vorn zum klingelnden Telefon langte und den Hörer selbst abhob. Der Bildschirm im Gerichtssaal zeigte den Ärmel einer gelbbraunen Uniform, der Tauben-Tony einen schwarzen Hörer entgegenhielt, vor dem dieser zurückschreckte, als sei es eine Kobra. Nach etwas gutem Zureden griff er vorsichtig nach dem Hörer, durch die Handschellen behindert, und wirkte dabei, als habe er noch nie zuvor einen Anruf entgegengenommen. »Sì? Chi è?«, rief er und blieb dabei auf Abstand zum Hörer. Judy verstand es sofort. Es klang wie Latein.
»Ich bin es, Judy. Mr. Lucia, erinnern Sie sich, Judy? Ihre Anwältin?« Sie musste ihn aus dem Gericht schaffen, auch das Fernsehgericht, und zwar schnell. Die Kautionsverhandlung hatte bereits zu lange gedauert. »Hören Sie mir gut zu. Bleiben Sie bitte sitzen, und beantworten Sie nur die Fragen, die der Richter Ihnen stellt.«
»Judy?« Tauben-Tony erkannte sie wieder und grinste. »Judy mit großer Klappe?«
»Ja! Genau!« Zum ersten Mal war sie glücklich, das einzugestehen, und sie sah, wie der Zuschauerraum lachte. Der Commissioner klopfte mit seinem Hammer und wandte sich an den Staatsanwalt. »Herr Anwalt, angesichts der Probleme, die Mr. Lucia schon mit einem normalen Telefon hat, kann ich kaum glauben, dass er in der Lage sein soll, mit den Flugplänen am Flughafen von Philadelphia zurechtzukommen. Ich denke, es besteht keine Fluchtgefahr, und setze die Kaution auf 25.000 Dollar fest.« Der Commissioner sah in die Kamera. »Mr. Lucia, Sie werden auf freien Fuß gesetzt, sobald Ihre Kaution hinterlegt wurde. Sie müssen aber zu Ihrer Vorverhandlung wiederkommen. Bitte unterzeichnen Sie die förmliche Vorladung zu Ihrem nächsten Erscheinen vor Gericht. Es ist das Blatt Papier vor Ihnen. Und jetzt ...«
»Richter? Ist das Richter?«, rief Tauben-Tony in den Hörer. Judy wurde aktiv und tat, was sie am Besten konnte. Reden. »Es ist gut, Mr. Lucia. Es ist Zeit, nach Hause zu gehen. Hängen Sie das Telefon ein, dann dürfen Sie gehen.«
»Judy? Wo ist Richter? Wir jetzt reden mit Richter?«, fragte Tauben-Tony, und Judys Herzschlag setzte aus. Gerade als sie ansetzte, die Vorhandlung zu verschleppen, brachte der Commissioner wieder seinen Hammer zum Einsatz.
»Mr. Lucia, wir beide haben für heute genug geredet, und es stehen noch viele Fälle an. Ihre Kautionsverhandlung ist hiermit beendet. Bitte unterzeichnen Sie das Papier vor sich, bevor Sie in Ihre Zelle zurückkehren. Bitten Sie den Wächter um Hilfe, falls es nötig ist, Sir.«
Plötzlich verschwand Tauben-Tonys Gesicht vom Bildschirm, der schwarz wurde, und Judy hätte vor Erleichterung beinahe geweint. Sie hängte den Hörer ein, nahm ihre Aktentasche und drehte sich in dem Moment um, als der nächste Angeklagte auf dem Bildschirm erschien und sein Pflichtverteidiger an ihren Tisch kam. Seit Happy Days war sie nicht mehr so froh gewesen, das Ende einer Fernsehsendung zu sehen. Und sie hatte gewonnen. Tauben-Tony würde freikommen. Die Lucia-Seite des Zuschauerraumes war jetzt auf den Beinen, und alle umarmten sich glücklich.
Judy fühlte sich fast euphorisch, als sie die Tür zum Zuschauerraum öffnete. Frank, Mr. DiNunzio, der duftende Tony-vom-anderen-Endes-des-Viertels LoMonaco und Brillenträger Tony Zweifuß Pensiera stürmten auf sie zu, hoben sie in die Luft, dankten ihr, umarmten sie und gratulierten ihr. Judy hatte noch nie einen solchen Gefühlsüberschwang erlebt, solch tiefe Liebe von völlig Fremden, und sie stellte fest, wie sie darin versank, vor Freude lachte, und auch den letzten Zweifel an diesem Fall vergaß.
Bis das Gebrüll begann.
Und der erste Kinnhaken sein Ziel fand.