Читать книгу Alte Schulden - Lisa Scott - Страница 6
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ОглавлениеAn dem Morgen, als Tony Lucia Angelo Coluzzi tötete, kam er zu spät, um seine Tauben zu füttern. Solange Tony Tauben hielt, also fast die ganzen 79 Jahre seines Lebens, hatte er sich zu ihrer Fütterung noch nie verspätet. Sie fingen augenblicklich an, sich zu beschweren, als er die Fliegengittertür öffnete, flatterten von ihren Vogelstangen, gurrten und kollerten, stoben erregt durch ihre Käfige, die Flügel gegen das feinmaschige Drahtgeflecht gedrückt, und versetzten die Luft in dem winzigen Taubenschlag mitten in der Stadt in Schwingung. Da half es auch nicht, dass der Morgen eisig war und der Märzwind draußen heftig blies. Die Vögel brannten darauf zu fliegen.
Tony hob seine runzelige Hand, um sie zu beruhigen, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Die Tauben hatten ein Recht darauf, sich schlecht zu benehmen, und er war ein toleranter Mann. Es machte ihm nichts aus, wenn die Vögel stets nur eine einzige Sache im Sinn hatten, nämlich nach Hause zu fliegen. Es waren Brieftauben, ganze 37, und sie hatten keine leichte Aufgabe: Sie wurden an einen Ort gebracht, an dem sie noch nie zuvor waren, mussten bei manchen Wetterflügen eine Distanz von dreihundert oder vierhundert Meilen zurücklegen und sich auf ihrem Heimweg an einem Himmel zurechtfinden, den sie noch nie durchflogen hatten, über Städte und Landschaften hinweg, die sie noch nie gesehen hatten und gar nicht kennen konnten. Flügelschlagend fanden sie ihren Weg nach Hause, einem winzigen Fleck in South Philadelphia, ohne je innezuhalten und sich für diese unglaubliche Leistung selbst zu loben, eine Leistung, die kein Mensch erklären, geschweige denn nachmachen konnte.
Dabei konnte eine Taube unendlich viele Fehler begehen. Sie konnte zu lange kreisen, so als wäre sie nur auf einer Spritztour oder auf einem Übungsflug. Sie konnte sich unterwegs ablenken lassen, musste gegen plötzliche Wettereinbrüche ankämpfen oder wurde, schlimmer noch, einfach müde und verlor die Orientierung – tausend Dinge konnten zum Verlust eines kostbaren Vogels führen. Und selbst wenn die erste Taube es nach Hause geschafft hatte, war der Wettbewerb noch nicht gewonnen. Viele Wettflüge, wurden verloren, weil die Brieftaube nicht rasch genug in den Schlag flog; die Taube mochte zwar als Erste den Taubenschlag erreichen, blieb aber auf dem Dach sitzen und trödelte auf dem Weg in den Schlag, so dass ihr Ring nicht abgenommen und vor den Vögeln der anderen eingestempelt werden konnte.
Tonys Tauben suchten jedoch immer rasch den Schlag auf. Er züchtete sie auf Schnelligkeit, Intelligenz und Tapferkeit, seit sechs oder sieben Generationen, und mit der Zeit waren die Vögel zu seinem Lebensinhalt geworden. Das war kein Leben für Ungeduldige. Es brauchte Jahre, ja Jahrzehnte, bis Tony die Ergebnisse seiner Zuchtwahl sah, und erst seit kurzem war sein Taubenschlag in South Philly der erfolgreichste in seinem Brieftaubenzüchterverein.
Plötzlich schlug die Fliegengittertür auf. Eine Windböe blies herein, überraschte Tony und erschreckte die Vögel in der ersten großen Voliere. Sie schlugen voller Panik mit den Flügeln, alle siebzehn, sämtlich so weiß wie Hostien, was ihren Käfig in einen schwirrenden, flügelschlagenden, kollernden und kreischenden Schneesturm verwandelte. Daunenfedern wirbelten auf und verfingen sich im Drahtgeflecht. Tony eilte zur Tür des Taubenschlags und tadelte sich wortlos, weil er so nachlässig gewesen war. Normalerweise hätte er die Tür hinter sich verriegelt – die alte Tür bog sich in der Mitte, verzogen vom Regen, und blieb ohne Riegel nicht zu –, aber an diesem Morgen kreisten Tonys Gedanken um Angelo Coluzzi.
Die weißen Tauben kamen schließlich wieder auf ihren Stangen vor den schmalen Sperrholzschachteln zur Ruhe, die sich vor den Wänden aneinander reihten, aber in ihrer Panik hatten sie sich wahllos niedergelassen, die gegenseitigen Reviergrenzen verletzt und die ganze Hackordnung durcheinander gewirbelt, was zu einer erneuten Unruhe führte. »Mi dispiace«, flüsterte Tony den weißen Vögeln auf Italienisch zu, es tut mir Leid. Obwohl Tony Englisch verstand, zog er das Italienische vor. Wie seine Vögel auch, so glaubte er zumindest.
Er betrachtete die weißen Tauben, die er so schön fand. Richtige Friedenstauben. Sie waren groß und gesund, und ihr Federkleid schimmerte so rein, dass nach Tonys Überzeugung nur Gott allein eine solche Farbe hatte schaffen können. Ihr perliger Schimmer kontrastierte mit ihren runden, an Tintenfässer erinnernden Augen, die schwarz wirkten, in Wirklichkeit aber vom Tiefsten aller Rottöne waren, dunkles Blutrot. Tony mochte sogar ihre merkwürdigen Vogelfüße mit den blättrigen roten Schuppen und dem nach hinten ragenden Zeh mit der Kralle, die so schwarz war, wie ihre Augen es zu sein vorgaben. Und er redete sich gern ein, dass seine weißen Tauben sich besser benahmen als andere Vögel. Sie verhielten sich zivilisierter und schienen sich bewusst, dass sie etwas Besonderes waren.
Der geheime Grund, weshalb die weißen Tauben einen Sonderstatus hatten, war der, dass sein Sohn sie geliebt und endlich erreicht hatte, dass Tony die Tauben nicht länger für 150 Dollar pro Auftritt bei Hochzeiten aufsteigen ließ. Tony hatte das für eine gute Nebenerwerbsquelle gehalten; warum soll man nicht etwas Geld verdienen, mit dem das Vogelfutter und die Medizin bezahlt und gleichzeitig die Vögel außerhalb der Saison in Form gehalten werden konnten? Und es machte Tony glücklich, die Bräute zu sehen, wie sie unweigerlich gerührt waren, sobald sich der Taubenschwarm vor der Kirche in die Lüfte erhob. Schließlich durfte man keinen Reis mehr werfen. All das erinnerte Tony an seine eigene Hochzeit, weniger vornehm als diese, obwohl es auf solche Dinge nicht ankommt, wenn es um die Liebe geht.
Aber seinem Sohn war die ganze Idee verhasst gewesen. Sie sind doch keine dressierten Affen, hatte Frank gesagt, sie sind Athleten.
Also hatte Tony nachgegeben. »Mi dispiace«, flüsterte er neuerlich, dieses Mal an seinen Sohn. Aber Tony durfte jetzt nicht an Frank denken. Das würde zu sehr schmerzen, und außerdem musste er die Vögel füttern.
Er schlurfte den schmalen Gang hinunter, und seine alten Turnschuhe mit den abgetretenen Sohlen machten auf dem gekalkten Sperrholzboden ein raschelndes Geräusch. Der Boden hatte dem Zahn der Zeit ganz gut widerstanden, anders als die Fliegengittertür. Tony hatte den Taubenschlag selbst gebaut, als er aus den Abruzzen nach Amerika gekommen war, vor nunmehr sechzig Jahren. Der Taubenschlag war neun Meter lang, die einzige Tür in der Mitte führte auf einen schmalen Gang, der sich über die gesamte Länge des Schlags zog. Er nahm Tonys ganzen Hinterhof ein, so als wären Taubenschlag und Hof ein einziger Nistkasten. Drei große Drahtvolieren mit Brutkästen säumten den Gang, der in einem vollgestellten Futterraum endete. Hier befanden sich die Körner, in einem Mülleimer vor Ratten gesichert, und in einer Regalwand standen Antibiotika, Läusespray, Vitamine und andere Vorräte, alle etikettiert, auf sauberen weißen Regalbrettern. Tony war stolz auf die Sauberkeit in seinem Taubenschlag. Er staubte die Fensterbretter ab, reinigte die Scheiben mit hellblauem Fensterputzmittel und fegte den Boden der Volieren zweimal täglich aus, nicht nur einmal. Das war wichtig für die Gesundheit seiner Vögel. Jedes Frühjahr, vor der Wettflugsaison, tünchte er das Innere des Taubenschlags; er hatte das erst letzte Woche getan und dabei einen vertrauten Stich gespürt – der kalkige Geruch der Tünche und ihre Helligkeit erinnerten ihn an die weiße Schuhputzflüssigkeit, mit der er die abgestoßenen Stellen auf Franks Babyschuhen ausgebessert hatte, nachdem sein Sohn angefangen hatte zu laufen. Tony erinnerte sich an diese flüssige Schuhkrem – sie wurde nicht mehr hergestellt –, wie er die steifen Babyschuhe poliert hatte mit dem Baumwollbausch, der mitgeliefert wurde, festgesteckt auf einem Stiel in der Verschlusskappe wie ein weißes Löwenzahnköpfchen. Und obwohl diese flüssige Schuhkrem tropfte, war das Ergebnis ganz gut.
Tony schüttelte den Kopf, als er jetzt daran dachte, und der Kalkgeruch erfüllte seine Nase wie der Duft einer Rose. Auf der Flasche mit der Schuhputzflüssigkeit hatte seinerzeit ein blaues Papieretikett mit dem kleinen, runden Bild eines blonden, blauäugigen Babys geklebt, das überhaupt nicht wie Baby Frank aussah, mit seinen tiefschwarzen Locken und seinen großen braunen Augen. Irgendwie hatte Tony immer geglaubt, wenn er die flüssige Krem auf Franks Babyschuhe rieb, würde sein Sohn wie all die amerikanischen Babys aussehen und irgendwann selbst ein Amerikaner sein, obwohl Frank schwarze Haare und keine Mutter hatte. Und als es tatsächlich so kam und Frank aufwuchs und seinen Platz in diesem Land fand, war Tony abergläubisch genug zu denken, dass es vielleicht an der Schuhputzflüssigkeit gelegen hatte.
Tony musste aufhören, in Erinnerungen an seinen Sohn zu schwelgen, aber er konnte nicht anders, nicht an diesem Morgen, besonders nicht an diesem Morgen. Trotzdem versuchte er, sich auf die erste Voliere zu konzentrieren und trotz nachlassender Sehkraft ihren Zustand abzuschätzen. Die Tauben saßen jetzt wieder ruhig auf den Stangen, und sie sahen gut aus, nicht nach großen Kämpfen während der Nacht. Tony machte sich Sorgen wegen dieser Kämpfe; die Vögel legten ein starkes Revierverhalten an den Tag und hackten ständig wegen was auch immer aufeinander ein, doch gerade die weißen Tauben trugen leicht Verletzungen davon. Tony wollte, dass sie besonders gut aussahen und gesund blieben. Für Frank. Tony schlurfte durch den Gang zur zweiten und zur dritten Voliere, in der sich die mehrfarbigen Vögel befanden, hauptsächlich Meulemanns mit ihrem rotbraunen Gefieder und Janssens. Es gab auch noch andere Züchtungen in Grau- und Brauntönen und die gewöhnlichen in Schiefergrau, mit ihren normalerweise dunkelbraunen Augen. Tony mochte auch die normalen Züchtungen; die Alltäglichkeit ihres Federkleides erinnerte ihn an sich selbst; er war kein geschniegelter Kerl, kein braggadocio. Er hatte nicht das großspurige Auftreten, das manche Männer an den Tag legten, die wie Hähne herumstolzierten. Das war sein Ruin gewesen, aber nun, da er alt war, kam es darauf nicht länger an. Es kam ihm schon seit langer Zeit nicht mehr darauf an. Seit sechzig Jahren, um genau zu sein.
Tony beobachtete die Janssens, die gurrten und sich putzten, aber er sah sie nicht wirklich, denn seine Gedanken waren anderswo. Diese Linie war benannt nach der Familie Janssen, die sie gezüchtet hatte, so wie die anderen die Namen anderer Familien trugen, die Tauben züchteten. Tony hatte immer davon geträumt, dass seine Familie einmal eine eigene Züchtung hervorbringen würde, aber er hätte sie nicht nach sich selbst benannt. Er wusste, welchen Namen er ihr geben würde, aber er hatte nie die Chance erhalten. Ein Großteil der besten Züchtungen stammte aus Belgien und Frankreich. Auch italienische Tauben schnitten bei Wettflügen gut ab, aber Tony wollte nichts mit ihnen zu tun haben, vor allem nicht mit den so genannten Mussolini-Vögeln. Niemand, der unter Mussolini gelebt hatte, würde etwas mit einem Mussolini-Vogel zu tun haben wollen. Chi ha poca vergogna, tutto il mondo è suo. Wer ohne Schande ist, dem gehört die ganze Welt. Mussolini- Vögel!
Tony war ein alter Mann mit alten Erinnerungen. Er wünschte, er könnte auf den Boden des Taubenschlags spucken, aber er wollte ihn nicht beschmutzen. Stattdessen blieb er zitternd stehen, bis die Wut ihn verlassen hatte und nur noch ein bitterer Nachgeschmack in seinem Mund zurückblieb. Unsicher auf den Beinen inspizierte er langsam die Meulemanns, und auch ihnen schien es gut zu gehen. Nur Tony hatte einen schrecklichen Morgen gehabt. Einen furchtbaren Morgen, den schlimmsten seit langer Zeit, aber nicht den schlimmsten in seinem Leben. Den schlimmsten Morgen seines ganzen Lebens hatte er vor sechzig Jahren durchlebt. Damals an einem Morgen, und jetzt an einem Morgen. Heute. Tony hatte geglaubt, er würde sich danach besser fühlen, aber dem war nicht so. Er fühlte sich schlechter. Er hatte sich gegen Gott vergangen. Er wusste, dass im Himmel das Urteil über ihn gesprochen und er es akzeptieren würde.
Die Meulemanns, die laut gurrten und gefüttert werden wollten, unterbrachen seine Gedanken. Tonys dunkle Augen suchten, wie stets, seinen Liebling, einen Meulemanns, den er Old Man nannte. Old Man und Tony konnten auf achtzehn gemeinsame Jahre zurückblicken. Old Man war der älteste von Tonys Tauben, und wenn Tony ihn sah, war er nicht ganz sicher, wer von beiden denn nun der alte Mann war, er oder der Vogel. Old Man ruhte friedlich auf seiner Eckstange in der zweiten Voliere, den kräftigen Kopf wie immer hoch erhoben, die Augen klar und wachsam. Die breite Brust verdeckte seine Füße immer noch in einer robusten Kurve. Tony erinnerte sich an den Tag, als das Küken geschlüpft war, ein im Großen und Ganzen typisches schiefergraues Küken, das augenscheinlich nichts Besonderes an sich hatte außer der Zeichnung um seine Augen. Der Ausdruck in den Augen einer Taube sprach zu Tony, und die Augen von Old Man verrieten Tony damals, dass er schnell und klug werden würde. Und zu seiner Zeit war Old Man dann auch der Beste gewesen.
»Come sta?«, fragte Tony. Wie geht es dir? Aber Old Man wusste genau, was Tony meinte, und das war nicht Wie geht es dir? Old Man blickte den alten Mann wie zur Antwort an. Tony wurde das Gefühl nicht los, dass der alte Vogel genau wusste, was er an diesem Morgen getan hatte – etwas, das so wichtig gewesen war, dass Tony versäumt hatte, seine Vögel pünktlich zu füttern. Old Man wusste, warum Tony das, was er getan hatte, einfach hatte tun müssen, selbst nach all diesen Jahren. Und Tony wusste, dass Old Man seine Tat billigte.
In diesem Moment hörte Tony, wie draußen vor dem Haus und in der Gasse hinter dem Taubenschlag, auf der anderen Seite der Schlackensteinmauer, Autos vorfuhren. Schwere Autotüren schlugen zu. Tony wusste, dass es sich um Polizeiwagen handelte.
Er hatte sie erwartet.
Aber die Vögel erschraken über den plötzlichen Lärm und flatterten in den Volieren hoch. Obwohl Tony klar war, dass die Polizei kommen würde, so fühlte er doch, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Wie damals, vor so langer Zeit. Er erstarrte vor den Volieren, während die Polizisten englische Wörter brüllten, die er gar nicht erst übersetzte, obwohl er es gekonnt hätte. Dann rammten sie die alte Holztür in der Hinterhofmauer, ein, zwei, drei Stöße, und das Schloss splitterte, gab ihren Schultern nach, und sie stürmten in seinen Hof, trampelten sein Basilikum und seine Tomaten nieder.
Sie kamen seinetwegen.
Tony flüchtete nicht vor ihnen, das hätte er nie getan, aber ihm fiel wieder ein, dass er seine Vögel noch füttern musste. Er musste sich damit beeilen, bevor ihn die Polizisten mitnahmen. Er schlurfte zum Vorratsraum und sah aus den Augenwinkeln, wie die Polizisten lautlos ihre schwarzen Waffen zogen und einander mit Gesten Instruktionen gaben. Zwei von ihnen schlichen wie Feiglinge, die sie ja auch waren, zur Hintertür seines Hauses, kleine Männer, die sich hinter schwarzen Uniformhemden und funkelnden Marken versteckten.
In Tonys Bauch brannte die Galle, und die Erkenntnis traf ihn mit überraschender Wucht, dass tiefer Hass viele Jahre wie ein Feuer lodern konnte, ohne sich selbst je zu verzehren. Und das Seite an Seite mit zutiefst empfundener Liebe.