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Tauben-Tony kam Judy wie der niedlichste Angeklagte aller Zeiten vor, und vom selben Augenblick an, in dem sie den kleinen alten Mann im Besprechungsraum des Roundhouse, dem Polizeiverwaltungsgebäude von Philadelphia, zum ersten Mal sah, wollte sie ihn retten. Er war nur ungefähr ein Meter sechzig groß, wog wahrscheinlich um die 65 Kilo und schreckte zusammen, als Judy in den Raum stürzte. Aus den kurzen Ärmeln seines weißen Papieroveralls, der für seinen dürren Hals und schmalen Brustkorb viel zu weit war, ragten seine verwelkten Arme, wie zwei mickrige Zweige hervor. Stahlhandschellen hielten seine knorrigen Handgelenke zusammen. Sein sonnenverbrannter Schädel war übersät mit Leberflecken und bedeckt von wenig mehr als nur ein paar dünnen Strähnen silbriggrauen Haares. Seine Nase, von der sich die Haut schälte, war schmal und gebogen wie bei eine Adler, und seine Augen unter den kurzen Brauen waren rund und dunkelbraun, fast schwarz. Judy konnte sich seine herrliche Sonnenbräune nicht erklären, aber sie nahm an, dass man ihn Tauben-Tony nannte, weil er wie eine Taube aussah.

»Mr. Lucia, ich bin Anwältin«, stellte sie sich vor, die Aktentasche in der Hand. »Mein Name ist Judy Carrier, und die DiNunzios haben mich geschickt. Sie haben mich gebeten, Ihnen zu helfen.«

Die einzige Reaktion des alten Mannes bestand darin, sie anzublinzeln, und Judy verstand den Grund dafür nicht. Vielleicht sprach er kein Englisch. Vielleicht wollte er keinen Anwalt. Vielleicht hätte sie eine Strumpfhose tragen sollen.

»Ich bin eine Freundin von Mary DiNunzio.« Judy setzte sich auf den orangefarbenen Schalenstuhl auf der Seite der langen Theke, die für die Anwälte gedacht war. Fünf schäbige Besprechungsnischen reihten sich Seite an Seite. Der Besprechungsraum war außer ihnen leer – nicht, weil es keine Verbrecher gab, sondern weil es an Anwälten mangelte. Nur wenige Anwälte machten sich die Mühe, in die Eingeweide des Roundhouse vorzudringen. Sie trafen ihre Mandanten lieber an Orten, an denen der Boden nicht lebendig zu sein schien. »Sie kennen doch Mary DiNunzio, oder?«

Der alte Mann blinzelte noch immer. Langsam hob er seine Arme und wies auf Judy mit einem Finger, der zwar arthritisch verkrümmt war, aber nicht zitterte. Seine Ärmel glitten hoch, als er auf sie zeigte, und legten einen überraschend drahtigen Bizeps frei und ein tätowiertes Kruzifix, das eine verschwommene blaue Färbung angenommen hatte. Judy verstand nicht, warum er auf sie zeigte.

»Mr. Lucia, was ist denn?«

»Ihr, äh, Ihr Gesicht.« Sein italienischer Akzent war so stark wie ein Schwergewichtsringer. »Ihr Mund. Er bluten?«

Judy wurde rot. Der Lipliner. Der Korrekturstift. Kein Wunder, dass die Cops bei ihrem Anblick zurückgewichen waren. Und sie hatte geglaubt, sie seien vor der Anwältin zurückgewichen. »Nein, er blutet nicht. Es tut mir Leid.« Sie wischte sich rasch den Mund ab, wobei sich ihr ganzer Handrücken, rot färbte. »Mag sein, dass ich nicht danach aussehe, aber ich bin kein Clown, sondern Anwältin – und eine ziemlich gute, Mr. Lucia.«

»Mariano mir das gesagt. Ich ihn angerufen, und er mir gesagt, Sie kommen. Ich Ihnen danken.« Der alte Mann nickte höflich. »Und Sie mich nennen Tauben-Tony. Alle mich nennen Tauben-Tony.«

»Tja, dann, Tauben-Tony, vielen Dank. Ich übernehme Ihren Fall gern.« Judy fiel wieder ein, dass ihr die Kündigung drohen konnte, weil sie einen netten Mandanten vertrat. In letzter Zeit hatte sie vorwiegend Firmen vertreten, seelenlose Einheiten mit einem Freibrief auf schlechtes Benehmen. »Ich brauche erst noch das Okay meiner Chefin, dass unsere Kanzlei Ihren Fall übernimmt. Fürs Erste bin ich heute nur vorbeigekommen, um sicherzustellen, dass Sie sich nicht selbst schaden.«

Tauben-Tony runzelte verwirrt die Stirn. Judy ermahnte sich, auf ihre Worte zu achten. Ihre einzigen Erfahrungen mit Menschen, die nur gebrochen Englisch sprachen, hatte sie während des Studiums in einer öffentlichen Rechtsberatungsstelle gesammelt – und schon damals hatten ihr ihre Lateinkenntnisse nicht viel geholfen. »Ich meine, dass Sie Ihrem Fall nicht schaden. Die falschen Dinge zur Polizei sagen. Sie haben doch nicht mit der Polizei geredet, oder?«

»Ich nicht reden. Das Mariano mir gesagt.«

»Hat die Polizei Ihnen Fragen zu dem Mord gestellt?« Sie ließ den Verschluss ihrer Aktentasche aufschnappen, nestelte einen Block aus dem Chaos darin und fand nur durch schieres Glück einen Pilot-Füller. Ihre Aktentasche war also ein wenig voll. Na und? Manchmal musste man sein Nest eben mit sich umher tragen. Niemand weiß besser, wie man ein Zelt aufschlägt, als das Kind eines Soldaten.

»Sì, sì. Sie gestellt haben Fragen.«

»Was für Fragen?« Insgeheim fragte sich Judy, ob die Bullen bei der Verhaftung möglicherweise die Rechtsbelehrung unter den Tisch hatten fallen lassen, was immer noch vorkam. Einen kleinen alten Mann zu übervorteilen, noch dazu einen Immigranten. Sie sollten sich was schämen! »Viele Fragen?«

»Ich nicht antworten.«

»Gut.«

»Ich nicht mögen.«

Langsam gewöhnte sich Judy an seinen Akzent. »Was mögen Sie nicht?«

»Polizei.«

Sie lächelte, während sie den Füller aufschraubte und ein leeres Blatt im Notizblock suchte. »Was hat die Polizei noch getan?«

»Mich haben hierher gebracht, meine Hände genommen« – Tauben-Tony hielt zwei kleine Handflächen hoch, so dass Judy die Tintenspuren auf jeder Fingerspitze erkennen konnte –, »haben Foto gemacht. Nehmen alle Kleider, alle Schuhe, alle Socken. Nehmen Blut. Nehmen alles. Alles. Ich nicht kann glauben!« Seine dunklen Augen blickten voller Erstaunen, und Judy kam zu dem Schluss, dass er wohl nicht viel herumkam.

»Sie haben Ihre Kleider und Ihr Blut als Beweismittel genommen. Das tun sie immer. Verfahrensvorschrift.«

»Beweismittel?«, wiederholte Tauben-Tony und rollte das unvertraute Wort wie einen Schluck Wein in seinem Mund. »Was bedeuten Beweismittel?«

»Ein Beweismittel ist ein Beweis gegen Sie. Beweismittel zeigen, dass Sie das Verbrechen begangen haben.«

»Beweis? Sie genommen mutandine!«

»Was heißt mutandine?«, fragte Judy, und Tauben-Tony errötete merklich. Seine dünne Haut verriet ihn. Mastandine musste wohl Unterwäsche heißen.

»Sie vergessen«, sagte er schnell und wandte den Blick ab. Judy musste ein Lächeln unterdrücken. Er war so süß, sie konnte nicht glauben, dass die Polizei ihn wegen Mordes verhaftet hatte. Waren die denn verrückt? Langsam fing auch sie an, nicht zu mögen Polizei.

»Soweit ich weiß, wird Ihnen ein Mord zur Last gelegt.« Judy sah in ihren Notizen nach. »Der Mann, den Sie angeblich ermordet haben, war achtzig Jahre alt. Ein Angelo Coluzzi. Habe ich das richtig ausgesprochen? Coluzzi?« Sie sprach es Ko-lutz-i aus, damit es weicher und italienischer klang. »Richtig so?«

»Sì, sì. Coluzzi.«

»Gut. Oben wird gerade Klage gegen Sie vorbereitet – man macht sich bereit. Verstehen Sie das?«

»Sì.« Tauben-Tonys Gesichtsausdruck wurde ernst. »Mord.«

»Stimmt, Mord. Und ich muss wissen, was für Beweismittel – was für Beweise – man gegen Sie hat. Ich fange damit an, dass ich Ihnen ein paar Fragen ...«

»Ich Coluzzi getötet«, unterbrach sie Tauben-Tony. Judys Mund wurde trocken. Sie hatte ihn falsch verstanden. Sie musste ihn einfach falsch verstanden haben. Judy versuchte, ihre Stimme wiederzufinden.

»Sie haben nicht eben gesagt, dass Sie Coluzzi ermordet haben, oder?«, fragte sie in einem völlig unprofessionell bestürzten Tonfall. Sie wusste nicht, was man als Anwältin tun musste, wenn der Mandant freiwillig ein Geständnis ablegte. Wahrscheinlich musste man ihm den Mund verbieten, aber das war nicht Judys Art. Wenn es stimmte, war es schrecklich, und sie wollte die Gründe dafür in Erfahrung bringen. »Haben Sie gerade gesagt, Sie hätten Coluzzi ermordet?«

»No.«

Judy seufzte erleichtert auf. Es musste die Sprachbarriere gewesen sein. »Gott sei Dank.«

»Ich nicht habe ermordet Coluzzi.«

»Das habe ich auch nicht geglaubt.«

»Ich ihn getötet.« Tauben-Tony nickte nachdrücklich und presste seine schmalen Lippen entschlossen zusammen. Judy war vollends verwirrt.

»Wir versuchen es noch einmal, Mr. Lucia. Tony. Haben Sie Angelo Coluzzi getötet? Ja oder nein?«

»Sì, sì, ich ihn getötet. Aber« – Tauben-Tony hielt einen Finger hoch, wie zur Warnung – »nicht Mord. Ich nicht Mörder!«

»Wie meinen Sie das?« Judys Verstand schlug Purzelbäume. Das Kartellrecht schien ihr plötzlich sehr verlockend. Der Sherman Act war ein Kinderspiel im Vergleich zu einem italienischen Einwanderer. »Sie haben Coluzzi getötet, aber nicht ermordet?«

»Sì.«

»Das heißt ja, richtig?« Sie wollte nur sicher gehen. Klarheit wäre jetzt nicht schlecht, wo es doch um Mord ging.

»Sì, sì. Er getötet meine Ehefrau, also ich ihn getötet. Nicht ist Mord.«

Judys Herz machte einen Sprung. Vielleicht war es Selbstverteidigung. »Wo war Ihre Ehefrau, als Coluzzi sie umbrachte? Haben Sie versucht, Ihre Ehefrau zu schützen? Haben Sie ihn deshalb getötet?«

»No.«

»Nein?«

»Meine Ehefrau tot seit sechzig Jahre. Ist worden ermordet von Coluzzi.«

Völlig perplex legte Judy ihren Füller nieder. »Coluzzi hat Ihre Ehefrau vor sechzig Jahren ermordet, also haben Sie ihn heute getötet.«

»Sì.«

Das bedeutete Ja, aber trotzdem. »Warum haben Sie so lange gewartet?«

»Sì, sì!« Tauben-Tonys Gesicht wurde rot vor Erregung. »Ist her sechzig Jahre – ist gleich. Occhio per occhio, dente per dente. Coluzzi großer, wichtiger Mann.« Plötzlich lebhaft, streckte er seinen eingefallenen Brustkasten heraus. »Fascisti! Sie kennen, Fascisti?«

»Ja. Faschisten?« Judy suchte in ihren Gehirnwindungen nach Einzelheiten zur italienischen Geschichte, aber ihr fielen nur Die Sopranos ein. Sie dachte intensiver nach. »Sie meinen wie Mussolini?«

»Sì! Il Duce!« Tauben-Tony versuchte sich an einer Nachahmung und streckte die Unterlippe vor. »Mörder! Er! Nicht ich.«

»Ich verstehe nicht...«

»Coluzzi umgebracht meine Silvana!« Tauben-Tonys Augen füllten sich mit Tränen, ein glänzender, nicht zu verkennender Schimmer, den er voller Scham sofort wegblinzelte. Sein ausgeprägter Adamsapfel hüpfte in seinem sehnigen Hals auf und ab. »Also ich getötet Coluzzi.«

»Wollen Sie damit sagen, dass dieser Coluzzi Ihre Ehefrau in Italien umgebracht hat?«

»Sì, sì. Er sie ermordet!«

»Warum hat er das getan?«

»Er sie haben wollte, aber sie ihn nicht haben wollte! Also er sie umgebracht!« Tauben-Tony erzitterte bei dem Gedanken, ein Schauder, der über sein Gesicht und sein Kinn lief und seine Zerbrechlichkeit noch unterstrich. Judy spürte, wie Mitgefühl in ihr hochstieg.

»Sie haben es ihm also heimgezahlt?«

»Sì, sì.«

Judy konnte das Szenario jetzt verstehen, aber in ihrer Brust tobte ein Konflikt. »Coluzzi wurde für diesen Mord demnach nie bestraft?«

»Sì, sì.«

»Was hat die Polizei getan?«

»Coluzzi sein gewesen Polizei! Fascisti gewesen Polizei! Ihnen egal! Ich ihnen sagen, sie nichts tun! Sie lachen!« Seine dünnen Lippen pressten sich verbittert aufeinander. »Dann kommen Krieg, und Leute nicht mehr kümmern um eine einzige Frau. Sie glauben, jemand sich kümmern? Also Tauben-Tony sorgen für Gerechtigkeit! Für Silvana! Für Frank, für meine Sohn!« Tony beugte sich vor und seine gefesselten Hände umklammerten die Resopal-Theke. »Wir jetzt gehen. Erzählen Richter!«

Judy hob die Hände. »Nein! Wir nicht erzählen Richter! Wir nicht erzählen niemand. Keinem.« Die doppelte Verneinung brachte sie wie üblich aus dem Konzept. »Sie haben das doch nicht der Polizei erzählt, oder?«

Tauben-Tony schüttelte den Kopf. »Ich nicht mögen.«

»Nicht mögen was?«

»Polizei.«

Das hatte Judy vergessen. »Okay, nachdem die Anklage gegen Sie verlesen worden ist – nachdem Sie offiziell beschuldigt worden sind –, legt der Richter fest, ob man Ihnen Kaution zugesteht. Kaution heißt, dass Sie bis zum Beginn der Verhandlung freikommen, wenn Sie Geld bezahlen. Ich glaube, Sie werden Kaution in Anbetracht Ihres Alters und Ihres Führungszeugnisses bekommen.« Judy stockte. »Sie haben doch sonst noch niemanden getötet, oder?«

Tauben-Tony schien eine Weile darüber nachzudenken. »No.«

»Gut. Haben Sie jemals ein anderes Verbrechen begangen?«

»Kein Verbrechen.«

»Hervorragend. Wenn Sie auf Kaution frei kommen, wer wird dann die Kaution für Sie stellen?«

Tauben-Tony runzelte verständnislos die Stirn.

»Wer aus Ihrer Familie holt Sie dann? Wer wird Geld bezahlen, damit Sie auf freien Fuß kommen? Gibt es da jemand, wenn wir zum Richter gehen?«

»Frank. Meine Enkelsohn. Er kommen.« Tauben-Tony erstarrte. »Ich sagen Richter.«

»Nein, Sie nicht sagen Richter.« Judy hatte die juristische Pflicht, ihn zu beschützen, und sie wollte dieser Geschichte erst auf den Grund gehen, bevor sie ein Urteil über ihn fällte, selbst bei Mord. »Sie müssen auf mich hören. Außerhalb von Sizilien ist Rache keine Rechtfertigung für einen Mord.«

»Come?«

»Sie dürfen es dem Richter nicht sagen. Wenn Sie es doch tun, schickt Sie die Polizei für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis. Das wollen Sie doch nicht, oder? Dann werden Sie Frank niemals wieder sehen.« Judy sah, wie Tauben-Tony seine schmalen Lippen schürzte. Dieses Argument schien er zu begreifen. »Gut, dann sind wir uns also einig. Lassen Sie mich jetzt nach oben gehen und herausfinden, wann Ihre Kautionsverhandlung angesetzt ist. Sie müssen mir versprechen, dass Sie mit niemandem über diese Sache reden. Versprechen Sie mir das?«

»Sì, sì. Io lo fatto.«

Judy hatte keine Zeit für eine Übersetzung. Sie wollte rasch nach oben und in Erfahrung bringen, welche Beweise gegen ihn vorlagen. »Versprechen Sie es mir.«

Tauben-Tony biss nachdenklich auf seiner Unterlippe herum.

»Ich kann Sie nicht hören«, sang Judy und hielt eine Hand an ihr Ohr. Tauben-Tony lächelte zum ersten Mal.

»Ich versprechen Lady mit großer Klappe«, erwiderte er. Judy nahm an, dass er ihren Konturenstift meinte.

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