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Es war fast Nacht, und die schmale Straße in South Philly war viel zu eng für eine ordentliche Straßenbeleuchtung. Judy konnte kaum die zweifarbigen Verandastühle aus Plastik erkennen, die vor jedem Haus auf dem Bürgersteig standen, mit je drei bis vier Stühlen im Halbkreis. Die Nachbarn liefen herum, aber sie waren auf schattenhafte Umrisse reduziert, die rosafarbene Lockenwickler trugen und Zigaretten rauchten. Judy bahnte sich mit Leichtigkeit den Weg durch die Menge, die sich um Frank und Tauben-Tony sammelte, und als sie nach vorn kam, sah sie auf. Die Eingangstür von Tauben-Tonys Haus war mit einem Vorschlaghammer aus den Scharnieren geschlagen worden, Holzsplitter bedeckten die Marmortreppe. Die beiden Vorderfenster waren eingeschlagen und innen leuchtete eine Lampe. Judy starrte einen Augenblick auf diese Zerstörung, verständnislos, dann nahm sie ihr Handy aus der Handtasche.

»Meine Vögel! Meine Vögel!«, Tauben-Tonys Stimme zitterte. Er eilte an Judy vorbei die Eingangstreppe hinauf, berührte in seiner Eile kaum das gusseiserne Geländer. Frank folgte ihm zunächst dicht auf den Fersen, kam dann aber bei Judy zum Stehen und nahm ihren Arm. »Hören Sie, wir müssen meinen Großvater so schnell wie möglich hier wegbekommen, verstanden?«, sagte er leise. »Er schwebt in Gefahr, wenn er heute die Nacht hier verbringt. Er wird alles daransetzen, hier zu bleiben, aber ich werde es nicht zulassen. Sie werden mich unterstützen. Verstanden?«

»Natürlich«, sagte sie, stets bereit, Anweisungen von einem Mandanten entgegenzunehmen, wenn sie ohnehin einer Meinung mit ihm war. Sie hatte bereits ihr schwarzes Star-TAC-Handy aufgeklappt und drückte die Kurzwahl für die Notrufnummer. Eine weibliche Stimme meldete sich. »Hallo?«, sagte Judy. Frank schnaubte.

»Viel Glück«, meinte er nur und eilte seinem Großvater hinterher.

»Ich möchte einen Einbruch melden«, erklärte Judy und gab der Frau von der Einsatzzentrale die Adresse durch. Diese versprach, dass baldmöglichst ein Streifenwagen vorbeikommen würde. Judy hielt das Handy doch etwas ängstlich umfasst. Sie setzte auf die Polizei von Philadelphia, aber eine wirklich sichere Wette war das nie. Wenn sie selbst nichts unternahm, konnte das Spiel zwischen Gesetz und alter italienischer Methode auch Null zu Eins ausgehen.

Ein klirrendes Geräusch riss sie plötzlich aus den Gedanken und sie blickte sich um. Eine Frau in einem Phillies T-Shirt fegte scharfkantige Glasscherben in eine Kehrichtschaufel mit langem Griff. Judy war zwar von der Geste gerührt, durfte sie aber nicht weitermachen lassen. »Ich weiß, Sie wollen nur helfen, aber vielleicht sollten Sie jetzt nicht kehren«, sagte Judy so freundlich wie möglich zu der Frau. »Möglicherweise sind Fingerabdrücke auf dem Glas – oder andere Beweise. Juristisch gesehen ist das ein Tatort.«

»Ach, tut mir Leid.« Die Frau hörte sofort mit Fegen auf. Die Scherben rollten über den schmutzigen Bürgersteig, und das Licht aus dem Fenster spiegelte sich in ihnen. »Das wusste ich nicht. Aber Sie sind Anwältin, Sie werden es schon wissen.«

Judy fragte die Frau nicht, woher sie sie kannte, aus dem Fernsehen oder der South Philly Gerüchteküche, die offenbar lückenloser informierte als die Kabelprogramme. »Wo sind die Cops? Hat irgendjemand die Cops gerufen?«

»Keine Ahnung. Es ist eine Sünde, was sie diesem alten Mann angetan haben«, klagte die Frau.

»Wer war es?«, fragte Judy, obwohl sie die Antwort erraten konnte.

»Ich weiß es nicht.«

Judy musste ihr nicht ins Gesicht sehen, um zu wissen, dass sie log. »Sie haben keine Ahnung?«

»Nein.« Die Frau schüttelte den Kopf.

»Wissen Sie, wann es passiert ist?«

»Nein«, antwortete die Frau und wich zurück.

»Haben Sie etwas gehört? Etwas gesehen?«

»Sicher nicht.« Jetzt verschwand die Frau in der Menge, aber Judy gab noch nicht auf. Sie hielt die Hände hoch, in einer davon befand sich immer noch ihr Handy.

»Bitte! Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!«, rief sie. Die Nachbarn, die herumgeschlendert waren, blieben stehen und sahen sie an. Judy konnte in der Dunkelheit den Ausdruck in ihren Gesichtern nicht erkennen, aber sie wusste, dass die Leute zuhörten, denn es wurde plötzlich still, und ein Meer aus Eagles-Mützen, Flyers-Mützen und rosafarbenen Haarnetzen drehte sich in ihre Richtung. Zigarettenenden glühten wie angezündete Radiergummis neben den rundlicheren, gedämpfteren glimmenden Zigarrenenden. Jemand im hinteren Teil der Menge kicherte, und ein anderer rief: »Yo! Ist das eine Bombe in Ihrer Hand?« Alle lachten, einschließlich Judy, die das Handy rasch wieder in ihre Handtasche gleiten ließ.

»Wir haben hier offensichtlich ein Problem«, erklärte sie laut. »Jemand ist in Tauben-Tonys Haus eingebrochen. Hat irgendjemand gesehen, wer die Tür und die Fenster eingeschlagen hat?«

Die Menge blieb größtenteils stumm, obwohl einige Leute sich miteinander unterhielten und derselbe Scherzkeks in den hinteren Reihen auch weiterhin kicherte.

»Hören Sie, jemand muss doch etwas gehört oder gesehen haben. Es braucht Zeit, eine Tür einzuschlagen, und es macht Lärm, ein Fenster zu zerbrechen. Es muss am helllichten Tag geschehen sein. Will denn niemand Tauben-Tony helfen?«

Die Menge antwortete nicht und löste sich an ihren Rändern langsam auf. Irgendjemand kicherte immer noch. Judy hätte ihn am liebsten erwürgt.

»Warten Sie! Gehen Sie nicht weg. Sie sind doch alle Tauben-Tonys Nachbarn. Sie mögen ihn so sehr, dass Sie sogar das Chaos beseitigen helfen. Ist er Ihnen nicht wichtig genug, um den zu überführen, der das getan hat?«

Ein Murmeln lief durch die dunkle Menge, die nun mit jeder Sekunde weniger wurde. Judy sah mit Bestürzung, wie die Schatten in ihre Reihenhäuser verschwanden und die Türen hinter sich schlossen. Plötzlich hörte das Kichern auf, und jemand aus den hinteren Reihen rief: »Ach, zur Hölle, was glauben Sie wohl, wer das getan hat?«

Judy holte tief Luft. Es war wieder der Moment gekommen, wo Spekulation auf Spekulation gehäuft wurde. »Ich glaube zu wissen, wer es war. Genauer gesagt, glauben wir doch alle zu wissen, wer es war. Aber irgendjemand muss sie dabei gesehen oder gehört haben, damit wir sie zur Rechenschaft ziehen können. Was wir jetzt also brauchen, was Tauben-Tony braucht, ist ein Zeuge.«

Die Menge verstummte plötzlich, und Judy verstand auch den Grund dafür. Es war etwas an der Art und Weise, wie das Wort in der Nacht vibrierte, das sogar ihr eine Gänsehaut verursachte. »Sie wissen doch, was ein Zeuge ist, oder? Ich definiere es für Sie, da ich Tauben-Tonys Anwältin bin und es ein höchst technischer Begriff ist. Ein Zeuge ist jemand, der den Mumm hat, nach vorn zu treten und die Wahrheit zu sagen.«

Die Menge lachte, dieses Mal mit ihr, obwohl Judy bemerkte, dass sich immer noch einige heimlich aus dem Staub machten. Nur noch vier Schatten standen vor ihr, und einer musste bleiben, weil sein Beagle sich in einer Duftspur auf dem Bürgersteig förmlich verbissen hatte.

»Sie müssen sich nicht jetzt sofort melden. Sie können mich jederzeit anrufen. Mein Name ist Judy Carrier von der Kanzlei Rosato & Associates in der Stadt.« Als sie den Satz beendet hatte, waren alle Nachbarn verschwunden, mit Ausnahme des Beagle-Besitzers, der unglücklich am anderen Ende der Leine zog. »Netter Hund«, sagte Judy.

»Er wird mich noch mal den letzten Nerv kosten«, erwiderte der Mann und zerrte den Beagle fort.

Judy hatte nichts erreicht. Sie drehte sich um und ging ins Haus. Eigentlich hätte sie auf das vorbereitet sein sollen, was sie im Innern vorfand, aber das war sie nicht. Die Vordertür, oder was von ihr übrig war, führte normalerweise in ein kleines Wohnzimmer, mit einem alten grünen Sofa vor der linken Wand, über dem ein großer Spiegel und mehrere gerahmte Schwarzweißfotografien hingen. Noch vor kurzem hatte wohl ein Holztisch vor der Couch gestanden und daneben ein alter gepolsterter Ohrensessel mit demselben grünen Überzug wie das Sofa. Aber davon war jetzt nichts mehr erkennbar, verursacht durch ein Maß an Gewalt, das weit über Vandalismus hinausreichte. Der Couchtisch war in der Mitte zerbrochen und sah aus, als sei jemand so lange darauf auf- und abgesprungen, bis die Beine nachgaben. Das Sofa war regelrecht gemetzelt worden, durch wahllose Hiebe aufgeschlitzt, so dass der grüne Stoff in Fetzen herunter hing. Die weiße Polyesterpolsterung war herausgerissen und über die zerfetzte Couch und den Boden zerstreut. Den Ohrensessel hatte man mit einem Messer bearbeitet und mit einem Vorschlaghammer seinen Rahmen zertrümmert, dessen Holz so leicht zersplittert war wie die Knochen eines menschlichen Skeletts.

Entsetzt sah Judy an die Wand. Ein einziger Schlag hatte den Spiegel zerschmettert, der nun völlig schief hing. Die Wucht des Vorschlaghammers hatte bei dem Spiegel nicht Halt gemacht, sondern auch die Wand dahinter eingeschlagen, die Latten zerstört und das Drahtgeflecht dahinter platt gedrückt. Der einzige unversehrte Teil der Wand war ein braunes Holzkruzifix, ein augenscheinlicher Beweis für den christlichen Glauben der Übeltäter. Judy schüttelte den Kopf. Dies waren Reihenhäuser, alle miteinander verbunden, jeweils zwei teilten sich eine Wand. Natürlich hatten die direkten Nachbarn das Wüten gehört. Es musste geklungen haben, als würde jemand das Haus einreißen. Wenn sie nicht mit ihr reden wollten, dann müssten sie sicher mit den Cops reden. Oder nicht? Darüber konnte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Sie verließ das zerstörte Wohnzimmer, um nach Tauben-Tony und Frank zu suchen.

Das Wohnzimmer grenzte an eine Wohnküche, die ebenfalls verwüstet worden war. Man hatte das Licht brennen lassen, offenbar, damit der Schock auch mit voller Kraft zuschlug. Der Küchentisch, der die ganze Wucht des Angriffs abbekommen hatte, lag entzweigebrochen mitten im Raum. Das Telefon war aus der Wand gerissen. Die Schubladen der weißen Schränke, die erst vor kurzem gestrichen schienen, waren heraus gerissen, Besteck und Küchenutensilien wahllos verstreut. Auch die Wandschränke standen alle offen, ihre Türen aus den Angeln gerissen, auf den Linoleumboden geworfen und ihr Inhalt ausgeleert. Über die Küchentheke verstreut lagen Linsen, zwei Dosen Garbanzobohnen und ein Glas mit gelben Lupinibohnen. Zerbrochenes Geschirr, Glas- und Porzellanscherben bedeckten die Fliesen. Die Spüle war mit einem Küchentuch verstopft und der Wasserhahn aufgedreht worden, so dass Wasser sich über das Chaos auf der Arbeitstheke ergoss und ungehindert auf den Boden tropfte.

Judy konnte die Mentalität der Menschen nicht begreifen, die so etwas taten. Sie verhielten sich wie gewöhnliche Schläger, deren sinnlose Zerstörungswut sich selbst verzehrte. Die einzigen auch nur entfernt wertvollen Teile, ein Fernsehgerät und ein kleines Radio, waren zerstört und liegen gelassen worden. Das alles schien merkwürdig surreal, und Judy empfand dasselbe Gefühl, das sie beim Handgemenge im Gerichtssaal empfunden hatte. Es war real, ihre Augen konnten die Szene nicht leugnen.

Aus irgendeinem Grund ging sie zum Wasserhahn und drehte ihn zu. In der einsetzenden Stille hörte sie irgendwo draußen Franks Stimme. Sie musste aus dem Hinterhof kommen. Judy erinnerte sich an Tauben-Tonys Sorge um seine Vögel. Sie eilte zur Hintertür, voller Furcht, was sie dort vorfinden würde.

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