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Zu Judys Erleichterung standen keine Pressevertreter vor dem Eingang zur Kanzlei, und das einzige Gedränge, in das sie gerieten, war der übliche Feierabendstau an einem warmen Frühlingsabend. Die Sonne stand tief, eine kühl-glühende Scheibe, die hinter den Gebäuden aufragte und den dämmrigen Himmel mit einem düsteren Orange überzog. Geschäftsleute strömten aus den diversen Bürogebäuden auf die Bürgersteige entlang der Locus Street. Mit wackelnden Köpfen eilte die Menschenmenge zum PATCO-Bahnhof am Ende der Straße, von dem die Verbindungen nach New Jersey abgingen. Pärchen schlenderten Hand in Hand zu den feudaleren Geschäften und Restaurants in der City. Judy bemerkte, dass Franks Augen die Menge absuchten, seine Stirn in sorgenvolle Falten gelegt, und ihr wurde klar, dass er sich nicht um die Presse Sorgen machte. Sie rückte etwas näher an Tauben-Tony heran, obwohl es ihr schwer fiel, an eine echte Bedrohung zu glauben.

Sie und Frank drängten Tony Vom-anderen-Ende-des-Viertels und Tony Zweifuß gemeinsam mit Mr. DiNunzio in ein Taxi und gaben dem Fahrer Anweisungen für ihr jeweiliges Ziel. Dann schnappten sie sich ein zweites Taxi und glitten mit Tauben-Tony in ihrer Mitte auf den Rücksitz. Judy und Frank waren ungefähr gleich groß, aber Tauben-Tony, zwischen ihnen eingequetscht, reichte gerade bis an ihre Schultern. Judy beschlich ein merkwürdiges Gefühl, als sei er ihr sehr kleines, sehr grauhaariges Kind. Er schien sich wegen der Menschenmenge keine Sorgen zu machen und war völlig fasziniert von dem Taxi. Erstaunt sah er sich in dem schmutzigen Innenraum um, seine braunen Augen registrierten den schmierigen Türgriff, den geöffneten, verrußten Aschenbecher und die verschmierte Plastiktrennscheibe zwischen ihnen und dem Fahrer. Judy fing Franks Blick auf, und sie lächelte.

Frank beugte sich zu seinem Großvater hinunter. »Pop, warst du je zuvor in einem Taxi?«

»Ich? Sicher!« Tauben-Tony schreckte auf, als habe ihn ein Wecker aus dem Schlaf gerissen, und seine Hand schoss in die Luft, um diesen Vorwurf mit einer grandiosen Geste abzutun. »Ich ständig in Taxi!«

»Das habe ich mir gedacht«, nickte Frank, und Judy beschloss, Tauben-Tony niemals in den Zeugenstand zu rufen. Er war ein noch miserablerer Lügner als sie selbst, falls das überhaupt möglich war.

Das Taxi brauste los und bremste dann Schwindel erregend abrupt, weil es nirgendwo eine Lücke fand. Frank verstummte, und Tauben-Tony wandte sich neuerlich dem totalen Taxi-Erlebnis zu, während Judy aus dem Fenster sah. Der Fahrer bog nach links in Richtung Süden auf eine der Zahlenstraßen, und sie bemerkte, wie sie die Rushhour hinter sich ließen und die Aussicht sich veränderte. Der Blick quer über die Stadt auf der Zahlenstraße unterschied sich von dem der Broad Street, einer breiten, hauptsächlich kommerziell genutzten Hauptverkehrsader, und diese Straße in Richtung Süden bot Judy eine Perspektive auf die Stadt, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Frank blieb stumm, und Tauben-Tony wirkte schläfrig. Die Geschäfte der Innenstadt wichen Reihenhäusern. Die Häuser, die nahe am Geschäftsviertel standen, waren dreistöckig und strahlten die Aura der Kolonialzeit aus. Ihre Sprossenfenster bestanden aus altem Glas, ihre leicht melonenfarbigen Ziegelsteine wurden von deutlichen weißen Mörtellinien durchbrochen. Das Taxi zuckelte ein paar Straßenblocks nach Süden, kam an vornehmen Häusern an der Rodman und Bainbridge Street vorbei, mit ihren neuen, modernen Panoramafenstern und polierten Ziegelmauern. Nach nur wenigen Straßenblocks, nur drei Dollar auf dem Taxizähler, erreichten sie bereits die Ausläufer von South Philly, wo die Reihenhäuser ihr oberstes Stockwerk verloren.

Judy fand es irgendwie passend. Die Häuser hier beschränkten sich auf das Nötigste, waren schlicht, Arbeiterklasse, aber jedes schien auf seine Art anders. Alle hatten sie über der Eingangstür ein einziges Fenster im ersten Stock und zwei Fenster im zweiten Stock, gleich weit geöffneten, ehrlichen Augen, und jede Fassade wurde von ihren Besitzern liebevoll individuell gestaltet. Einige waren versehen mit Plastikmarkisen, wellenförmig in Orange und Grün gemustert, und viele andere mit den Initialen der Familie, einem kalligrafischen D oder C. Manche Reihenhäuser hatten Halterungen für Flaggen, andere waren mit altmodischem Marmor verkleidet, und viele waren einfach schlichte Ziegelsteingebäude. Hier und da waren gusseiserne Geländer angefügt worden, und Judy sah ein Geländer, das leuchtend rot gestrichen war, passend zum Außenanstrich. Judy kam der Gedanke, wie sehr doch diese Unterschiede, ob sie diese nun geschmackvoll fand oder nicht, mit der Gleichförmigkeit der Wohnsiedlungen kontrastierten, den Einkaufszentren und Gap-Geschäften, an denen sie wenige Stunden zuvor vorübergekommen waren. Das schien jetzt bereits so lange her. Sie spürte, wie die Müdigkeit in ihre Knochen kroch, und dabei hatte sie noch so viel zu tun.

Es wurde still im Taxi, abgesehen vom Rattern des alten Taxameters. Judy sah aus dem Fenster, wie die Sonne hinter den Häusern versank und den Himmel in ein dunkles, lehmfarbenes Orange tauchte. Das schwindende Licht fiel auf die Reihenhäuser, betonte bei einigen das Rot der Ziegel und das rostige Orange bei anderen und ließ die Ziegelmauern mit ihren dürren Mörtellinien im Dämmerlicht glühen. Judy, die fast ihr gesamtes erwachsenes Leben Ölmalerei betrieben hatte, sah in den Ziegeln ein körniges Mosaik aus Bernstein, Tizianrot und Apricot, umso schöner, weil dahinter Menschen und Familien lebten. Das Taxi fuhr weiter. An jeder Ecke von South Philly befand sich ein Geschäft, ein Lebensmittelladen, ein Kosmetiksalon, eine Bäckerei, eine Taverne, und sie alle waren nach Menschen benannt. Sam und El’s. Juno’s. Yolanda’s. Esposito’s. Weit und breit keine Ladenkette. Die Namen verrieten, woher die Besitzer ursprünglich stammten und durch welche Volksgruppen das Viertel geprägt wurde. Judy fiel auf, dass die Zahl der italienischen Eckläden immer mehr wurde, je näher sie Tauben-Tonys Haus kamen. Zwei Straßen weiter spürte sie ein Gewicht an ihrem Arm und sah nach rechts. Es war ihr Mandant, der an ihre Schulter gelehnt schlief und gerade anfing zu schnarchen, gleichförmig wie ein Welpe.

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