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Judy eilte aus dem Aufzug des Roundhouse und in Richtung der merkwürdigen, von Hand gemalten Schilder zur Mordkommission. Der Weg führte durch einen schmalen Flur mit billiger Wandverkleidung, vorbei an einer riesigen schwarzen Plastiktonne voller Müll direkt vor einer Empfangstheke, die ebenso schäbig ausgestaltet war. Der kleine Raum war mit Schildern wie NUR FÜR POLIZEIBEDIENSTETE und PRIVAT – ZUTRITT VERBOTEN vollgehängt. Die Empfangstheke war unbesetzt, also rauschte Judy daran vorbei. Sie brauchte so viele Informationen wie möglich über den Fall Coluzzi, bevor sie zurück zur Kanzlei ging und sich ihrer Chefin, Bennie Rosato, stellte. Tauben-Tonys Geständnis hatte sie so aus dem Konzept gebracht, dass sie vergessen hatte, nach den Details des Falls zu fragen. Beispielsweise, auf welche Weise er Coluzzi getötet hatte. Kleinigkeiten eben.

Judy betrat das Morddezernat, und weil sie erst zweimal dort gewesen war, hielt sie einen Augenblick inne, um sich zu orientieren. Nicht, dass sich etwas verändert hätte – nicht in den letzten zwanzig Jahren. Weiße Gardinen mit Wasserflecken verdeckten kaum die schmutzigen Fenster: Ein Großteil der Vorhangshaken fehlte, die Vorhänge baumelten daher wie klaffende Wunden an den billigen Metallstangen. Sechs überquellende Schreibtische füllten den kleinen Raum, offensichtlich wahllos arrangiert, einer davon mit den Resten eines Frühstücks, einem kalten Schinkensandwich, dessen Geruch unverwechselbar in der Luft lag und sich mit Spuren von Zigarrenrauch vermischte. Zerschrammte Aktenschränke standen an der Wand bei den Türen zu den beiden Verhörzimmern. Es klingelte kein Telefon, und der Raum war leer bis auf zwei Detectives, die an einem der Schreibtische eine Schachtel mit Akten durchgingen.

Judy überraschte diese Stille nicht. Sie war lange genug in der Branche, um zu wissen, dass die Tagesschicht in der Mordkommission gewissermaßen die ruhige Nachtschicht war und nicht umgekehrt. Morde geschahen im Allgemeinen im Schutz der Dunkelheit – wer hat behauptet, man könne in Philadelphia nachts nichts unternehmen? –, und die meisten Detectives verbrachten einen Teil des Tages damit, vor Gericht auszusagen. Ob es an ihrem Auftreten vor Gericht oder einem berufsbedingten Machismo lag, wusste Judy nicht zu sagen, aber die Detectives der Mordkommission waren eitle Gockel. Die beiden im Büro trugen protzige Seidenkrawatten, maßgeschneiderte Anzüge und zu viel Aftershave. Sie blickten gleichzeitig von den Akten auf und starrten die Invasion in Gestalt einer jungen blonden Anwältin an.

Judy hielt sich wacker, sogar in gelben Clogs. Blond zu sein war ein Vorteil bei Detectives, gut genug, um die Tatsache auszugleichen, dass man Verteidigerin war. Sie registrierte, wie der Blick der beiden über ihren durchtrainierten Körper glitt und an ihren nackten Beinen hängen blieb. Aber als sie bei ihren Schuhen ankamen, hätten sie beinahe laut herausgeprustet. Judy war froh, den Konturenstift weggewischt zu haben.

»Ich bin Anwältin und vertrete Anthony Lucia«, sagte sie und hielt trotzdem den Kopf hoch erhoben. Es war das erste Mal, dass sie einen geständigen Mörder vertrat, und das fiel ihr nicht leicht, selbst wenn der Killer ein süßer kleiner alter Mann war. »Er wird im Zusammenhang mit dem Coluzzi-Fall festgehalten.«

Der Detective zur Rechten – ein großer Mann mittleren Alters mit viel Gel im Haar – hob herausfordernd den Kopf. »Sie arbeiten für Rosato«, stellte er fest. Judy nickte.

»Die Kanzlei hat die Vertretung des Angeklagten noch nicht offiziell übernommen«, erklärte sie, um ihrer Chefin nicht sofort einen Grund zur Kündigung zu liefern. »Aber ich habe mich soeben mit Mr. Lucia unterhalten. Er hat mir gesagt, dass Sie ihm einige Fragen stellten, und das hat mich etwas überrascht. Sie haben ihn doch wohl nicht ohne Rechtsbeistand verhört, oder?«

»Gott bewahre!«, sagte der Detectives, immer noch lächelnd. Er wandte sich zu dem Schreibtisch in seinem Rücken, nahm eine Aktenmappe zur Hand, zog ein Blatt Papier hervor und reichte es Judy. »Hier ist die Strafanklage.«

Judy überflog das Blatt, in dem es nur hieß, dass dem Beschuldigten Anthony Lucia das Verbrechen zur Last gelegt wurde, das am 17. April in der Cotner Street 712 stattgefunden hatte, ein »widerrechtliches Tötungsdelikt«. Judy hatte stets die Ansicht vertreten, es gebe keine andere Art von Tötungsdelikten. Sie brauchte mehr Informationen. »Sie haben doch das Verhör auf Video aufgenommen, nicht wahr?«

»Das ist so Vorschrift.«

»Wann kann ich eine Kopie bekommen?«

»Sobald die anderen Beweismittel vorgelegt werden, nach der Vorverhandlung.«

Judy biss die Zähne zusammen. Sie spielten Mein-Testosteron-ist-stärker-als-dein-Testosteron, und sie war lange nicht so unbedarft, wie sie schien. »Haben Sie extra trainiert, so schwierig zu sein, oder ist Ihnen das angeboren?«

Der Detective sprang darauf nicht an. »Wir haben ein paar Routinefragen gestellt, was absolut konform geht mit. den Vorschriften.«

Judy fühlte sich hin- und hergerissen. Welche Beweise hatten sie? Wie belastend waren diese? Selbst der Polizei von Philadelphia gelang es mitunter einen Mann festzusetzen, der tatsächlich etwas getan hatte. »Welche Beweise liegen gegen ihn vor?«

»Das kriegen Sie mit, sobald die Kautionsverhandlung stattfindet, was gegen fünfzehn Uhr sein wird, Ms. ...?«

»Carrier, aber nennen Sie mich Judy.« Sie seufzte. »Schauen Sie, ich bin hier, und Sie sind hier. Können Sie es mir nicht einfach sagen?«

»So läuft das bei uns nicht«, erklärte der Detective ganz beiläufig und wurde dafür vom älteren Detective neben ihm vergnügt in die Rippen geboxt.

»Eine Erstsemestlerin, Sammy«, murmelte er gut hörbar, aber Judy ignorierte ihn.

»Haben Sie greifbare Beweise gegen Mr. Lucia?«

»Auch das werden Sie herausfinden. Später.«

»Sind die Detectives Kovich oder Brinkley in der Nähe?« Judy kannte sie von ihrem letzten Fall, und die beiden würden ihr helfen, wenn irgend möglich. Sie erhob sich auf Zehenspitzen und schaute an den Detectives vorbei, deren Gesichter länger wurden.

»Die Stan- und Reg-Show? Sind nicht da. Sie sind nicht in der Stadt, und außerdem handhaben sie die Dinge ohnehin anders als ich.«

Judy wusste, was er damit sagen wollte. Wenn Sie die beiden mögen, werden Sie mich hassen.

»Jedenfalls bin ich für diesen Fall zuständig. Ich bin derjenige, an den Sie sich wenden müssen.«

»Hören Sie, Detective ...?«

»Wilkins. Sam Wilkins.«

»Wilkins. Mr. Lucia ist kein junger Mann mehr, und ich mache mir Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Der Stress dieser ...«

»Ersparen Sie mir das.« Der Detective schnaubte. »Dieser alte Vogel ist zäh. Der wird noch mal auf meinem Grab tanzen.«

Plötzlich sahen die beiden Detectives an Judy vorbei. Sie drehte sich um, weil sie spürte, dass sich jemand näherte. Ein großer, attraktiver Mann in Levi’s-Jeans stürmte fast atemlos auf sie zu, seine offene Jeansjacke flatterte im Rhythmus seiner Schritte. Als er näher kam, konnte Judy seine Augen sehen, die vor Wut ganz dunkel waren. Er hatte sich kaum unter Kontrolle.

»Entschuldigung«, sagte der Mann in schroffem Ton zu den Detectives. »Ich suche Anthony Lucia. Ich hörte, Sie haben ihn verhaftet. Ich möchte, dass Sie ihn frei lassen.«

Judy wurde klar, um wen es sich handelte, und erkannte sogar eine Spur des Großvaters im Enkel, obwohl er viel größer war, wahrscheinlich knappe einsneunzig, und sehr gut aussah. »Sie müssen Frank Lucia sein«, sagte sie und streckte eine Hand aus. Er drückte sie geistesabwesend, sein Griff rau durch schwielige Haut, sein Blick immer noch fest auf die Detectives gerichtet. »Wo ist mein Großvater?«, verlangte er zu wissen. »Ich will ihn sehen. Ich will ihn hier herausbekommen.«

»Immer mit der Ruhe, Kumpel. Mr. Lucia bleibt bis zu seiner Kautionsverhandlung in Gewahrsam. Das ist seine Anwältin, Dr. Judy.« Der Detective nickte kurz in ihre Richtung, und Frank wandte sich zu ihr um, während die Vorstellung sich langsam setzte. Seine Augen weiteten sich, als er begriff, wer sie war.

»Meine Güte! Sie sind Judy! Tut mir Leid, Sie sind Marys Freundin. Vielen Dank, dass Sie gekommen sind.« Frank grinste breit, packte Judy unvermittelt an den Schultern und hob sie mühelos zu einer kurzen Umarmung vom Boden. Überrascht wurde Judy eingehüllt in einen Schwall von Zwiebelatem, bevor sie gegen eine Mauer aus hartem Jeansstoff prallte. Sie erlangte ihre Würde erst zurück, als Frank sie absetzte und ihre Füße wieder fest auf dem Boden standen.

»Ach, schon okay«, stammelte sie und brachte mit den Fingern ihre Haare in Ordnung. Judy war sich mehr als bewusst, dass die Detectives sie beobachteten.

»Sie kennen Matty DiNunzio. Mariano. Er sagte, Sie würden helfen.« Frank sprach zu hastig, offenbar völlig aufgewühlt. »Er meinte, Sie seien eine hervorragende Anwältin.«

»Tja, ich hoffe es.« Judy musste schlucken. Eines war nun glasklar: Diesen Fall – und einen schuldigen Mandanten – würde sie wohl übernehmen müssen. Die Detectives machten sich im Geist Notizen. »Frank, vielleicht sollten wir das unter vier Augen diskutieren.«

»Sobald ich meinen Großvater gesehen habe.«

»Das geht nicht. Noch nicht.«

»Wo ist er?«

»Unten.«

»Das soll wohl ein Scherz sein. Er ist in diesem Gebäude, und ich darf ihn nicht sehen?«

Judy unterdrückte ein Lächeln. Frank klang wie sie selbst, was sie offen zugeben musste. »Nur Anwälte dürfen sich vor der Kautionsverhandlung mit den Beschuldigten treffen.«

»Anwälte dürfen, aber Angehörige nicht?« Frank riss den Kopf wütend zu den Detectives herum. »Was zur Hölle ...«

Judy unterbrach ihn. »Ich habe ihn gesehen, Frank, und es geht ihm gut. Jetzt sollten wir aber wirklich gehen.« Sie wollte so schnell wie möglich weg und rollte bedeutungsvoll mit den Augen. Frank war zwar aufgebracht, verstand ihre Botschaft aber trotzdem.

»Ja, Sie haben wohl Recht.« Sein Blick fixierte die Detectives. »Sorgen Sie gut für meinen Großvater.«

»Das ist nicht meine Aufgabe, Kumpel«, erklärte Detective Wilkins kategorisch. Augenblicklich machte Frank Anstalten, auf den Detective loszugehen. »Was haben Sie da gesagt?«, knurrte er, aber Judy packte ihn am Arm, bevor er auf jemanden losgehen konnte, der eine Polizeimarke oder wahlweise eine hässliche Krawatte trug.

»Lassen Sie uns gehen, Frank«, fuhr sie rasch dazwischen, zerrte ihn zurück und steuerte ihn aus dem Dezernat hinaus. Sie versuchte wegen ihrer Hand auf seinem Rücken nicht zu befangen zu sein. Schließlich hatte er die Hemmschwelle, was Berührungen anging, schon durchbrochen. Ihrer Erfahrung nach kannten Italiener ohnehin keine solchen Hemmschwellen.

Judy brachte es fertig, ihn den Flur entlang zu schieben und ließ erst los, als sie ihn im Aufzug hatte, zusammen mit ein paar Cops in Uniform. Weder Judy noch Frank sprachen. Grimmig fuhren sie nach unten, während Frank offenbar seine Beherrschung wiedererlangte, indem er sich auf seine Hände konzentrierte. Ungewöhnlich raue Hände für einen Mann seines Alters – Judy schätzte ihn auf ihr Alter oder nur wenig älter. Er war wie ein Gewichtheber gebaut, obwohl ihr der Ausdruck seiner dunklen Augen entschieden intelligent vorkam. Aber vielleicht lag es daran, dass er so ein absolut aufregendes Bild von einem Mann war. In letzter Zeit hätte sie nicht einmal mit gezogener Waffe eine Verabredung ergattern können, was ihre Einschätzung möglicherweise beeinflusste.

Seine ausgewaschenen Jeans wirkten staubig, bis auf einen dunkleren Bereich an den Knien, weshalb Judy vermutete, dass er bei der Arbeit Knieschützer trug. Das ausgebleichte grüne T-Shirt, der schwarze Piepser an seinem Gürtel und ein Handy gaben keine weiteren Hinweise darauf, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente. Er trug braune Arbeitsstiefel von Timberland, in Höhe der Knöchel arg mitgenommen und von feinem grauen Sand überzogen. Judy versuchte, sich ein Bild von ihm zu machen. Was er tat, wer er war. Und wie er die Nachricht verkraften würde, dass sein Großvater im Gefängnis sterben könnte. Oder schlimmer noch.

»Sie sagten, meinem Großvater geht es gut?«, fragte er leise, als sie aus dem Aufzug stiegen, fast, als lese er ihre Gedanken. Franks Augen, die vor kurzem noch wütend gefunkelt hatten, schienen jetzt erfüllt von Sorge und noch etwas anderem. Angst.

»Es geht ihm gut, aber wir sollten uns unterhalten. Ich mache mir Sorgen um seinen Fall.«

»Klar.« Frank öffnete die Tür und hielt sie für Judy auf. »Aber zuerst müssen wir noch woanders hin. Mein Pick-up steht auf dem Parkplatz.«

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