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Draußen war es dunkel, aber Judy konnte die beleuchteten Überreste einer kleinen weißen Hütte erkennen, die fast den ganzen Hinterhof von Tauben-Tony einnahm. Es musste sich um die Hütte handeln, in der Tauben-Tony seine Vögel hielt, aber es herrschte eine unselige Stille. Die Nacht war ruhig, mit Ausnahme der Verkehrsgeräusche und einer weit entfernten Sirene. Eine Schlackensteinmauer umgab den kleinen, rechteckigen Hof.

Judy ging durch die Dunkelheit zum Taubenschlag. Beim Anblick, der sich ihr darbot, musste sie schlucken. Die Sperrholzplatten, aus denen die Hütte bestanden hatte, waren am anderen Ende von innen heraus aufgehackt worden, worauf die Hütte in sich zusammengebrochen war. Der Boden der Hütte stand auf Stelzen. Judy sah, dass man nur die Stelzen hätte weghacken müssen, um die Hütte zum Einsturz zu bringen, aber offenbar waren die Vandalen in den Taubenschlag eingedrungen, um von dort aus alles kurz und klein zu schlagen und dann aus der Vordertür zu fliehen. Das Licht im Innern fiel durch die klaffenden Lücken, die Axt oder Baseballschläger gerissen hatten. Durch die zerrissenen und fehlenden Fliegengitter sah Judy, dass Tauben-Tony und Frank in der Hütte waren.

Sie bahnte sich ihren Weg durch Trümmer von Sperrholz über den Hof zu dem, was einmal Holzstufen gewesen waren und nun zu einer offenen Schwelle führte. Die Tür war ausgehängt und zur Seite geworfen worden. Sie trat ein, aber keiner der Männer sah auf. Sie knieten auf dem Boden, völlig auf ihre gemeinsame Aufgabe konzentriert. Judy sah sich entsetzt um. Wirklich alles im Taubenschlag war zertrümmert worden, als hätte man mit einem Baseballschläger auf alles eingedroschen: Käfige, Stangen, Drähte, Holzrahmen – alles zerstört. Ein Arzneikasten lag umgekippt am Ende des Ganges, die Medikamente waren herausgefallen. Eimer mit Vogelfutter waren umgestürzt und eingedellt worden, die Körner über den Boden verstreut.

Judy kam es so vor, als hätten die Eindringlinge so viele Tauben brutal umgebracht, wie sie erwischen konnten. Sie wusste nicht, wie viele Vögel Tauben-Tony gehalten hatte, aber sie zählte sieben tote Tiere. Einigen war der Hals umgedreht, andere zu Tode getrampelt worden, ein furchtbarer Anblick. Einer schiefergrauen Taube hatte man auf sadistische Weise den Kopf abgerissen, was einen blutigen Stumpf und Teile des filigranen Rückgrats freilegte. Mit Übelkeit kämpfend trat Judy einen Schritt nach vorn und wäre beinahe über den leblosen Körper eines weißen Vogels gestolpert. Sein Kopf war eine klumpige Masse Blut, und er lag auf dem Rücken, die Füße im Tod eingerollt. Der silberne Ring an einem seiner rosafarbenen Beinchen war auf die Daunenfedern seines Unterbauches gerutscht. Sein Blut befleckte den getünchten Boden. Es roch nach Blut und rohem Fleisch. Judy spürte, wie ihr die Galle hochkam.

»Alles okay?«, fragte Frank und warf ihr einen Blick zu. Er kauerte auf dem Boden und half seinem Großvater, eine große graue Taube zu versorgen, die gnädigerweise noch am Leben war. »Vielleicht sollten Sie sich setzen.«

Judy schüttelte den Kopf, fürchtete sich, auch nur ein Wort zu sagen, bevor ihre Übelkeit nicht vorüber war. Frank widmete sich wieder seiner Aufgabe, hielt die Taube fachmännisch in seinen Händen, so dass der Körper des Vogels auf seiner Handfläche ruhte und seine Finger unter die Flügel griffen. Tauben-Tony wickelte geschickt eine dünne Bandage um den linken Flügel, den er ausgestreckt hielt. Keiner der beiden Männer sprach, aber ihr Gesichtsausdruck und ihre braunen Lucia-Augen waren auf fast identische Weise angespannt.

Judy beobachtete sie. Langsam fühlte sie sich etwas besser, solange sie sich nur auf die lebendige Taube konzentrierte. Sie hatte noch nie eine Taube aus solcher Nähe zu Gesicht bekommen, hauptsächlich deshalb, weil sie sich nie die Mühe gemacht hatte, die Tauben, die auf dem Washington Square nach Krümeln pickten oder die Straße wie olympische Geher hinunter wackelten, genauer anzusehen. Der verletzte Vogel war hellwach, seine goldenen Augen mit den schwarzen Pupillen glichen den Punkten eines Ausrufezeichens, die hin und her huschten. Weißliche Falten um die Augen formten einen merkwürdigen Ring, und Judy fragte sich, wozu er wohl diente. Sie war überrascht angesichts der Flügelspannweite des Vogels, vollen sechzig Zentimetern, mit zehn Flugfedern, von denen die an der Vorderseite des Flügels länger waren als jene näher am Rumpf. Judy wünschte, sie hätte in Physik besser aufgepasst, als Auftrieb und Abtrieb behandelt worden war, aber sie vermutete, dass die Vögel dadurch besser fliegen konnten. Es beschäftigte sie nicht wirklich. Ihr ging es nur darum, dass die Taube überlebte.

»Wird sie wieder gesund?«, fragte Judy.

Frank sah auf. »Ich hoffe.« Er brachte ein gequältes Lächeln zu Stande. »Sein Flügel ist nur an einer Stelle gebrochen. Er ist jung und stark, ich denke nicht, dass er sterben wird.«

»Gut. Es ist so ... furchtbar, was mit dem Haus und den Vögeln passiert ist.«

»Wir mussten zwei töten, um sie von ihren Schmerzen zu erlösen.« Er presste die Lippen zusammen. »Aber die meisten konnten entkommen. Wir glauben, dass ungefähr dreißig überlebt haben, einschließlich Jimbo hier.«

Judy lächelte erleichtert. »Werden sie zur Hütte zurückkommen?«

»Taubenschlag. Nach so einem Vorfall ist das schwer zu sagen.« Frank konzentrierte sich wieder auf den Vogel. Tauben-Tony, der mit der Bandage des Flügels fast fertig war, schnitt den Verband mit einer gebogenen Chirurgenschere ab. »Ihr Instinkt wird ihnen raten wegzubleiben, insbesondere dann, wenn sie mit ihren Partnern geflohen sind, was alle bis auf zwei getan haben.«

»Welche zwei?«

»Ein Täuberich namens Nino, dessen Partnerin getötet wurde, und der Old Man. Seine Partnerin starb schon vor langer Zeit.«

Tauben-Tony sagte nichts, während er das abgeschnittene Ende des Verbands vorsichtig befestigte und dafür von der undankbaren Taube in den Finger gepickt wurde. Ein winziger Blutstropfen erschien auf Tauben-Tonys verwitterter Hand, und er keckerte ein nachsichtiges Heh-heh-heh, als er es bemerkte, dann wischte er das Blut an seiner ausgebeulten Hose ab. Frank lachte auch. »Er fühlte sich schon besser, Pop.«

»Sì, si. Va bene.« Tauben-Tony lächelte, aber Judy sah in seinen dunklen Augen den Schmerz über den Verlust seiner Vögel. Er drückte die Taube gegen seinen Pullover, beugte seinen Körper schützend um sie, dann erhob er sich mühsam auf die Füße, wobei Frank seinen Ellbogen stützte. Tauben-Tony nickte und ging, den Vogel im Arm, durch den Trümmerhaufen den Gang hinunter. Frank bedeutete Judy mit einer Geste, dass alles in Ordnung war, dann rief er seinem Großvater hinterher: »Pop, wir müssen jetzt hier weg. Judy denkt das auch.«

Tauben-Tony schlurfte weiter, aber Judy wusste, dass es nur so schien, als wäre er blind und taub für seine Umwelt, darum sagte sie ihren Spruch auf.

»Ich stimme Frank zu, Tony. Es ist keine gute Idee, wenn Sie noch länger hier bleiben. Sie müssen beide gehen, und ich warte auf die Polizei.«

»Polizei!« Tauben-Tony schüttelte verdrossen den Kopf, schlurfte durch die Unordnung in den Futterraum und rückte mit seiner freien Hand ein paar Dosen mit Tierarzneien und unbenutzten Spritzen zurecht. »Ich nicht mögen Polizei! Polizei tun nichts! Nichts!«

Judy seufzte. Sie vergaß immer wieder, dass die Lucias in Palermo lebten, nicht in Philadelphia. »Ich musste die Polizei anrufen und es melden. Was hier geschehen ist, was Ihrem Haus, Ihrem Taubenschlag, Ihren Vögeln geschehen ist, das ist ein Verbrechen. Einbruch. Tierquälerei. Mutwillige Sachbeschädigung. Die Polizei wird etwas unternehmen, sobald sie eintrifft.«

»Nichts!«, wiederholte Tauben-Tony weniger verstimmt, weil seine Aufmerksamkeit darauf gerichtet war, einen grünen Pappkarton aus den Trümmern zu ziehen, auf dem in leuchtendem Rot und Grün der Schriftzug PERONI stand. Judy nahm an, dass es sich dabei um einen Taubenzüchterbegriff handelte, bis sie BIRRA las. Bier, aus dem Lateinischen. Tauben-Tony öffnete den Deckel des Kartons, setzte den Vogel vorsichtig hinein und verschloss dann den Deckel locker. »Ich nicht gehen. Ich gehen nirgendwohin.«

»Sie können nicht hier bleiben.«

»Nein.« Tauben-Tony holte die Schere aus seiner Jackentasche und stieß damit in den Deckel des Kartons ein Luftloch. »Ich nicht gehen.«

Frank bedeutete Judy, ruhig zu bleiben. »Danke, aber lassen Sie es mich noch einmal versuchen. Das ist eine Familienangelegenheit.« Er wandte sich an seinen Großvater. »Pop, du musst mich begleiten. Die Coluzzis werden wieder kommen, und das weißt du. Wir gehen zu mir nach Hause oder in ein Hotel. Es ist zu gefährlich, hier zu bleiben.«

»Ich nicht gehen.« Tauben-Tony bohrte ein weiteres Luftloch. »Die Vögel, sie kommen nach Hause. Old Man, er kommen nach Hause.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Ich wissen, ich wissen.« Tauben-Tony machte ein drittes Luftloch in die Schachtel. Die verletzte Taube streckte ihren Kopf unter dem locker sitzenden Deckel hervor. Der Vogel machte keine Anstalten zu fliehen, sondern sah zu, wie Tauben-Tony noch ein Luftloch bohrte. »Geben Zeit. Er kommen heim.«

»Aber du weißt nicht, wann, Pop. Du kannst hier nicht bleiben. Wir sollten nicht mal jetzt hier sein.«

»Ich nicht weggehen.« Tauben-Tony bohrte weitere Luftlöcher, aufmerksam beobachtet von seinem Publikum, der Taube. »Ist meine Haus. Meine Vögel. Meine Taubenschlag. Alles meines.«

»Pop, hier ist es nicht sicher.« Frank hob seine Stimme, sein Gesicht wurde rot vor Frust. »Ich werde mich darüber nicht mit dir streiten.«

»Ich nicht weggehen«, brüllte Tauben-Tony. »Basta, Frankie!«

»Pop, du kannst nicht hier bleiben!«, brüllte Frank zurück, und endlich sah Tauben-Tony von seinen Luftlöchern auf. Der Kopf der Taube wirbelte herum.

»Ich nicht weggehen!« Während Tauben-Tony mit der Schere herumfuchtelte, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, wusste Judy, dass er gewonnen hatte. Ein Italiener mit einem scharfen Gegenstand gewann immer, außer im Zweiten Weltkrieg.

Plötzlich hörte sie Geräusche vor dem Taubenschlag und blickte durch ein zerrissenes Fliegengitter. Zwei Streifenbeamte sahen sich in der Küche um. Die Vertreter von Recht und Ordnung waren eingetroffen. Endlich.

Alle fünf – Judy, Frank, Tauben-Tony und die beiden gedrungenen, älteren Cops – drängten sich in der verwüsteten Küche. Judy stellte sich vor Tauben-Tony, damit er niemanden biss, während sie mit den Polizeibeamten redete. Er schwieg unglücklich, die PERONI-Schachtel an sich gepresst, aus der heraus es während Judys ganzem Bericht beständig gurrte. Einer der Cops, auf dessen schwarzem Namensschild McDADE stand, hörte aufmerksam zu, während der andere, mit Namen O’NEILL, sich gewissenhaft Notizen machte. Judy wusste, sie würden diese Situation nicht wirklich verstehen. Selbst die Iren waren, was Groll betraf, vergleichsweise harmlos. Vendetta war ein italienischer Begriff – und das aus gutem Grund.

Officer McDade schlug seinen Notizblock zu. »Ich habe alle Informationen für meinen Bericht. Wir werden uns darum kümmern. Danke.«

Judy sah sich um. »Wann trifft die Spezialeinheit ein?«

»Spezialeinheit?«

»Sie wissen schon, die Spurensicherung. Bei Mordfällen sehe ich sie ständig. Sie nehmen Fingerabdrücke, fotografieren alles ...«

»Das machen wir bei Mord, nicht bei Einbruch.«

»Aber dieser Einbruch ist Teil eines Mordfalls«, erklärte Judy und wiederholte damit Franks Worte. »Mein Mandant, Mr. Lucia, wurde heute Nachmittag der Mord an Mr. Coluzzi senior zur Last gelegt, und hierbei handelt es sich um einen Vergeltungsschlag.«

»Ich habe Mr. Lucia« – er nickte Frank zu – »schon gesagt, dass wir die Familie Coluzzi befragen werden.« Officer McDade trat ruhelos von einem glänzenden schwarzen Schuh auf den anderen, während sein Partner in Richtung Küchentür ging. »Wir fangen mit John an, dem Sohn, den er erwähnte.«

»Aber das hier ist eine Warnung. Die Coluzzis führen einen Krieg gegen meinen Mandanten.« Judy wusste, dass sie seine Geduld strapazierte, aber genau das erwartete man schließlich von Anwälten. Sie durfte Tauben-Tony nicht ohne Schutz zurücklassen. Das Gesetz würde sich doch um ihn kümmern, oder? »Ich will denjenigen, der das hier getan hat, hinter Gittern sehen. Nur so ist Mr. Lucia sicher.«

Die blauen Augen des Cops funkelten. »Sein Leben wurde zu keinem Zeitpunkt bedroht.«

»Noch nicht, aber das kann noch kommen.«

»Wir kümmern uns darum, Ms. Carrier.« Der Officer warf seinem Partner, der die Küche verließ, einen Blick zu. »Wir müssen jetzt los.«

»Es bleibt aber die Frage, was mit ihm heute Nacht geschieht. Wenn Sie nicht glauben, dass eine Bedrohung vorliegt, dann sollten Sie sich rasch die Elf-Uhr-Nachrichten ansehen. Ich bin sicher, dort wird über den Kampf im Gerichtssaal berichtet.«

»Wir müssen uns heute Nacht noch um zwölf weitere Einbruchsdelikte kümmern. Es ist Freitag und Vollmond. Die ganze Stadt spielt verrückt. Wir haben alles durchsucht. Nichts fehlt. Ihr Typ da – Ihr Mandant – hat noch nicht einmal etwas Wertvolles verloren.«

»Nur sein Zuhause und die Vögel, die er liebt«, warf Frank ein.

Officer McDade drehte sich zu ihm um.

»Ich will Ihrem Großvater nicht zu nahe treten, Mr. Lucia, aber ich komme gerade aus einer Wohnung in der Moore, Nähe der Fifth. Das Heim dieses Mannes ist ein einziger Trümmerhaufen, und sie haben alles mitgenommen, was ihm gehörte.« Officer McDade berührte den Lederrand seiner Mütze als Zeichen des Aufbruchs. »Wir tun unser Bestes. Sie hören von uns, sobald wir etwas in Erfahrung gebracht haben.«

Judy konnte es nicht dabei bewenden lassen. »Dann werden Sie also John Coluzzi verhaften?«

»Verhaften? Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass wir mit ihm reden werden, und genau das werden wir auch tun.«

»Können Sie ihn nicht im Roundhouse verhören? Ist er denn kein Verdächtiger?«

»Nicht vor dem Gesetz.« Officer McDade runzelte die Stirn. »Wir haben keine Beweise, nur Ihren Verdacht. Wir werden ihn befragen, wie ich schon sagte, aber wir haben keinen hinreichenden Grund für eine Verhaftung. Nichts, nach Lage der Fakten.«

»Wenn Sie mit den Nachbarn reden ...«

»Das haben wir bereits. Niemand hat etwas gesehen.«

»Sie haben einfach Angst.«

»Möglich, aber wir können die Zeugen nicht zu ihrer Aussage zwingen, Ms. Carrier. Wir beide, ich und mein Partner« – dabei nickte er in Richtung seines mittlerweile verschwundenen Kollegen – »haben zusammen über vierzig Jahre Erfahrung im Vernehmen von Zeugen. Wir wissen, wie man das macht.«

Judy griff in ihre Handtasche, zog ihre Geldbörse heraus und fand eine Visitenkarte, die sie dem Cop reichte. »Ich werde Sie anrufen, falls einer von ihnen sich bei mir meldet. Werden Sie dasselbe tun?«

»Natürlich, das ist die übliche Vorgehensweise.« Der Cop steckte ihre Visitenkarte in seine Gesäßtasche, zusammen mit dem Notizblock, der Judy unangenehm an einen Block mit Strafzetteln erinnerte.

»Danke«, sagte sie trotzdem, aber ihre Hoffnung schwand. Officer McDade schüttelte ihre Hand, dann die von Frank. Tauben-Tony, der sich immer noch an seiner PERONI-Schachtel festhielt, nickte er zu. Die Cops waren kaum eine Minute weg, als Judy auf Franks unausgesprochene Feststellung reagierte. »Es ist ein Prozess, Frank. Das braucht Zeit.«

»Ich verstehe. Ehrlich gesagt habe ich auch nicht mehr erwartet.« Frank wirkte auf Judy nicht wütend, auch nicht ängstlich. Seine braunen Augen blickten besorgt, und der Schatten auf seinem Kinn war dunkler geworden. Er wandte sich seinem Großvater zu. »Pop, ich kann dich nicht zum Mitkommen bewegen, also bleibe ich hier.«

»Du? In Haus? Nein. Nein!« Tauben-Tony blickte finster, seine Stirn sorgenvoll gerunzelt, aber Frank hob seine Hand wie ein Verkehrspolizist.

»Doch, und jetzt wird nicht mehr gestritten. Das war’s. Ich schlafe auf der Couch, Pop.«

Tauben-Tony nickte nur widerwillig, doch aus der PERONI-Schachtel gurrte es glücklich heraus.

Zu Hause in ihrer Wohnung versuchte Judy zu schlafen, aber es gelang ihr nicht. Sie wälzte sich im Bett hin und her, weil sie ihr Patagonia-T-Shirt, das sie die letzten drei Nächte getragen hatte, plötzlich einengte. Sie zog es sich über den Kopf, warf es ans Fußende des Bettes und glitt nackt unter die Decke. Plötzlich war ihr kalt. Sie weigerte sich, das T-Shirt wieder anzuziehen, was nicht nur bedeutet hätte, aus dem Bett zu steigen, sondern auch, eine Niederlage einzugestehen. Also beugte sie sich vor und schaltete die Heizdecke ein, woraufhin ihr plötzlich heiß wurde. Nicht einmal eine Kissenhöhle half. Ihr ging einfach zu viel durch den Kopf. Tauben-Tony befand sich auf der anderen Seite der Stadt in seinem verwüsteten Haus. Und er war in Gefahr. Frank war bei ihm und beschützte sie beide mit nichts weiter als einem tragbaren Kopiergerät. Die Polizei speiste sie mit Ausflüchten ab und enttäuschte ihr Vertrauen in die Exekutive. Sie musste einen Mörder verteidigen, und er hatte es tatsächlich getan. Außerdem mochte sie den Mörder und war drauf und dran, sich in dessen Enkel zu verlieben. Der Gedanke ließ sie beinahe lächeln, aber das Lächeln verschwand, als sie sich auf die knifflige Situation konzentrierte und von neuem das verwüstete Haus vor sich sah. Die abgeschlachteten Vögel. Den Schmerz in Tauben-Tonys Augen. Sie knüllte ihr Kissen zusammen und kuschelte sich tiefer in die Decke. Das Bett war eigentlich sehr groß, schien aber auf einmal klein. Das Zimmer war geräumig und unordentlich, mit zwei IKEA-Kommoden auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Die Schubladen standen offen und quollen über. Zwischen den Kommoden befand sich ein alter Schaukelstuhl, auf dem sich ihre Trainingsklamotten häuften. Ihr Fahrrad, ein gelbes Cannondale-Modell, lehnte gegen die Wand, ihre Boxersachen lagen in der Ecke auf einem Haufen. Sie könnte aufräumen, aber das würde ihre Stimmung nicht heben. Sie könnte an dem Fall arbeiten, aber sie war nicht richtig bei der Sache. Judy drehte sich um und sah zur anderen Seite.

Das Mondlicht fiel durch das Fenster, ein hohes Fenster mit Mittelpfosten, typisch für die Architektur in diesem Teil der Stadt. Judy war im Rahmen ihrer niemals endenden Suche nach der perfekten Wohnung nach Society Hill gezogen, dem ältesten Viertel der Stadt. Die Möglichkeiten hatten sich allerdings dezimiert, seit Penny bei ihr war, eine mittlerweile neun Monate alte, gesunde Golden-Retriever-Hündin, die am Fußende des Bettes selig schnarchte. Kein Vermieter wollte Haustiere, da half nicht einmal die größte Kaution. Also landete sie in diesem Apartment, bislang ihr schönstes und schickstes, und das nur, weil sie dem Vermieter ein Jahr lang kostenlosen juristischen Beistand angeboten hatte. Er hatte in einem seiner anderen Häuser einen heiklen Heißwasserspeicher, aber wie alle ihre Mandanten würde auch er warten müssen. Sie hatte vergessen, die Rechtsabteilung von Huartzer während der Geschäftszeiten anzurufen und erst eine Nachricht hinterlassen, als sie endlich zu Hause war. Und in ihrem Büro wartete der Kartellrechtsartikel auf sie. Der Abgabetermin drohte am Dienstag. Ihre Chefin drohte ständig. Judy setzte sich auf. Sie konnte sich einfach nicht entspannen. Hätte sie Drogen genommen, hätte sie sich jetzt etwas eingeworfen, aber von diesem Zeugs hielt sie sich fern. Sie war bereits süchtig nach M&Ms, das reichte allemal. Sie könnte auch ein Glas gekühlten Zinfandel trinken, aber dann wäre ihr eher nach Tanzen als nach Schlafen zu Mute. Sie hatte nichts Interessantes zu lesen, obwohl der Stapel an gebundenen Büchern auf ihrem Nachttisch bald umzukippen drohte. Sie gelobte, nur noch Bücher zu kaufen, die sie wirklich lesen wollte, keine Bücher, die sie lesen sollte. Auf einmal fühlte sie sich frei. Frei! Sie knipste die Leselampe neben dem Bücherturm an und sprang aus dem Bett. Die junge Hündin wachte auf, hob ihren Kopf von ihren übergroßen Pfoten und legte ihn dann wieder ab. Sie wusste, wohin Judy ging, und hielt es nicht für der Mühe wert, ihr zu folgen.

Judy trottete aus dem Schlafzimmer in den angrenzenden Raum, ihr Atelier, und schaltete das Licht ein. Der Raum war ebenso wie ihr Schlafzimmer groß, fast leer und weiß gestrichen, aber da hörten die Ähnlichkeiten auch schon auf. Es gab keine Möbel, dafür unzählige Holztabletts mit Acrylfarben in Tuben, Gläser, in denen Pinsel der unterschiedlichsten Größen steckten, und großformatige Leinwände, von denen die meisten fertig bemalt gegen die Wand lehnten.

Bunte Landschaftsbilder in kräftigen Farben dominierten in Judys Arbeit, aus der Erinnerung gemalt oder nach Fotos derjenigen Orte, an denen sie gelebt hatte. Da waren die Berge, auf denen sie im Big Sur gewandert war, als ihr Vater nach Stanford versetzt worden war. Und die Felsen, die sie in Virginia erklettert hatte, in der Nähe der Ausbildungskaserne in Quantico; und die grünen Tropenpfade, über die sie mit ihrem Moutainbike gefahren war, vor den Toren von Pensacola, wo ihr Vater Anfängern das Fliegen beibringen sollte. Das Bild auf der Staffelei zeigte einen geheimen Fluss, den sie auf dem Weg durchs Marschland zu den Everglades entdeckt hatte. Sie begutachtete das satte Grün, das dichte Kobaltblau und das warme Orange des Gemäldes ohne die übliche Befriedigung. Was stimmte damit nicht? Judy betrachtete ihr Kunstwerk in dem stillen Apartment mit neuen Augen. Das dunkle Fenster auf der anderen Seite des Raumes reflektierte die nackte Gestalt einer großen, durchtrainierten Frau mit zerzausten blonden Haaren.

Das Spiegelbild fiel ihr ins Auge. Sie überlegte, ob sie die Jalousien herunterlassen sollte, aber erstens gab es keine und zweitens schlief die Stadt ohnehin. Der Vollmond war das Einzige, was durch ihre Fenster lugte; er schien auch auf das granulierte Teerdach des Reihenhauses auf der anderen Straßenseite und beleuchtete das Aluminium der Regenrinne wie ein Scheinwerfer. Hinter dem Dach funkelten die Lichter der Stadt und der Bürohäuser. Zum ersten Mal fiel Judy diese kühne Schönheit auf, die Schattierungen von Mitternachtsschwarz, kühlem Silber und hellem Weiß. Sie erinnerte sich an die Farben der Ziegel, die sie auf dem Weg nach South Philly vom Taxifenster aus gesehen hatte. Die Stadt vor ihr schimmerte, und dann sah sie die Reflexion ihrer eigenen nackten Gestalt, geisterhaft im Vordergrund. Nach einer Weile ging sie zur Staffelei, nahm die unfertige Leinwand und stellte sie zur Seite.

Als Judy aufhörte zu malen, hatte sich der Mond in einen bleichen Schatten in der grauen Morgendämmerung verwandelt. Es blieben ihr gerade noch zwei Stunden Schlaf, bevor sie duschte, sich anzog und zur Arbeit ging. Judy fühlte sich friedlich, ausgeruht und sogar voller Arbeitseifer, was sie alles brauchen würde für den Ort, an den sie nun ging.

Alte Schulden

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