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Zu Hause in ihrer Wohnung aß Mary einen Teller Cornflakes, schlüpfte in Jogginghose und ein flauschiges, extraweites Kapuzenshirt und steckte ihr Haar auf. Es war schon fast Mitternacht, doch sie war seltsamerweise voller Tatendrang, saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, das mit einem weichen blauen Überwurf bedeckt war, und hatte das FBI-Memorandum und Amadeos persönliche Habe vor sich ausgebreitet. Sie hatte diese Dinge von Frank Cavuto erhalten, dem Nachlassverwalter, dem sie von Amadeos Sohn Tony übergeben worden waren. Wegen des Memorandums betrachtete Mary sie jetzt mit neuen Augen.

Links von ihr lagen drei Fotografien. Die erste zeigte Amadeo, der in einem Fischerboot stand, sich vorbeugte und sich an den Netzen, die an Deck lagen, zu schaffen machte. Mary hielt das Bild nah an ihre Augen, doch sie konnte nicht genau erkennen, was er tat. Reparierte er ein Netz oder das Deck selbst? In jedem Fall war er so auf seine Arbeit konzentriert, dass er der Kamera nicht einmal ein Lächeln schenkte. Das zeigte ihr, dass er kein eitler Mann war; er war ein wenig schüchtern. Mike war auch so gewesen. Sie legte das Foto auf das Bett zurück.

Das nächste Foto war ein Hochzeitsbild von Amadeo und seiner Frau Theresa. Steif wie ein Zinnsoldat stand er da mit der Braut an seiner Seite, und Theresas dunkle Augen glänzten hinter dem zarten Stoff des Schleiers. Ihr Haar fiel lockig bis auf ihre Schultern, und ihr Kleid war altmodisch gerüscht und gerafft. Mary fühlte sich zu Amadeo hingezogen. Seine Augen, dunkel, doch äußerst lebendig, waren an seinem Hochzeitstag voller Heiterkeit gewesen. Wieder fühlte sie sich an Mike erinnert, an den Tag ihrer Hochzeit. Vor dem Altar war er erschüttert und verlegen gewesen, und seine Freunde hatten ihn noch lange damit aufgezogen. Mary lächelte, als sie sich daran erinnerte, und dachte dann an etwas, was Judy im Büro zu ihr gesagt hatte:

Irgendwie scheinst du in ihn verliebt zu sein oder so was.

Mary legte das Foto hin und nahm das nächste. Es zeigte Theresa und Amadeo, der einen kleinen Jungen mit dichten schwarzen Locken auf dem Arm hielt: ihren Sohn Tony. Das obere Ende des Fotos fehlte, als sei es irgendwo herausgerissen worden. Als Mary es umdrehte, sah sie, dass »4. Juli« darauf stand, in einer fließenden, weiblichen Handschrift. Es war keine Jahreszahl vermerkt, doch wenn das Baby Tony war, musste es um 1920 sein; zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war Tony alt genug gewesen, um Soldat zu werden. Doch auf dem Foto sahen alle glücklich aus und hatten ihre Feiertagskleider angezogen, um den Geburtstag ihres neuen Landes zu feiern. Mary empfand ein bitteres Gefühl, als sie daran dachte, als hätte sie auf ein holziges Stück Brokkoli gebissen.

Sie legte alle Fotos neben den letzten Gegenstand, eine abgegriffene schwarze Brieftasche mit einem billigen Blechverschluss. Sie war aus schwarzem Plastik, und im Inneren gab es drei mittlerweile undurchsichtig gewordene Fächer für Fotos. Im ersten Fach steckte das Schwarzweißbild eines kreisförmig ausgeschnittenen Frauengesichts. Mary holte es heraus und drehte das dünne Papier um. Die gedruckte Zeile auf der Rückseite war italienisch und nicht mehr ganz vollständig, doch der Name war noch lesbar: Francesca Saverio. Mutter Frances Xavier Cabrini, die Patronin der Einwanderer. Mary hätte sie erkennen können. Ihr Gesicht war von einem schwarzen Schleier umrahmt und trug den Ausdruck eines melancholischen Lächelns; der Legende nach soll sie ein stilles, zurückhaltendes Mädchen gewesen sein. Ihr charakteristisches Attribut war ein Boot. Es war nahe liegend, dass Amadeo sich als Einwanderer und Seemann diese Schutzheilige erwählt hatte. Und sein Selbstmord sprach davon, dass auch er ein melancholischer Mensch gewesen war.

Im nächsten Fach steckte eine dunkle Haarlocke, die in etwa die Form eines Fragezeichens hatte und ungefähr drei Zentimeter lang war. Als sie das Fach öffnete und die Locke in ihre Handfläche gleiten ließ, fühlte sie sich fein und weich und fast gewichtslos an. Sie strich mit den Fingerspitzen darüber, als sei das Haar etwas Lebendiges, dann hielt sie es unter die Lampe und beobachtete, wie es zu glänzen begann. Das Haar war nicht schwarz, wie es zuerst den Anschein gehabt hatte, sondern dunkelbraun, mit einem leicht rostbraunen Schimmer. Wessen Haar war das? Tonys? Theresas? Mary hielt die Locke den Personen auf den Fotos abwechselnd an die Köpfe wie eine Faschingsperücke. Aber so bekam sie nichts heraus.

Sie wog die billige Brieftasche in der Hand. All diese Dinge verstärkten nur den Eindruck, den sie schon vorher von Amadeo gehabt hatte. Er war ein einfacher Mann gewesen, und er hatte in einer kleinen, doch vollkommenen Welt gelebt, mit seiner Frau, seinem Sohn. Sein Geschäft war vielversprechend gewesen. Drei Boote. Er hatte seine Familie und die Fischerei gehabt. Liebe und Arbeit. Ein reicher Mann, in jeder Hinsicht. Sie öffnete das letzte Fach der Brieftasche, wo normalerweise das Geld verwahrt wird.

Im Inneren steckte ein dickes Bündel weißer Papiere, die sie herauszog. Es waren fünf Notizzettel, und auf jedem von ihnen war eine Reihe von Zeichnungen zu sehen. Sie stellten einen Kreis dar, mit einer winzigen Ausbuchtung an der Seite. Auf jedem Zettel waren verschiedene Ansichten des Kreises mit einem dicken Bleistift gemalt. Keine erklärenden Worte dazu, nicht einmal auf Italienisch. Mindestens zwanzig Mal war der Kreis zu sehen. War das eine Obsession? Unwahrscheinlich. Wenn Mary geistesabwesend war, zeichnete sie auch immer wieder die gleichen Dinge; ihren eigenen Namen, ein Paar groϐer Augen oder aus irgendeinem Grund ein Paar Ballettschuhe. Aber was war das, was Amadeo gezeichnet hatte? Ein bestimmter Gegenstand? Oder nur eine unbedeutende Linie? Bewies es den Beginn einer Depression? Und warum bewahrte er die Zettel in seiner Brieftasche auf?

Sie hielt das Papier gegen die Lampe. Es war kein Wasserzeichen zu sehen, keine Spuren von Geheimtinte. Es zeigte ihr nichts. Doch Mary war sicher, dass Amadeo diese Kreise gezeichnet hatte. Es war die einzige Spur von ihm – abgesehen von dem X auf dem Fremdenpass –, die sie hatte.

Unwillkürlich umschloss sie die Papiere mit ihrer eigenen Hand. Sie dachte an ihre Mutter in der Küche, die den Dampf in ihrer Hand gefangen hatte. Sie musste sich eingestehen, dass sie eine große Nähe zu Amadeo fühlte, dass Judy Recht gehabt hatte. Es war, als sei sie tatsächlich in Amadeo verliebt, nicht, weil er wie George Clooney aussah, sondern weil er sie an Mike erinnerte. Sie wusste nicht, ob Mike je Gerechtigkeit widerfahren würde, und genau dieselbe Ungewissheit verspürte sie auch Amadeo gegenüber. Doch trotz des Gefühlswirrwarrs, den sie empfand, wusste sie, dass sie versuchen musste, für Gerechtigkeit zu kämpfen. Sie steckte alle Papiere wieder in den Umschlag und verschloss die Brieftasche. Dann sammelte sie die Fotos zusammen, schob sie zurück in ihre Aktentasche und machte das Licht aus.

Sie lag allein in ihrem Bett wie jede Nacht seit Mikes Tod – abgesehen von einer kurzen Liebesaffäre, aus der nichts geworden war. Sie war häufig umgezogen, war dreißig geworden und hatte immer noch kein eigenes Haus. Sie hatte nicht einmal mehr eine Katze und hatte sich an das Alleinleben gewöhnt. Nachts schaute sie alte Filme und Talkshows im Fernsehen an. Das Alleinleben war so normal für sie geworden, dass sie sich nicht einmal mehr einsam fühlte. Ihre Freundinnen versuchten, sie mit Männern zu verkuppeln. Meistens verabredete sie sich sogar mit ihnen, denn das war einfacher, als von vornherein abzulehnen, aber alles in allem war das Alleinsein nichts Grauenvolles mehr für sie. Sie war ein eingefleischter Single geworden. Und glücklicherweise hatte sie Kabelfernsehen.

Ihr Zimmer war dunkel, abgesehen von dem orangefarbenen Rechteck in der Mitte ihres Radioweckers und der weißen Mondscheibe, die durch einen Vorhangspalt schien. Sie versuchte, das Licht zu ignorieren, stand dann aber doch auf, um die Vorhänge zuzuziehen. Als sie am Fenster stand, sah sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen großen Escalade aus einer Parklücke gleiten und wegfahren.

Sie runzelte die Stirn. Welcher ihrer Nachbarn besaß einen Escalade? Sie kannte niemanden. Es sah genauso aus wie das Auto, das sie vor ein paar Tagen in der Mercer Street gesehen hatte. Was war los? Bildete sie sich etwas ein? Bekam sie eine Paranoia?

Die Gefährlichen, die wirklichen Mörder, die warten geduldig. Und dann, wenn der richtige Moment gekommen ist, schlagen sie zu.

Mary versuchte, die Stimme in ihr abzuschalten, aber es gelang ihr nicht. Sie ging wieder ins Bett, glitt mit steifem Körper unter die Decke.

Das unangenehme Gefühl in ihr war Angst.

Tote ruhen nicht

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