Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 7
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ОглавлениеDie Mercer Street war eine typische Seitenstraße in Süd-Philadelphia, einspurig und gesäumt von zweistöckigen Häusern aus rotem Backstein. Jedes Haus hatte zwei Fenster im ersten Stock und im Erdgeschoss ein Erkerfenster, in dem gewöhnlich eine Plastikstatue der Jungfrau Maria stand. Außerdem hingen die Flaggen von Italien, den Vereinigten Staaten oder den Philadelphia Eagles in Miniaturformat in den Fenstern. Was die Eingangstüren betraf, so gab es minimale Variationen, doch jede besaß eine Gittertür mit verschnörkelten Initialen. In der Mercer Street handelte es sich zumeist um die Initiale D. Als Mary klein war, hatte sie geglaubt, das D stehe für Door (Tür), aber als ihre eigene Familie sich ebenfalls eine Tür mit einem D bestellte, erkannte sie, dass es der Anfangsbuchstabe der DiNunzios, D’Orazios, DiTizios, D’Agostinos, DeMarcos, DiAngelis, D’Amatos, DeCeccos, Della Cavas und schließlich der Dunphys war. Die in der mütterlichen Linie von den DaTunos abstammten.
Mary und Judy gingen die Treppe zu Marys Elternhaus hinauf und wollten gerade die Gittertür aufstoßen, als ein schimmernder schwarzer Wagen, ein Escalade, die schmale Straße entlangbretterte. Niemand aus dem Viertel hätte sich erdreistet, in der Mercer Street so zu rasen; Mary drehte sich ärgerlich um und konnte einen Blick auf den Fahrer erhaschen. Er trug ein schwarzes Hemd, war nicht groß, aber stämmig, und seine Wangen waren von Aknenarben gezeichnet. Sie wollte ihm gerade zurufen, ob er verrückt geworden sei, als Judy sie ins Haus hineinzog.
Vertraute Düfte von frischem Basilikum, selbstgemachter Tomatensoße und Zitroneneis füllten die winzige Küche, und verwitterte Palmzweige und eselsohrige Andachtsbildchen steckten in der Ecke hinter dem uralten schmiedeeisernen Herd. Daneben waren mit vergilbten Klebestreifen kolorierte Fotos von Papst Johannes, Jesus und John F. Kennedy an der Wand befestigt. Über dem weißen Porzellanspülbecken hing der Drahtkorb für Teller und Tassen. Nichts würde sich je ändern im Haus der DiNunzios, wo man noch immer die Abschaffung der lateinischen Messe betrauerte. Auch Mary fehlte die lateinische Messe. Aber nach Mikes Ermordung hatte sie erkannt, dass sie und Gott nicht mehr die gleiche Sprache sprachen.
»Maria, Maria!« Vita DiNunzio drückte ihre Tochter zur Begrüßung fest an sich und hielt ihre Taille mit beiden Armen umschlungen. Doch ihre Umarmung fühlte sich nicht mehr so kräftig an wie ehedem. Ihr Griff hatte sich gelockert, und ihre Arme waren zart geworden wie die Flügel eines Vögelchens. Sie war abgemagert, und ihr Rücken war hart geworden. Sie trug ihre Lieblingskittelschürze mit großen bunten Blumen darauf, doch sie hing traurig an ihren knochigen Schultern.
»Geht’s dir gut, Ma?« Mary erwiderte die Umarmung und vergrub ihr Gesicht im strähnigen rosa-grauen Haar ihrer Mutter, das wie Zuckerwatte die kahlen Stellen an ihrem Hinterkopf bedeckte. Ihre kunstvolle Frisur roch wunderbar nach getrocknetem Oregano und Haarspray, doch sie ging Mary nur bis zum Kinn. Vor drei Wochen war sie ihr noch bis zur Nase gegangen. Wann war ihre Mutter geschrumpft? Und kann man es sich leisten, zu schrumpfen, wenn man ohnehin nur eins fünfzig groß ist? Mary riss sich los. »Ma. Wie geht’s dir?«
»Wie hübsch du bist, meine Maria«, sagte Vita DiNunzio in weichem Ton, und ihre runden braunen Augen lächelten hinter ihrer unmöglichen dicken Brille. Sie hatte eine markante Nase und ein zartes Lächeln, und sie tätschelte Marys Arm mit mehlbestäubten Fingern. »Wie nett von dir, dass du kommen besuchen«, sagte sie. Da sie in Italien geboren worden war und unter Italienern lebte, hatte sie die Notwendigkeit, die Sprache ihres neuen Landes korrekt zu sprechen, noch nie so recht eingesehen. Doch Mary bemerkte, dass ihre Eingangsfrage noch nicht beantwortet worden war.
»Ma. Ich meine es ernst. Hast du... abgenommen?« Mary wollte das Wort »schrumpfen« nicht benutzen.
»Nein, nein, nein, nur bisschen.«
»Wie viel? Vielleicht wird es dir zu viel, dich um Gabrielle zu kümmern?« Ihre Mutter hatte sich in letzter Zeit halbtags als Babysitter für das Kind der Sekretärin von Rosato & Associates betätigt. Mary hatte geglaubt, die Arbeit gebe ihrer Mutter neue Energie, aber vielleicht hatte sie sich geirrt. »Ma?«
»Mir gehen gut. Prima. Setz dich.« Ihre mehlige Hand glitt an Marys Arm entlang, und sie führte ihre Tochter zum Küchentisch. Sie war gerade dabei gewesen, Gnocchi zu machen, und der ganze Tisch mit all seinen Flecken und Messerspuren, die Mary so gut kannte, war voller Mehl. Der fertige Teig lag in langen, dünnen Streifen auf einem Brett. Später würde er in kleine Kissen geschnitten und ausgerollt werden. Mary setzte sich auf den gepolsterten Stuhl, und ihre Mutter sah freudig auf sie herunter. »Ich machen Kaffee. Für dich und Judy. Ich schon stellen Wasser auf.«
»Ma, ich will wissen, warum du so mager bist.« Mary konnte ihre Bestürzung nicht verbergen. Hier, im Haus der unveränderlichen Dinge, hatte sich etwas verändert. Etwas, was hier am wichtigsten war.
»MRS. D., ICH HAB WAHNSINNIGEN HUNGER!«, rief Judys. Sie wusste, dass sie sich so etwas leisten konnte, denn Marys Eltern liebten sie abgöttisch. Außerdem konnte sie sich alles leisten, sie konnte sogar ihren Golden Retriever mitbringen. Penny war glücklicherweise nicht besonders groß, sie ging mit Judy überallhin und konnte sich anständig benehmen. »Helfen Sie mir, Mrs. D.! Ich brauche Essen. Bitte!«
»Judy, Judy!« Lachend sprang Marys Mutter zu Judy und drückte sie an sich, während Penny aus einem angeschlagenen Unterteller geräuschvoll Wasser schleckte, den Marys Vater gebracht und auf den Linoleumboden gestellt hatte. Er hatte Mary an der Tür begrüßt und ihre Wange an seine steif gestärkte, weiße Hemdbrust gedrückt. Matty DiNunzio war einmal Fliesenleger gewesen und arbeitete seit einigen Jahren nicht mehr, aber er achtete darauf, sich stets korrekt anzuziehen, ein weißes, kurzärmliges Hemd, schwarze Bermudashorts und sein Hörgerät. Auch er liebte Judy. Und Judy ließ nicht locker.
»Mrs. D., Mary wollte nicht mit mir essen gehen, und wissen Sie, warum? Weil sie einfach zu viel arbeitet!«
»Maria«, sagte ihre Mutter und wedelte drohend mit ihrem verwachsenen Zeigefinger. »Maria, ich sagen so oft, dass du nicht so viel arbeiten sollst! Ich sagen dir und Bennie! Hört sie nicht? Hören du nicht?«
»Ich höre, und sie hört, und wir alle hören.« Mary hatte das vage Gefühl von auswendig gelernten Konjugationen. »Fang nicht wieder damit an, Ma. Ich arbeite für Amadeo Brandolini, und da gibt es eine Menge zu tun.«
»ABER ZUERST WIRD GEGESSEN!«, sagte Judy und umarmte noch einmal ihre Mutter. »Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. D.?«
»Nein, nein, du setzen! Setzen!«, erwiderte ihre Mutter. Sie wollte keine Hilfe, denn die Küche war ihr ureigenstes Reich, und Hilfsangebote beleidigten sie in ihrer Ehre. »Setzen!«
»Was kann man da machen?« Judy setzte sich Mary gegenüber. Penny hatte inzwischen genug getrunken und trottete mit tröpfelnder rosa Zunge zum Küchentisch. Sie schnüffelte. Offenbar Haarspray.
»Okay, ich machen Gnocchi für euch und Kaffee!«, sagte Mrs. DiNunzio.
Mary betrachtete ihre Mutter prüfend, als sie einen Teller mit Gnocchi hochhob und ihn auf der Küchentheke absetzte. Ihre Bewegungen waren flink wie immer, als sie den zerbeulten Spaghettitopf mit Wasser füllte, ihn auf den Herd stellte und die Flamme hochdrehte. Mary musste herausfinden, was passiert war, aber sie brauchte einen Geheimplan. Italienische Mütter besaßen eine Art Kraftfeld, das die Ängste ihrer Kinder ablenkte, selbst wenn diese Kinder schon dreißig Jahre alt waren. Allerdings wurde auch das Kraftfeld älter.
»Ma«, sagte Mary zum geblümten Rücken ihrer Mutter. »Was ist eigentlich mit Mrs. DiGiuseppe los? Ich hab sie draußen gesehen und kaum wiedererkannt.«
»Sie hat Krebs«, schaltete sich ihr Vater ein. Offensichtlich verstand er nichts von Kraftfeldern und Geheimplänen. Er ging langsam in seinen schwarzen Slippern zum Schrank und holte zwei Tassen mit Untertellern, die er vor Mary und Judy auf den Tisch stellte. Mary drehte die Tasse auf dem angeschlagenen Teller und versuchte es erneut.
»Was für einen Krebs, Ma?«
»Leber«, unterbrach ihr Vater wieder und bemerkte den wütenden Blick, den Mary ihm zuwarf, nicht. Er drehte sich um, holte aus der Besteckschublade zwei Gabeln und zwei Löffel und brachte sie zum Tisch. »Wie sie leiden musste, mit dieser Chemotherapie. Eine Sünde.«
»Sie sieht so dünn aus, Ma.« Mary würde einen Flammenwerfer brauchen, um dieses Kraftfeld zu knacken. Oder ihr Vater musste den Mund halten. »Sie sieht sogar kleiner aus. Wie ist sie nur so geschrumpft, Ma?«
»So was passiert, wenn man älter wird«, sagte ihr Vater, der jetzt mit zwei Tellern an den Tisch trat. Mary bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick, und er schaute sie an mit seinen milchbraunen und etwas traurigen Augen hinter der Brille. Und dann wusste sie es. Ihr Vater war nicht ahnungslos, er spielte den Ahnungslosen. Er verbarg etwas vor ihr.
»Dad?«, sagte Mary unwillkürlich, aber er winkte ab.
»Ach, mach dir keine Sorgen.«
»Wirklich?« Mary spürte einen Knoten in der Kehle. Sie wussten beide, dass sie nicht über Mrs. DiGiuseppe sprachen.
»Wirklich«, sagte er fest und setzte sich auf seinen Platz an dem kleinen runden Tisch.
Marys Blick wanderte wieder zu ihrer Mutter am Herd, die Salz ins Gnocchiwasser schüttete und es mit einem Holzlöffel umrührte. Dann drehte sie die Flammen unter dem Topf mit Soße und der altmodischen Kaffeekanne größer. Seit ewigen Zeiten benutzten sie diese Kaffeekanne. In ein paar Minuten würde alles kochen, sprudeln und dampfen, und Mary würde so tun, als wäre alles in Ordnung, wenigstens für den Augenblick. Neben ihr saß Judy, der diese Szene ein Rätsel war und die schweigend von Mary zu ihrem Vater und wieder zurück sah. Sie war schon oft genug bei den DiNunzios gewesen, um zu wissen, dass Englisch ihre zweite Sprache war. Die erste war die Sprache der Blicke.
»Und wie geht’s Angie?«, fragte Mary. Marys Schwester war einst Nonne gewesen und war dann nach Tadschikistan gegangen, wo sie Englisch unterrichtete und beim Aufbau von Häusern für Arme mithalf. Wegen Angies guter Taten würden alle Mitglieder ihrer Familie geradewegs in den Himmel kommen. Mary vermisste sie. »Habt ihr in letzter Zeit was von ihr gehört?«
»Letzten Monat«, antwortete ihr Vater. »Aber erzähl uns lieber vom Fall Brandolini. In der Kirche haben sie auch schon danach gefragt.«
»Ich bin noch nicht sehr weit gekommen. Ich habe bis jetzt nicht mal seine Akte gefunden.« Mary berichtete, was sie wusste, während der Kaffee zu gurgeln begann und der Duft sich in der Küche verbreitete. Und gerade als man dachte, der Raum sei viel zu klein für einen weiteren Geruch, fing die Tomatensoße an zu kochen.
»Brandolini war in einem Lager in Montana? Die Augen ihres Vaters weiteten sich. Die DiNunzios verließen ihr Haus nie, ganz zu schweigen von einer Reise. Nur ein Mal waren sie im Sommer weggefahren, in die Bellevue Avenue in Atlantic City, als es Atlantic City noch gab. »Montana? Also dorthin haben sie ihn gebracht? Warum?«
»Ich weiß nicht. Genaues kann man ohne die Akte nicht sagen. Es gab im ganzen Land elf Internierungslager, und ich habe noch nicht herausbekommen, nach welchen Regeln wer wohin kam.«
»Aber Montana!« Ihr Vater schlug sich auf seinen kahlen Kopf, als ob Mary vom Höllenfürsten persönlich gesprochen hätte. »Das ist so weit weg. Das ist dort, wo die Cowboys leben!«
»Sie haben die Internierten in Züge gesteckt, und als sie nach Missoula kamen, haben sie es bella vista genannt.«
»Schöne Aussicht«, übersetzte ihr Vater – für Judy.
»Genau. Weil es Berge und das alles gab. So stellt es die Regierungspropaganda dar.« Mary hatte über Fort Missoula recherchiert, hatte ein Buch über seine Geschichte gelesen und sich alles Weitere aus anderen Internierungsakten zusammengesetzt. »Die meisten italienischen Internierten in Fort Missoula kamen direkt von Kreuzfahrtschiffen, die unterwegs gewesen waren, als der Krieg ausbrach. Ein paar waren Kellner im italienischen Pavillon der Weltausstellung in New York gewesen. Amadeo stammte aus der Gruppe, die aus Philly kam.«
»Wo haben sie die Akten eigentlich aufbewahrt?« Ihr Vater war klug, obwohl er kaum schulische Bildung besaß. Mary, die an der University of Pennsylvania ihr Juraexamen gemacht hatte, dachte, dass sie selbst nie so klug sein könnte. Sie hatte manchmal sogar schon darüber nachgedacht, ob das ganze Studium überhaupt einen Sinn gehabt hatte.
»Ich glaube, sie waren zuerst in Fort Missoula, und als die Lager geöffnet und die Internierten freigelassen wurden, haben sie die Akten ins Nationalarchiv gebracht.«
»Vielleicht sind ein paar auf dem Weg abhanden gekommen.«
Mary zuckte die Schultern. Der Kaffee war fertig. Sie wollte ihn holen, aber das verstieß gegen die Regeln. Ihr Vater war schon auf den Beinen, holte die Kaffeekanne und brachte sie zum Tisch. Ihre Mutter schaltete die Flamme aus und beschäftigte sich gleichzeitig mit der Tomatensoße und dem Umrühren der Gnocchi. Ihr alltäglicher Tanz am Herd. Mariano und Vita DiNunzio waren schon seit Ewigkeiten verheiratet, und das sah man.
»Vielleicht ist seine Akte herausgenommen worden, weil er im Lager gestorben ist.« Ihr Vater goss in einem glitzernden braunen Bogen heißen Kaffee in Judys Tasse. Sie dankte ihm und rührte drei Löffel Zucker und halbfette Milch hinein, die immer auf dem Tisch stand, neben einem Serviettenhalter aus Plastik in Form von zwei betenden Händen. »Vielleicht haben sie die Akte irgendwohin geschickt, als er starb, und so ist sie nicht im Nationalarchiv gelandet. Ist noch jemand im Lager gestorben?«
»Nach meinen bisherigen Recherchen drei weitere italienische Internierte, alle eines natürlichen Todes. Keiner hat wie Amadeo Selbstmord begangen.« Auf dem Herd war das Sprudeln von heißem Gnocchiwasser zu hören. In der Tomatensoße sprudelten Olivenöl und kleine Hühnerstückchen. Mary wusste, es würde ein köstliches Essen werden, und doch hatte sie kaum Appetit. Zwischen ihrer Mutter und Amadeo gab es zu vieles, was ihr im Kopf herumging. »Ich sehe jetzt alle Akten noch mal auf Hinweise durch. Vielleicht finde ich doch noch heraus, was mit seinen Booten und mit seinem Geschäft passiert ist.«
»Armer Kerl.« Ihr Vater goss ihr Kaffee ein, und sie dankte ihm. »Und was gibt’s sonst noch Neues?«
»Mary hat wieder mal ein Rendezvous«, krähte Judy. »Mit einem Anwalt, einem Freund von Anne.«
»Das ist schön«, sagte ihr Vater, bevor Mary die Meldung dementieren konnte. »Es wird aber auch Zeit, das weißt du, Mare. Wenn Anna dieser junge Mann gefällt, solltest du ihm eine Chance geben.« Ihr Vater ging mit der Kaffeekanne zum Herd zurück, und sobald er ihnen den Rücken zukehrte, wandte sich Mary ihrer Freundin zu und tippte sich empört an die Stirn. Judy grinste. Sie waren wirklich gute Freundinnen.
»Das werde ich, Pop.« Mary nickte. Sie wusste, wann sie sich geschlagen geben musste. Ihre Eltern hatten Mike so sehr geliebt wie sie selbst, aber in letzter Zeit versuchten selbst sie, Mary zu verkuppeln, vor kurzem erst mit einem Buchhalter, der mit seiner Mutter in der Ritner Street lebte. Ihr Vater kam zum Tisch zurück und setzte sich. Als sie mit dem Thema Männer angefangen hatten, waren seine Bewegungen steifer geworden. Hinter ihm goss ihre Mutter die gekochten Gnocchi ab und schüttelte das Sieb ein paarmal. Schrapp, schrapp, schrapp. Dampfwolken türmten sich über dem Waschbecken. Niemand sagte etwas.
»Fertig!« Marys Mutter kam mit einem Teller heißer Gnocchi zum Tisch, dann nahm sie einen Schöpflöffel und goss Soße in einem tomatenroten Ring darüber. Alle Gesichter waren vor freudiger Erwartung gerötet beim Anblick des Essens, und Mrs. DiNunzio setzte den Teller stolz vor Judy ab. »Ganze frisch für Judy! Käse stehen da!«
»Danke, Mrs. D.!«, sagte Judy, nahm ihren Löffel und bediente sich. Sie würde sich den Mund verbrennen, aber niemand warnte sie davor, weil sie sowieso auf niemanden hörte. Als Nächstes bekam Mary ihre Gnocchi.
»Das sieht wirklich großartig aus, Ma«, sagte sie. Ihre Mutter sah so glücklich aus, dass Mary sich schwor zu essen, mit oder ohne Appetit. »Danke.«
»Okay!« Mrs. DiNunzio fuhr mit der Hand über den Rücken ihrer Tochter, erst streichelnd, dann mit einem leichten Kratzen, wie sie es immer tat. Mary fühlte sich wie ein gehätscheltes kleines Kätzchen. Sie sah auf ihre Gnocchi hinunter, spießte eine davon auf die Gabel und hatte im nächsten Moment Verbrennungen dritten Grades an ihrem Gaumen. Ihre Mutter kratzte immer noch ihren Rücken. »Hast du schon Gebet geschickt zu heiligem Antonius wegen diese Papier, Maria?«
»Papier?«
»Brandolini. Du suchen doch diese Papier.« Mrs. DiNunzio beschrieb mit ihren arthritischen Fingern einen Kreis in der Luft, und Mary verstand. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter die ganze Zeit ihrem Gespräch gelauscht hatte. Aber sie hätte es wissen müssen. Außer über Kraftfelder verfügten italienische Mütter auch noch über Radaranlagen.
»Du meinst Amadeos Akte.«
»Sí. Du beten zu heiligem Antonius?«
»Also gut, ja, ich habe gebetet«, gab Mary mit heißen Gnocchi im Mund zu. Sie hatte das Gebet im Kindergarten gelernt. Antonius, Antonius, heiliger Mann, entdecke mir, was ich nicht finden kann. Zur Sicherheit hatte sie auch noch zum heiligen Clemens gebetet, weil sie nicht sicher war, wer für Rechtsprechung zuständig war.
»Dann nehmen sie«, sagte ihre Mutter mit charakteristischer Entschiedenheit.
»Wer nimmt was?« Mary griff nach ihrer Tasse und versuchte, ihren Mund mit kochend heißem Kaffee zu kühlen.
»Jemand. Sie nehmen seine Papier.« Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Brandolinis Papier. Jemand nehmen es.«
»Du glaubst, jemand hat seine Akte weggenommen?«
»Sí. Sie nicht wollen, dass jemand sieht. Also hat jemand die Papier genommen.« Sie griff nach dem Dampf, der von dem Teller aufstieg, und als sie die Hand öffnete, war kein Dampf mehr da. Mary war überrascht von den beeindruckenden Tricks ihrer Mutter, aber nicht von ihrem Aberglauben. Vita DiNunzio hatte stets ein Auge auf die Machenschaften des Teufels, die sich besonders in Anwaltskanzleien bemerkbar machten.
»Das bezweifle ich, Ma.«
»Ich fühlen das. Ich wissen das.«
»Niemand hat die Akte mitgehen lassen, Veet«, sagte ihr Vater müde. Seine Stirn war bis zu seiner mit Leberflecken übersäten Glatze gekräuselt. »Sag doch nicht so was. Die Regierung verliert mehr Papiere, als sie versteckt.«
Doch Judy hatte aufgehört zu essen, und ihre azurblauen Augen glitzerten. »Nein, das ist gar kein so schlechter Gedanke, Mr. D. Es ist durchaus möglich, dass jemand die Akte eines Mannes verschwinden lässt, der in einem Regierungslager Selbstmord beging. Ganz klar. Jemand muss die Verantwortung übernehmen. Vielleicht hatten sie Angst vor einer Klage. Schließlich passiert genau das jetzt, mit Mary.«
»Nein.« Matty DiNunzio schüttelte den Kopf. »Ich habe damals gelebt, mein Kind. Damals hat kein Mensch an Klage gedacht. Die Leute haben einander nicht so verklagt wie jetzt. Und wer würde die Regierung verklagen? Mitten im Krieg.«
»Es ist trotzdem nicht ganz unmöglich, Pop«, sagte Mary. »Amadeos Suizid war für das Lager und die Regierung ein Störfall. Meine Güte, schließlich haben sie sehr lange die gesamte Geschichte der italienischen Internierungen geheim halten wollen.«
Vita DiNunzio wedelte wieder mit ihrem krummen Zeigefinger. »Maria, ich fühlen das, etwas böse! Du beten und nicht gefunden? Dann hat jemand genommen!«
Und Mary, die eigentlich noch nie so richtig an den heiligen Antonius geglaubt hatte, hätte nicht sagen können, dass ihre Mutter sich irrte.