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»GENERALSTAB« stand auf einem Zettel, den Mary an die Tür des Konferenzzimmers geklebt hatte. Sie hatte mit Judy den ganzen Sonntag damit verbracht, die restlichen Dokumente des Nationalarchivs nach Amadeos Akte zu durchforsten. Abends säumten zwanzig Pappkisten voller NUTZLOS-Papiere die Wand, und auf dem Tisch lag ein letztes einzelnes Memorandum.

»Wir haben was gefunden!«, sagte Mary und beugte sich über das Dokument.

»Eine einzige kümmerliche Seite? Da hat der heilige Antonius sich aber nicht sehr angestrengt.« Judy sank in einen Drehstuhl und schlug die Beine übereinander. Sie trug eine enge Jeans und ein gestreiftes Tanktop. Zirkus trifft Informationsfreiheit.

»Doch, hat er. Du wolltest mich ja nicht beten lassen, als wir gesucht haben, aber nur dann wirken die Gebete.«

»Er ist ja ziemlich anspruchsvoll.«

»Er ist ein Heiliger.«

Judy zog hörbar die Luft ein. »Ich bin immer noch sauer auf dich, weil du Jason nicht geheiratet hast. Anne sagt, er ist echt nett.«

»Dann soll sie doch mit ihm ausgehen.« Mary nahm das Papier in die Hand. Sie spürte eine leichte Aufregung. Nicht nur, weil das Papier sich so alt anfühlte, sondern auch, weil sie an die Worte ihrer Mutter dachte. Vielleicht war der Gedanke doch nicht so abwegig, dass jemand ein Interesse daran gehabt hatte, Amadeos Akte verschwinden zu lassen. Zum zehnten Mal las sie, was auf der Seite stand:

VERTRAULICHES MEMORANDUM

VON THOMAS WILLIAM GENTILE

Gefreiter Nr. 4433366698.

Am 22. März 1942 hörte der Unterzeichnete ein Gespräch zwischen MR. JOSEPH GIORNO von GIORNO & LOCARO, Columbus & South Broad Streets, Philadelphia, Pennsylvania, und dem Internierten AMADEO BRANDOLINI, ISN 3-31-I-129-C1, im Bereich B dieses Internierungslagers.

MR. GIORNO hatte ein Andachtsbild in der Hand und fragte mich um die Erlaubnis, es dem OBENGENANNTEN zu zeigen. Daraufhin überbrachte MR. GIORNO dem OBENGENANNTEN die Nachricht, dass seine Frau Theresa durch einen Sturz auf der Treppe seines Hauses gestorben war. MR. GIORNO setzte den OBENGENANNTEN davon in Kenntnis, dass sein Sohn, der Gefreite ANTHONY BRANDOLINI, schon auf dem Postweg davon unterrichtet worden sei. MR. GIORNO erklärte sodann, dass dem OBENGENANNTEN der Tod seiner Ehefrau nicht schon früher bekannt gemacht worden sei, da er erst jetzt die lange Reise habe machen können.

Marys Aufregung verwandelte sich in Zorn. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, eine so schreckliche Nachricht auf diese Weise zu erfahren, und sie wollte mehr wissen über Joe Giorno. Er war offenbar Anwalt, und seine Firma hieß Giorno & Locaro, was eine frühere Inkarnation der heutigen Kanzlei Giorno & Cavuto sein musste, die Amadeos Sohn Tony vertrat. Auch die Adresse stimmte noch. Der Anwalt, der Tonys Nachlass verwaltete, war Frank Cavuto; er war es auch gewesen, der den Fall in ihre Hände gelegt hatte, weil er sie aus der Gemeinde kannte.

MR. GIORNO hat dann den OBENGENANNTEN gefragt, wie sie mit dem Haus und dem Wagen weiter verfahren sollten. MR. GIORNO sagte, dass der Tank des Wagens noch zehn Liter Benzin enthalte, was seinen Wert steigere. Der OBENGENANNTE rieb sich erst die Hände, dann fing er an zu weinen. MR. GIORNO sagte: Tun Sie das nicht. Die Nase des OBENGENANNTEN lief, und die Szene war äußerst unerquicklich.

Auf Anfrage wurde je eine Kopie dieses Memorandums an den Direktor der Militärischen Abwehrabteilung und den Direktor des FBI geschickt.

Unterzeichnet, THOMAS WILLIAM GENTILE, Gefreiter Nr. 4433366698.

Damit endete das Dokument. Unten auf der Seite stand keine Nummer; es war wahrscheinlich die erste und die letzte Seite dieses Memorandums, das mehr Fragen aufwarf, als es beantwortete. Marys Gedanken überschlugen sich. »Judy, fragst du dich nicht, warum dieser Soldat so ein Memorandum verfassen musste?«

»Nein. Ich bin zu müde.«

»In den Akten der einzelnen Internierten gibt es nur ganz selten Berichte über mitgehörte Gespräche, und zwar nur von solchen Leuten, die die Regierung für gefährlich hielt, wie zum Beispiel von diesem Typen, der eine faschistische Zeitung besaß. Warum interessierte sich wohl das FBI für einen Fischer aus Philadelphia?«

»Lass uns für heute Schluss machen, Mare.« Judy strich sich die Ponyfransen aus der Stirn, aber dann beugte sie sich doch wieder vor. »Warum sie das FBI informiert haben? Da steht’s ja: ›Auf Anfrage‹.«

Mary konnte ihren Blick nicht von dem Papier abwenden. Seltsamerweise hatte sie es zwischen Briefen des Lagerkommandanten gefunden, die sich um Kaffeerationen, Milchmengen und Wäschereiangelegenheiten drehten, das tägliche Geschäft einer Lagerleitung während eines Weltkriegs. »Willst du nicht wissen, warum diese Seite zwischen all diesen banalen Briefen lag?«

»Du wirst es herausfinden. Wir sind müde. Sehr müde.« Judy klopfte Penny auf den Hals, die sich in einem anderen Drehstuhl zusammengerollt hatte. Bei Rosato & Associates durften auch Hunde die Stühle benutzen, was zu den Eigenwilligkeiten einer von Frauen geführten Kanzlei gehörte. Das und die Tatsache, dass der Kühlschrank vollgepackt war mit Produkten der Lean Cuisine.

»Und denk dran, was wir aus den Papieren der Leute erfahren haben, die in den Lagern gestorben sind.« Mary griff nach den Akten der verstorbenen Internierten und legte sie vor sich hin. »Jeder von ihnen hat einen Totenschein bekommen, bei jedem von ihnen wurden Vereinbarungen über das Begräbnis getroffen. Diese Akten sind dicker als die anderen, deshalb sind sie mir bereits zu Anfang aufgefallen. Also, wo ist Amadeos Totenschein?«

»Was für ein süßer kleiner Hund du bist«, hauchte Judy ins Ohr des schläfrigen Retrievers.

»Wie du schon sagtest, es ist eine Riesensache, wenn jemand in einem Regierungslager Selbstmord begeht.« Mary öffnete den zweiten und den dritten Ordner und legte sie neben den ersten. Auf jedem von ihnen stand GESANDTSCHAFT DER SCHWEIZ. »Diese drei Akten sind gleich. Wenn ein Internierter stirbt, wird ein Brief mit der Todesmeldung nach Genf geschickt. Also, wo ist der Brief für Amadeo?«

»Keine Ahnung.« Judy streichelte den Kopf des Hundes. »Vielleicht weiß es Penny. Meine kluge kleine Penny –«

»Amadeos Fall hat doch auch mit der Genfer Konvention zu tun. Er war ja Kriegsgefangener.« Mary improvisierte, denn Internationales Recht war nicht ihre Stärke. Leider hatte sie gar keine richtige Stärke, weshalb sie auch immer wieder voller Zweifel an ihr Studium dachte.

»So ein lieber Hund.« Judy tätschelte Penny, deren Zunge aus dem Mund hing wie bei einem Crack-Süchtigen.

»Außerdem wurden die Internierten, die im Lager starben, an Ort und Stelle begraben. Ich habe die Akte eines Mannes gefunden, der in Fort Missoula starb. Man hat ihn auf einem katholischen Friedhof in Missoula beerdigt. Er starb an Kolitis, und in der Akte war ein Totenschein. Also – wo ist Amadeos Totenschein?« Mary blätterte die Akte noch einmal durch. »Und wo ist sein Grab? Nicht einmal das weiß ich. Ich habe nie darüber nachgedacht. Vielleicht haben sie ihn nicht auf einem katholischen Friedhof begraben wollen, weil er Selbstmord begangen hat.«

»Ich liebe dich, Penny.«

»Die ganze Zeit habe ich nur über sein Geschäft nachgedacht. Aber was ist mit seiner Leiche passiert? Ist sie in Missoula oder in Philly?«

»Ich liebe dich, jawohl.« Judy murmelte in einer Endlosschleife »mein süßer kleiner Hund, mein kluger kleiner, Hund, guter Hund«, und über kurz oder lang würde Mary anfangen zu bellen.

»Sein Sohn war in der Armee, als er starb, er konnte also nicht veranlassen, dass die Leiche nach Philadelphia zurückgebracht wurde, und seine Frau war schon tot. Amadeo hatte keine weiteren Angehörigen in der Gegend, und ich weiß nicht, ob die Eltern seiner Frau noch lebten. Aber hätten die Verwandten überhaupt den Wunsch gehabt, die Leiche überführen zu lassen, auf dieser langen Strecke, in Kriegszeiten, und da ihre Tochter bereits tot war? Das bezweifle ich. So ein Transport war sicher teuer und mit tausend Unannehmlichkeiten verbunden. Was meinst du, Judy?«

Mary sah zu Judy, die ihre Stirn an Pennys Hals drückte und immer noch in Babysprache mit ihr redete. Die beiden schwebten auf einer rosaroten Wolke. Mary sah auf die Uhr. Fast zehn. Vielleicht sollten sie wirklich nach Hause gehen. »Na gut, ihr beiden. Gewonnen.«

»Juchhu!« Judy stand auf und streckte sich. Auch Penny sprang von ihrem Sitz und streckte ihre Vorderbeine aus, bis sie fast parallel zum Boden waren. Mary lächelte.

»Danke für die Hilfe, Jude. Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.«

»Natürlich hättest du das.« Judy ließ die Arme sinken und rieb sich ihren flachen Bauch. »Aber ich habe das Memorandum gefunden.«

»So viel Glück verdienst du gar nicht.«

»Du undankbare Kuh.«

»Du abgedrehter Freak.«

»Du Spaghettifresser«, sagte Judy, und sie hörten noch lange nicht auf, einander Schmeicheleien an den Kopf zu werfen, während sie Taschen, Papiere, Aktenkoffer und Rucksäcke zusammenpackten und schließlich mit Penny im Schlepptau zum Aufzug zockelten.

Mary drückte zufrieden auf den Knopf. Das Memorandum des Gefreiten Gentile war in ihrer Tasche, und sie konnte es kaum erwarten, es zu Hause auszupacken.

Zusammen mit dem, was sie noch eingesteckt hatte.

Tote ruhen nicht

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