Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 15
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ОглавлениеEine tief besorgte Mary trat aus dem Aufzug in den Empfangsbereich ihrer Kanzlei, der freundlicher aussah als in der Nacht, als die Möbel versucht hatten, über sie herzufallen. Grau bezogene Sessel standen halbkreisförmig um eine weiche Ledercouch herum, auf der ganz und gar nicht psychotisch aussehende Mandanten Zeitschriften lasen. Marshall Trow, Empfangssekretärin der Kanzlei, saß in einem Pullover aus pinkfarbener Baumwolle und einem kurzen, dunkelbraunen Rock hinter dem Empfangstresen. Ihr braunes Haar, das sie einst zu Hippiezöpfchen geflochten hatte, war nun kürzer und in Form geschnitten, da Rosato & Associates in das Geschäftsviertel der Stadt gezogen waren und sich zu einer Kanzlei gemausert hatte, in der auf Hairstyle Wert gelegt wurde.
»Wo bist du denn den ganzen Morgen gewesen?«, fragte Marshall leise.
»Haben wir was vom Tobenden Tom gehört?«
»Erst viermal heute.«
Mary versteifte sich. »Und was hast du dagegen unternommen?«
»Nichts. Ich habe die Nachricht aufgenommen.«
»Sollten wir uns nicht um eine einstweilige Verfügung kümmern? Oder mindestens ein paar Maschinengewehre anschaffen?«
»Peace. Judy hat die einstweilige Verfügung schon in Arbeit, mit Fernüberwachung durch Bennie.« Marshall gab ihr die vormittägliche Post und einen Packen gelber Zettel mit Namen und Anliegen ihrer Anrufer. »Der Mann dort auf der Couch ist ein Reporter der Philly News. Seit neun Uhr heute Morgen wartet er auf dich.«
»Auf mich?« Mary war überrascht. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie interviewt worden, außerdem hatte sie andere Sorgen. »Marsh, meine Mutter ist doch in den letzten Wochen öfter zu dir zum Babysitten gekommen. Hast du bemerkt, dass sie dünn wird?«
»Ja, schon.« Marshalls glatte Stirn kräuselte sich. »Ich hab’s ihr letzte Woche auch schon gesagt. Sie hat es nicht erklären können. Warum?«
»Wir reden später darüber.« Mary konnte nicht mehr sagen, weil der Reporter aufgestanden war und quer durch den Raum auf sie zukam. Er sah unglaublich gut aus, hatte dunkle Augen und ein selbstbewusstes Lächeln, trug Khakihosen und ein weiches blaues Hemd.
»Jim MacIntire«, sagte er, als er bei ihr war, lächelte und schüttelte ihre Hand. »Sie müssen Mary DiNunzio sein. Haben Sie eine Sekunde für ein kleines Gespräch mit mir? Es geht um Amadeo Brandolini.«
»Amadeo? Was haben Sie über Amadeo erfahren?«, fragte Mary überrascht. Niemand anderes konnte etwas über Amadeo wissen, vor allem nicht jemand, der so blendend aussah.
»Ich würde gern ein Porträt über ihn schreiben, vielleicht ein wenig von seinem Leben erzählen. Als Hinweis auf seine Verstrickung in die Weltgeschichte, sozusagen.«
»Bevor du antwortest, Mary«, unterbrach Marshall, die vorgab, den Terminkalender zu konsultieren, »ich habe Mr. MacIntire gesagt, dass du in einer halben Stunde einen Gerichtstermin hast, und vielleicht brauchst du etwas Zeit, um dich darauf vorzubereiten.«
Wie bitte? Marshall wollte ihr mitteilen, dass sie gegen dieses Interview war, denn Mary wusste ganz genau, dass sie keinen Gerichtstermin hatte. Wahrscheinlich brauchte sie eine Erlaubnis für dieses Interview. Aber Bennie war nicht da, und die Story, die der Mann schreiben wollte, interessierte sie.
»Ich schaffe es vor dem Termin«, sagte sie und führte den Reporter zu ihrem Büro, wo er sich in einen der neuen marineblau bezogenen Sessel vor ihrem Schreibtisch setzte. Mary sah sich ein wenig verlegen um und war erleichtert, dass alles an seinem gewohnten Platz war. Telefon und zu erledigende Korrespondenz rechts, Aktenordner und der geschlossene Laptop links, freier Platz in der Mitte. Am anderen Ende des Zimmers standen Bücherregale voll staubloser juristischer Fachliteratur, den Veröffentlichungen des Bundesgerichts und zwei Bände der juristischen Zeitschrift der University of Pennsylvania mit ihrem goldgeprägten Abonnentennamen darauf. An der Wand neben dem Schreibtisch hing ein handgearbeiteter Quilt in Pastellfarben, der ihrem Büro eine mädchenhafte Note gab.
Mary ging um den Tisch herum, stellte ihre Aktentasche ab und zog sich ihren Stuhl heran. »Also. Wie haben Sie das mit Amadeo Brandolini herausgefunden?«, fragte sie. DiNunzio über den Fall: Unsere besondere Stärke: Kreuzverhör.
»Mein Friseur, Joe Antonelli, hat mir davon erzählt.«
»Onkel Joey!« Mary wurde warm ums Herz. Also stammte der Haarschnitt des Reporters von Onkel Joey. Es war ein Schnitt namens »Manager Classic«, wenn sie sich nicht irrte.
»Joe schneidet mir schon seit drei Jahren die Haare. Er ist großartig.«
»Das ist er.« Außer dass er schmatzt. Aber was will man machen? Menschen sind keine Heiligen.
»Er ist sehr stolz auf Sie. Auf Ihren Job hier und was Sie schon alles erreicht haben. Sie sind der Star der Familie, des ganzen Viertels!« MacIntire grinste. »Obwohl er mir nicht gesagt hat, dass er Ihr Onkel ist.«
»Genau genommen ist er das auch nicht. Ich habe ungefähr dreihundertzweiundachtzig Tanten und Onkel in Süd-Philly, keiner von ihnen ist mit mir verwandt. Eigentlich habe ich sogar zwei Onkel Joeys, aber Sie meinen den dünnen Onkel Joey, im Gegensatz zum dicken Onkel Joey, weil er Friseur ist, wenn Sie verstehen.«
MacIntire lachte. »Sie haben einen wunderbaren Humor, Mary.«
»Ja?« Selbstverständlich habe ich das.
»Ja. Ich liebe Frauen mit Humor. Ich glaube, man muss wirklich intelligent sein, um komisch sein zu können.«
»Intelligent?« Da hast du’s.
»Sie haben auch aufregende Augen, aber ich wette, das sagt Ihnen jeder.«
Jeder. »Ich meine, es sind einfach braune Augen. Auf jeder Seite eins.«
Der Reporter lachte noch einmal. »Übrigens, Sie haben doch nichts dagegen, dass ich unser Gespräch aufzeichne?«
»Natürlich nicht.« Marys Stimme war noch nie auf einem Tonband gelandet, außer auf ihrem Anrufbeantworter, aber sie versuchte, das nicht allzu deutlich zu zeigen. Der Reporter hatte schon seinen schwarzen Rucksack aufgeschnürt und holte einen silbrigen Kassettenrecorder heraus, den er zwischen sie auf den Tisch stellte.
»Cool. Wissen Sie, ich hab über Sie im Internet recherchiert, bevor ich heute herkam. Ich habe Ihre Vita auf der Website der Kanzlei gelesen. Das Foto wird Ihnen nicht gerecht.«
»Danke.« Mary wusste, dass er ihr schmeichelte, aber er tat es genau zum richtigen Zeitpunkt. Sie stellte fest, dass sie sich fragte, ob er verheiratet sei. Er trug keinen Ring und sah unverschämt gut aus. Nicht dass es ihr etwas ausgemacht hätte.
»Gut, fangen wir an.« Er sah auf, und sie bemerkte, dass das Licht von vorn den dunklen Espressoton seiner Augen noch besser zur Geltung brachte. »Warum fangen wir nicht damit an, dass Sie mir alles sagen, was Sie über Amadeo Brandolini wissen. Wie kam es, dass Sie sich für ihn interessierten? Ich bin gespannt.«
»Gut«, begann Mary, die sich nicht nur geschmeichelt, sondern herausgefordert fühlte. Außerdem machte es Spaß, über Amadeo zu sprechen, wenn jemand zuhörte, der sich für ihn interessierte und noch dazu anscheinend auch für sie. Er sagte ihr, sein Spitzname sei Mac, und kurz danach erzählte sie Mac von dem FBI-Memorandum aus dem Nationalarchiv und den kreisförmigen Zeichnungen. Er fragte so geschickt, dass sie ihm sogar von dem Wäschenetz im Haus in der Nutt Street erzählte, und dabei war sie heimlich zu der Überzeugung gelangt, dass seine Augen doch eher milchkaffee- als espressobraun waren. Sie hatten so viel Spaß miteinander, dass sie sich unwillkürlich fragte, ob er sie nicht irgendwann darum bitten würde, mit ihm auszugehen.
»Also, nochmals vielen Dank«, sagte Mac, als er den Kassettenrecorder ausschaltete. Das kleine rote Licht ging aus, und er ließ das Gerät wieder in seinen Rucksack gleiten. »Ich habe jetzt die Grundzüge einer wirklich tollen Geschichte dokumentiert, dank Ihnen.«
»Gern geschehen.« Fragst du mich, oder fragst du mich nicht?
»Ich habe einen Fotografen angerufen, damit er ein Foto macht. Er ist mittlerweile sicher schon da. Es war cool mit Ihnen.«
»Wirklich? Gut. Okay.« Mary dachte, dass sie wirklich gut aussehe, und sie wusste, dass ihre Augen toll waren, das linke wie das rechte.
»Und Sie wissen, was als Nächstes passiert, oder?« Mit einem Lächeln stand Mac auf und zog den Reißverschluss seines Rucksacks zu.
Mary wurde rot. Du fragst mich also? »Nein, was?«, fragte sie mit einem unvermittelt trockenen Mund.
»Nach der Logik Ihrer Ermittlungen gibt es nur einen möglichen nächsten Schritt.«
»Meiner Ermittlungen?«, wiederholte Mary und musste dann an sich halten, um nicht weiterzusprechen, während Mac etwas sagte, was ganz und gar nicht nach Ausgehen klang und so unerwartet kam, dass sie völlig konsterniert war. Etwas später konnte sie nur erwidern: »Wirklich? Glauben Sie?«
»Na klar. Warum nicht? Denken Sie nicht weiter darüber nach, tun Sie’s einfach. Und halten Sie mich auf dem Laufenden, wenn Sie etwas Neues herausfinden.« Er schob den schweren Rucksack auf eine Schulter und ging zur Tür, und in diesem Moment erkannte Mary, dass er tatsächlich vergessen hatte, sie zu fragen.
»Warten Sie!«, platzte sie heraus. Das Herz lag ihr auf der Zunge.
»Was ist? Ich bin spät dran. Ich habe noch einen Termin heute Morgen.«
Mary zog vor Verlegenheit die Stirn in tiefe Falten. Er dachte also nicht daran, mit ihr auszugehen. Sie zog in Erwägung, ihm selbst ein Rendezvous vorzuschlagen, aber das hatte sie noch nie im Leben getan, und sie war sicher, es wog so schwer wie eine Todsünde. Auf einmal kam sie sich wie eine Närrin vor. »Äh, was ist mit dem Fotografen?«
»Da muss ich nicht dabei sein. Ich hab ihm gesagt, was ich will. Lächeln Sie schön. Ciao.«
»Auf Wiedersehen.« Mary ließ ihn gehen und sagte ihrem Herzen, es solle endlich Ruhe geben.
Mary und Judy saßen Seite an Seite auf einer der Holzbänke am Rittenhouse Square. Die Luft war kühl und sauber, der Himmel wolkenlos, daher war der Park voll mit Geschäftsleuten, die ihr Mittagessen im Freien verzehrten. Sie saßen auf den Bänken und auf dem Zementmäuerchen, das den Platz umgab; die Männer hatten ihre Krawatten über die Schulter in Sicherheit gebracht und aßen aus Styroporschachteln, die Frauen balancierten Salatschalen auf ihren Handtaschen im Schoß. Jeder genoss den schönen Frühlingstag, außer Mary.
»Was denkst du, Judy?« Sie beugte sich zu ihrer Freundin und sprach leise, damit niemand anderes sie hören konnte. »Warum sollte dieser Typ mit den Aknenarben zu Amadeos Haus gehen? Warum will Frank mich loshaben? Und warum verkauft Giorno Amadeo das Haus mit Verlust?«
»Marshall hat mir gesagt, dass dieser Reporter echt geil war«, sagte Judy, nachdem sie ihren Bissen hinuntergeschluckt hatte. Sie sah beinahe normal aus in ihrem Jeansrock, dem weißen T-Shirt und den braunen Sandalen im skandinavischen Stil. Ihr Haar war glatt gekämmt, und die roten Strähnchen glühten in der Sonne. Sie nahm einen weiteren, undamenhaft großen Bissen ihres Sandwichs, während Mary lustlos in ihrem Tunfischsalat herumstocherte. Judy aß für ihr Leben gern im Park, aber Mary fühlte sich dabei immer ein wenig wie auf dem Campingplatz.
»Was sagst du zu dem, was ich dir erzählt habe? Machst du dir nicht ein bisschen Sorgen um mich? Was ist, wenn ich verfolgt werde?«
»Hat er gesagt, dass er mit dir ausgehen will?«
Schluck. »Mach dich nicht lächerlich. Es war ein Geschäftstermin. Ich glaube sowieso, er ist verheiratet.«
»Denk dran, dass du heute Abend mit meinem Freund Paul verabredet bist. Gib ihm eine Chance.«
»Ich gehe nicht hin, und jetzt antworte mir endlich. Hast du gehört, was ich sage? Das mit dem Escalade und so. Machst du dir keine Sorgen?«
»Diesmal stiehlst du dich nicht davon. Du hast ihn schon zweimal versetzt.« Judy betrachtete sie über ihr Sandwich hinweg. »Und jetzt sag mal, was du dem Reporter alles erzählt hast. Wahrscheinlich bist du weit übers Ziel hinausgeschossen, und jetzt weißt du nicht, wie du das wieder gutmachen sollst, was du angerichtet hast.«
»Im Grunde habe ich ihm nur die Fakten über Amadeo mitgeteilt«, antwortete Mary, aber in Wahrheit fragte sie sich bereits, warum sie Mac so viel erzählt hatte. Sie fühlte sich erbärmlich. Sie sank auf der Bank zusammen und beobachtete einen jungen Mann, der vorbeikam. Der Hund, den er spazieren führte, wedelte mit seinem buschigen Schwanz.
»Hast du ihm das mit dem Wäschenetz erzählt?«
»Ja.«
»Und das mit den Kreisen?«
»Äh, ja. Er wusste nicht, was sie bedeuten könnten.«
»Du hast sie ihm gezeigt?«
»Ich dachte, dass ihm vielleicht etwas dazu einfällt.«
»Es sind einfach nur Kritzeleien, wie Cavuto gesagt hat.« Judy hatte sie gesehen, und ihr war auch nichts dazu eingefallen. »Aber das mit den Haarlocken hast du ihm nicht gesagt, oder?«
»Äh, doch.«
Judy stöhnte. »Hast du verlangt, dass er dir die Geschichte zeigt, bevor er sie veröffentlicht? Das hättest du tun sollen.«
»Ich hab’s aber nicht getan.« Marys Appetit war endgültig verschwunden. Sie schloss den Styropordeckel ihrer Salatbox und verstaute sie wieder in ihrer Tasche; später würde sie sie in den Bürokühlschrank stellen, bis sie sie in drei Tagen wegwerfen konnte. Sie schaffte es einfach nicht, Essen zu verschwenden, solange das Verfallsdatum noch nicht erreicht war. »Ich weiß, dass es vielleicht dumm gewesen ist, aber ich glaube, ich wollte einfach über Amadeo reden. Es wäre nicht das Schlimmste, wenn ein paar Leute auf ihn aufmerksam würden. Er hat es verdient.«
»Er hat es verdient?« Judy legte ihr Sandwich hin, drehte sich um und sah Mary direkt ins Gesicht. »Mare. Ich verstehe ja, dass es die Hölle für dich war, als Mike umgekommen ist, aber ehrlich gesagt, das hier geht mir ein bisschen zu weit. Seit der Tobende Tom angerufen hat, reagierst du, als wärst du völlig durchgeknallt.«
»Du kriegst die einstweilige Verfügung, oder?«, fragte Mary, aber Judy ging nicht darauf ein.
»Darum geht’s jetzt nicht. Lass uns mal zusammenfassen. Der Escalade ist ein gängiges Auto. Akten aus dem Jahr 1942 sind normalerweise schwer aufzutreiben. Jede Menge großer Männer hat Akne, und du weißt nicht, ob dein großer Mann mit Akne derjenige war, der bei der koreanischen Dame geklingelt hat.«
»Er hat nach mir gefragt!«
»Er hat nach jemandem gefragt, das ist alles. Oder vielleicht ist er an dir und Brandolini interessiert. Schließlich war sogar ein Reporter an dir und Brandolini interessiert, und er ist kein Mörder. Mein Gott, wie viele deiner Onkel reden über dich!«
»Aber was ist mit den Kaufverträgen?«
»Vielleicht hat Giorno Brandolini einen Gefallen getan und bekam den Rest als Gebühr von ihm. Es ist durchaus vorstellbar, dass ein Anwalt etwas für einen Mandanten tut, besonders zu dieser Zeit. Vielleicht wollte ihm Giorno helfen. Du hast gesagt, er besaß viele Grundstücke in Süd-Philly.«
»Und warum hat Frank plötzlich keine Verwendung mehr für mich?«
»Vielleicht hat er einfach genug davon, sich ständig mit Brandolini zu beschäftigen!«, entgegnete Judy so scharf, dass ein Mann auf der Bank ihnen gegenüber von seinem Roastbeef aufsah.
Mary schwieg betroffen.
»Tut mir Leid«, seufzte Judy. Dann beugte sie sich mit Sorgenfalten auf der Stirn vor. »Mary, du weißt, dass ich normalerweise immer auf deiner Seite bin, aber das hier geht mir zu weit. Dass du in Brandolinis Haus warst und wie du dich da gefühlt hast. Und du läufst mit menschlichem Haar in deiner Tasche herum! Das ist makaber!«
»Es ist jetzt in einer Schublade in meinem Schreibtisch. Es gehört zur Akte des Falles.«
»Als Nächstes wirst du noch eine Séance halten.« Um Judys Himmelfahrtsnase erschienen kleine Fältchen, und Mary wurde rot vor Verlegenheit. Letzte Nacht, als sie nicht schlafen konnte, hatte sie tatsächlich daran gedacht. Judy fuhr fort: »Du bist zu nah an diesem Fall dran, zu nah an der Vergangenheit. Du beschäftigst dich zu viel mit alten Leuten und Geistern. Hör auf damit, ja? Deshalb will ich auch, dass du dich mit diesem Mann triffst.« Judy senkte ihre Stimme, bis sie nur noch ein Flüstern war. »Du gehst doch mit Paul aus, oder? Ihr habt eine Menge gemeinsam. Ihr werdet euch mögen. Du musst einfach mal einen Schritt weiterkommen.«
Mary schüttelte gekränkt den Kopf. Sie wusste, dass Amadeo sich irgendwie mit Mike vermischt hatte, dass alte Gefühle wieder in ihr aufgestiegen waren. Aber sie konnte nicht weitergehen, noch nicht. Sie wusste nicht, wie sie das tun sollte, und sie wollte es auch nicht.
»Mach nicht so ein Gesicht.« Judy kniff ihre blauen Augen zusammen. »Weißt du, auch wenn alles stimmt, was du sagst, mit dem Escalade und dem Ganzen, dann musst du nur umso dringender mit dem Fall aufhören, weil du in Gefahr sein könntest. Und wofür? Bewahrst du einen Unschuldigen davor, in den Knast zu kommen? Fängst du einen Mörder? So was würde ich noch verstehen. Aber das? Ich hab dir geholfen, dieses FBI-Memorandum zu suchen, weil ich geglaubt hatte, damit würde alles ein Ende haben, aber jetzt tut es mir Leid, dass ich mich darauf eingelassen habe. Alles in allem war es die Mühe einfach nicht wert.«
»Aber Amadeo –«
»Ist tot! Er ist tot und begraben. Nichts, was du tust, kann daran etwas ändern. Nichts kann ihn zurückbringen.« Judys helle Haut wurde dunkel vor Erregung, und Mary wusste, von wem sie redete.
Ich wünschte, das Gefühl würde verschwinden, dachte sie, aber sie sagte nichts.
»Du arbeitest die ganze Zeit nur an dem Brandolini-Fall, und die anderen haben das Nachsehen. Hast du dich um die eidlichen Erklärungen für Bennie gekümmert? Im Fall Alcor und Reitman?«
»Kommt noch.« Mary beobachtete eine junge Mutter, die mit einem kleinen Kind an der Hand auf sie zukam. Der Junge watschelte in einem blauen Strampelanzug und mit neuen weißen Schühchen den Gehsteig entlang. »Glaubst du, sie wird sauer auf mich sein?«
»Spinnst du?« Judys Stimme hatte jetzt wieder ihren vertrauten Ton; durch das Thema Chefin kamen sie einander wieder näher. Judys Stimmung hob sich, sie aß ihre gedämpften Karotten und öffnete dann eine zerknitterte schwarze Tüte mit Kartoffelchips, nach denen sie gerade süchtig war. »Aber sie wird es nicht gern hören, dass du mit dem Reporter gesprochen hast. Dazu hattest du keine Erlaubnis, und du weißt, was sie von der Presse hält.«
Mary schüttelte den Kopf. »Die Hälfte der Zeit schreit sie mich an, weil ich nicht genug Selbstbewusstsein habe, und die andere Hälfte schreit sie, weil ich Sachen mache, die sie mir nicht erlaubt hat.«
»Frauen!«
Mary sah zur Seite. Das Baby machte einen wackligen Schritt, reckte die Brust, schwang die Arme, blieb schwankend stehen und fiel dann auf seinen gut gepolsterten Hintern. Es folgte ein Lächeln aus zweizahnigem Mund. Mary sagte: »Weißt du, was dieser Reporter zu mir gesagt hat?«
»Was?« Judy steckte sich einen riesigen Chip in den Mund, von der Seite, wie eine Pizza, die in einen toskanischen Ofen geschoben wird. Es war kein schöner Anblick.
»Er sagte, ich sollte nach Montana fahren und mir Fort Missoula ansehen, das Internierungslager. Es ist immer noch da. Sie haben ein Museum daraus gemacht.«
»Du?« Judys Backen waren aufgeblasen wie bei einem monströsen Hamster, ihre blauen Augen weit aufgerissen. »Sollst nach Montana fahren?«
»Ja, ich. Natürlich ich. Ich soll nach Montana fahren.« Mary fühlte sich verletzt, obwohl sie dem Reporter gegenüber genauso reagiert hatte wie Judy jetzt. »Ich kann Amadeos Grab suchen.«
»Aber Montana! Es passt so gar nicht zu dir.«
»Warum nicht, Jude?« Mary wollte es wirklich wissen, weil sie ihr zustimmte und doch nicht damit einverstanden war.
»Ich sehe dich einfach nicht in dieser einsamen Gegend. Du gehörst absolut nach Philadelphia. Du warst im College in Philadelphia, du hast dein Juraexamen in Philadelphia gemacht, du bist hier aufgewachsen und hast dein ganzes Leben hier verbracht. Es ist, wie dein Vater es neulich beim Abendessen gesagt hat, weißt du noch?«
Mary erinnerte sich. Wo die Cowboys leben.
»Weißt du überhaupt, wo Montana ist?«
»Irgendwo links oben.« Mary beobachtete das Baby, das jetzt vor der Bank stand und die Hand seiner Mutter nicht mehr losließ. Es gab bei jedem Schritt reizende kleine, ächzende Geräusche von sich. Es konnte nicht älter sein als elf Monate, aber sein Wunsch zu laufen war sehr stark. Man sah es ihm an.
»Montana liegt direkt unterhalb von Westkanada, Calgary, und es grenzt an Idaho und Wyoming. Es gibt dort den Glacier-Nationalpark. Ein schönes Land. Berge, Ebenen, herrliche Bäche und Flüsse zum Forellenfischen, Hirsche, Elche, Antilopen. Hast du mal eine Antilope gesehen?«
»Klar. Sieht aus wie ein Hund mit Hörnern. Macht es dir eigentlich Spaß, den Oberlehrer zu spielen?«
Judy lächelte. »Montana ist toll. Es würde dir echt gefallen. In der Nähe von Butte bin ich mal mit meinem Vater angeln gegangen, und im Westen haben wir Bergwanderungen gemacht, ich und meine Geschwister.«
»Angeber.«
»Ich hab nicht gesagt, dass du nicht hinfahren kannst. Fahr hin.«
»Es ist ein freies Land.«
»Sicher.«
»Ich habe das Geld, ich kann mir ein Flugticket kaufen.« In Wahrheit hatte Mary noch nie in einem Flugzeug gesessen, was eines von drei Geheimnissen war, die sie ängstlich vor der Welt verbarg. Das zweite war, dass sie nicht schwimmen konnte. Schweigend beobachtete sie die schwankenden Schritte des kleinen Jungen, der direkt vor ihr vorbeiwatschelte. Ächz, ächz, ächz.
Auch Judy beobachtete das Baby. »Mare?«
»Was?«
»Hast du dafür bezahlt, dass dieses Kind hier vor uns entlangläuft?«
Mary brach in Lachen aus, und Judy lachte mit ihr, und in diesem Augenblick wurden sie wieder die besten Freundinnen. »Ist es nicht komisch, wie solche Dinge passieren? Manchmal denkt man über etwas nach, und dann passiert so etwas, und es scheint einen Zusammenhang zu geben. Wie wenn man ein Lied hört. Als ob jemand einem ein Zeichen geben würde.«
»Ich glaub nicht, Mary.«
»Solche Sachen passieren mir in letzter Zeit häufiger. Zeichen.«
»Nein. Es ist Frühling, und Frühling ist die Zeit, in der kleine Kinder und Lämmchen den Wunsch verspüren, herumzulaufen und zu springen. Es sind keine Zeichen. Nur Zufälle.«
»Vielleicht«, sagte Mary, aber sie glaubte trotzdem nicht, dass sie sich irrte oder dass springende Lämmchen irgendetwas damit zu tun hätten.
»Weißt du, wenn du nach Montana fahren willst, solltest du es auch tun. Vielleicht findest du dort, wonach du suchst, und dann kannst du den Fall abschließen. Du musst Brandolini aus dem Kopf kriegen. Fahr. Du schaffst es.« Judy hielt inne. »Ich sag dir was. Wenn du dich entschließt zu fahren, halt ich dir den Rücken frei. Ich mach die Erklärungen für dich.«
»Wirklich?« Mary sah ihre Freundin an, aber Judy war schon wieder sie selbst, mit einem frechen Grinsen auf dem Gesicht.
»Also, fährst du?«
»Ich weiß nicht.« Flugzeuge. Cowboys. Montana macht mir Angst.
»Wenn ich die Erklärungen für dich schreibe, musst du mir den Gefallen natürlich zurückzahlen.«
»Womit?«, fragte Mary, aber sie kannte die Antwort bereits.