Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 13
9
ОглавлениеMary stand auf der Fußmatte, und eine ältere, asiatisch aussehende Frau spähte hinter der Tür hervor und blinzelte in die Sonne, die ihr ins Gesicht schien. Verlegen wanderte ihre Hand zur Knopfleiste eines dünnen, mit fröhlichen roten Karos bedruckten Hauskleids. Mary stellte sich vor. Dann sagte sie: »Könnte ich wohl eine Minute ins Haus kommen? Ich kannte jemanden, der vor langer Zeit hier gewohnt hat.«
»Kommen, ja, kommen herein«, sagte die Frau leise und mit starkem Akzent. Ihr rabenschwarzes Haar war an den Schläfen stahlgrau und mit der Schere zu einer lieblosen, kinnlangen Frisur geschnitten worden. Ihre dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, und scharfe Falten zogen sich von ihrer Nase zum Kinn. Doch ihr kleiner Mund bog sich zu einem außerordentlich liebenswürdigen Lächeln, als sie mit einer leichten Verbeugung die Tür weit öffnete. »Kommen herein.«
»Vielen Dank.« Mary trat über die Schwelle. Sie fühlte sich ein wenig aufdringlich, doch das Gefühl war nicht stark genug, um sie wieder hinauszutreiben. Amadeos Haus. »Ich will mich nur ein wenig umsehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Nein, nein, kommen, bitte«, wiederholte die Frau, die die Tür wieder schloss und die Riegel einschnappen ließ.
Mary sah sich um. Das Wohnzimmer war etwa dreißig Quadratmeter groß, ein schmales Viereck, etwa so groß wie das Wohnzimmer im Haus ihrer Eltern. Die Anordnung der Zimmer war auch gleich: Wohnzimmer, Esszimmer und Küche lagen nebeneinander, wie die Perlen eines Rosenkranzes. An der Ostwand war die Treppe, die in den ersten Stock führte; dort musste Theresa gestürzt sein. Mary unterdrückte eine Aufwallung von Trauer und sah nicht mehr hin. Das Wohnzimmer war aufgeräumt, sauber und einfach möbliert mit einer alten Couch, zwei Polstersesseln und einem niedrigen Eichentisch. Aus der Küche kam der vertraute Geruch von starkem Kaffee und Rührei, aber hier endete die Ähnlichkeit zwischen diesem und dem Haus ihrer Eltern. Die Decke des Wohnzimmers hing in der Mitte durch, und an den Wänden zeigten sich Risse. Die mit großen goldenen Blumen bedruckte Tapete war an den Stellen verblasst, wo die Südsonne sie zu oft beschienen hatte. Mary fiel ein, was Frank über sein Büro gesagt hatte: Jahrelang hat kein Mensch hier etwas gemacht. Merkwürdigerweise konnte man sich dadurch umso besser vorstellen, wie das Haus ausgesehen hatte, als Amadeo und Theresa darin gelebt hatten.
Mary zeigte zum Esszimmer. »Darf ich da hinein?«
»Ja, ja«, antwortete die Frau fast flüsternd.
»Danke.« Mary konnte nicht leugnen, dass sie aufgeregt war. Sie konnte sich Amadeos kräftige Gestalt vorstellen, wie er ins Esszimmer hinüberging. Es war ein weiteres schmales Viereck, aber es wurde heute nicht mehr als Esszimmer benutzt. An der Wand, wo bei Marys Eltern der große Tisch stand, war ein Bett, dessen abgenutzter Chenille-Überwurf säuberlich unter die Matratze gesteckt worden war. Ein Pappkarton diente als Nachttisch, auf dem eine gelbe Lampe und ein Wecker standen. Mary war gerührt, als die Frau ihren Ellbogen berührte.
»Kommen, kommen«, flüsterte sie und führte Mary weiter, eifrig wie ein Immobilienmakler.
Sie gingen in die Küche, die völlig heruntergekommen war. Braune Wasserflecken an der Decke, und der Linoleumboden war herausgerissen worden, so dass der schmutzige, mit braunen, geschlängelten Klebelinien bedeckte Estrich bloßlag. In der Mitte standen ein Plastiktisch und ein roter Plastikstuhl. Mary wusste, dass die Küche zu Amadeos Zeiten ganz anders ausgesehen hatte. Sie sah Amadeo vor sich, wie er in einem frischen weißen T-Shirt an seinem Tisch saß, aus einer kleinen Tasse einen Espresso schlürfte und mit Theresa redete, die am Herd stand. Mary konnte beinah ihre Anwesenheit spüren.
»Kommen, kommen«, sagte die Frau und führte Mary aufgeregt zur Hintertür, die mit mehreren Riegeln gesichert war. Sie öffnete sie, und Mary sah den Hinterhof.
Sie zog tief die Luft ein vor Überraschung. Über dem Hof hing ein Netz aus verwitterten Seilen in einem komplizierten Zickzackmuster, eine Decke wie ein flächiger, glanzloser Diamant. Mit altmodischen Klammern war Wäsche an den Seilen befestigt; dünne weiße Socken, ausgebeulte Hosen, verschieden gemusterte Blusen, Pyjamas und eine Reihe von Handtüchern. Es war die ungewöhnlichste Wäscheleine, die Mary je gesehen hatte.
»Wunderbar!«, sagte sie. Die Frau nickte freudig und schlurfte zu einer Seite. Eine rostige Kurbel, die Mary vorher nicht gesehen hatte, steckte im Zaun, und die Frau drehte sie.
Plötzlich bewegten sich die Kleidungsstücke und Tücher über ihren Köpfen in diese und jene Richtung, je nach der Bewegung der Kurbel. Wasser tröpfelte von dem dynamischen Baldachin herab, und Mary klatschte unwillkürlich in die Hände. Die alte Frau lachte und drehte die Kurbel immer schneller, wodurch die Wäsche sich immer schneller in alle Richtungen bewegte. Es war keine Wäsche, es war ein Zaubertrick, und die alte Frau lachte vor Vergnügen. Auch Mary lachte. Und dann begriff sie.
Die Seile. Sie beobachtete die herumwirbelnden Kleidungsstücke und die Seile, zwischen denen Wassertropfen sprühten. Das Muster, das die Seile bildeten, war kein Diamant, sondern es waren mehrere aneinander stoßende Vierecke. Und das Ganze sah weniger wie ein Baldachin aus als vielmehr wie ein Netz, ein Fischernetz. Neu aufgespannt und an einer Kurbel befestigt, umfunktioniert zu einem komplexen Wäschenetz. War das möglich? Aus einer so weit zurückliegenden Zeit? Alt und verwittert genug sahen die Seile allerdings aus.
Unvermittelt hörte Mary auf zu lachen. Wie viele Leute hatten seit Amadeo in diesem Haus gewohnt? Es konnten nicht so viele gewesen sein. Die Leute in dieser Gegend zogen nicht oft um, hatten wenig Lust, sich von einem Haus zu entfernen, in dem ihre Familie eine Bleibe gefunden hatte. Marys Eltern waren typisch für Süd-Philly; in dem Haus in der Mercer Street, in dem sie aufgewachsen war, hatte schon ihre Mutter ihre Kindheit und Jugend verbracht. Und selbst wenn dieses Haus ein paarmal den Besitzer gewechselt hatte – wer würde einen gut funktionierenden Apparat wie diesen herunterreißen? Er war nützlich und originell, und er machte Spaß. Amadeo hat ihn sich für Theresa ausgedacht. Mary wusste es; sie fühlte es in ihrem Inneren. Gerade als sie die Frau danach fragen wollte, hörte sie einen Schrei von der Tür.
Die Kurbel stoppte, die Wäsche bewegte sich nicht mehr, und Mary drehte sich um. Ein junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren stand im Eingang. Das Haar vom Schlaf zerzaust, schrie er der Frau, die sich in einer Ecke zu ducken schien, auf koreanisch etwas zu. Er war schlank und trug nur Boxershorts, doch seine Nacktheit schien ihn nicht zu kümmern. Mit einem wütenden Blick wandte er sich Mary zu.
»Was machen Sie mit meiner Mutter?«, wollte er wissen. »Sie haben mich aufgeweckt!«
»Es tut mir Leid, wirklich, es tut mir sehr Leid.« Mary hörte nicht auf, sich zu entschuldigen. Vielleicht war das in diesem Moment eine Stärke? »Ich wollte nur das Haus sehen und ihr ein paar Fragen über einen früheren Besitzer stellen, sein Name war –«
»Ach, Sie sind das!« Der junge Mann hob die Hände in die Luft. »Sie haben schon nach Ihnen gefragt. Ob Sie hier gewesen sind. Kennen Sie diesen Typen mit den Aknenarben?«
Mary fröstelte. Typ mit Aknenarben. Der Escalade-Fahrer. »Nein, nein. Ich kenne ihn nicht. Ich heiße –«
»Ist mir egal. Ich brauche meinen Schlaf, ich arbeite die ganze Nacht. Gehen Sie!« Der junge Mann wandte sich wieder seiner Mutter zu und schrie sie an, und Mary fröstelte. Was ging hier vor? Und was war mit dem Wäschenetz? Die Kleider tropften noch von ihrer fröhlichen Rundfahrt.
»Es tut mir Leid. Ich gehe sofort«, sagte Mary. »Ich möchte nur noch wissen, ob Sie diese Wäscheleine hier gemacht haben.«
»Nein!«
»Wie lange wohnen Sie schon hier?«
»Fünfzehn Jahre, sechzehn, das geht Sie gar nichts an. Hören Sie, ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Ich muss wieder ins Bett. Gehen Sie jetzt. Gehen Sie!«
»War dieses Wäschenetz schon hier, als sie eingezogen sind?«
»Gehen Sie, habe ich gesagt! Oder soll ich die Polizei rufen?«, schrie der Mann. Dann ging er auf seine Mutter los.
»Warten Sie, halt!« Mary hielt ihn auf. Sie konnte es nicht ertragen, mitanzusehen, wie er seine Mutter behandelte. Ihre eigene Mutter hätte sich zur Wehr gesetzt, den Mann mit dem Kochlöffel geschlagen, bis er Vernunft annahm. »Beruhigen Sie sich. Bitte. Es tut mir Leid, und ich gehe sofort.« Sie wandte sich zur Tür, dann aber kam ihr ein Gedanke. Sie drehte sich auf dem Absatz herum, verbeugte sich vor der älteren Frau und gab ihr die Kuchenschachtel. »Bitte nehmen Sie das, mit meinem Dank. Sie sind sehr freundlich gewesen.«
Die Frau nahm die Schachtel und verbeugte sich ihrerseits mit einem schüchternen Lächeln.
»Was ist in der Schachtel?«, fragte der junge Mann herrisch.
»Torta Reginetta«, antwortete Mary, und weil er ihr seine Worte nicht übersetzt hatte, übersetzte sie ihm das Wort auch nicht. »Und wenn dieser Typ mit den Aknenarben wiederkommt, sagen Sie Ihrer Mutter, sie soll ihn nicht hereinlassen.«
»Warum?«
»Er ist gefährlich«, entgegnete Mary, ohne genau zu wissen, warum.