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Im Rathaus von Philadelphia wurde renoviert, aber im Flur vor Zimmer 154, wo das Grundbuchamt residierte, merkte man nichts davon. Dunkler Linoleumboden mit blauen Streifen lag auf dem Boden, in den Wandnischen sah man verbogene Drähte und Lampen, die einen Wackelkontakt hatten; und über der halb hohen Wandverkleidung aus braunem Marmor brauchten die Mauern dringend einen frischen blauen Verputz. Mary saß mit den anderen Mitgliedern der Bürgerschaft auf einer dünn gepolsterten Bank und wartete darauf, zum Schalter gerufen zu werden, wo große Computerbildschirme aufgereiht waren. Sachbearbeiter hinter den Schaltern sprachen mit den Auskunft suchenden Menschen, und der Lärm der Gespräche wurde übertönt vom Klingeln der Telefone, dem Ächzen der schweren Tür und einem Radio, aus dem Hiphop erklang.

Mary hatte einen rosafarbenen Zettel mit der Nummer 82 in der Hand. Über ihr leuchtete eine elektronische Tafel auf, mit der ihre Nummer übereinstimmen musste. Im Augenblick war die Nummer 81 an der Reihe. Sie hätte direkt zur Arbeit gehen sollen, doch nach dem, was sie in der Nutt Street gesehen hatte, hatte sie sich den kleinen Umweg hierher nicht verkneifen können. Sie wollte wissen, ob das Wäschenetz wirklich von Amadeo war.

»Zweiundachtzig! Nummer zweiundachtzig, bitte!«, rief ein Sachbearbeiter, und Mary stand auf und ging zum Schalter. Der Mann war hochgewachsen und schwarz, mit hellen braunen Augen und einem bereitwilligen Lächeln. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss herausfinden, wem ein bestimmtes Haus einmal gehört hat.«

»Kein Problem. Zuerst schauen wir mal nach, was die Flurstücknummer ist«, sagte der Mann und drehte den Bildschirm zu sich her. Mary gab ihm die Adresse, und er rief sie auf. »Wie weit wollen Sie zurückgehen? Letztes Jahr, vorletztes Jahr?«

»Ich möchte alle Eigentümer erfahren, von 1900 bis heute.«

Der Sachbearbeiter zog die Brauen hoch. »Die meisten Leute brauchen nur eine Kopie der jetzt gültigen Urkunde.«

Die haben ja auch nicht meine Probleme. »Ich führe eine Recherche durch.«

»Dann müssen Sie mir zuerst Ihren Ausweis zeigen«, sagte der Mann, und nachdem Mary ihn aus der Tasche gezogen hatte, holte er einen Umschlag mit Mikrofilmen, auf denen man viele Reihen winziger schwarzer und weißer Fenster erkennen konnte. Er deutete auf das andere Ende des Raums. »Die Geräte sind da drüben. Und bitte machen Sie das Licht aus, wenn Sie fertig sind.«

»Danke«, sagte Mary und beeilte sich, an die Lesegeräte zu kommen: zwei große Kästen mit einem riesigen Firmenschriftzug an der Stirnseite, der wahrscheinlich vor dreißig Jahren futuristisch ausgesehen hatte. Sie schaltete das Licht ein, legte ihre Tasche auf den Stuhl neben ihr und schob den Mikrofilm auf einen Glasträger voller fettiger Fingerspuren. Dann stellte sie mittels eines Rades die Schärfe ein und las die erste Urkunde.

KAUFVERTRAG, hieß es in der Überschrift, und das Datum lautete 19. Dezember 1986. Ein paar Zeilen darunter stand als Verkäufer LEE SAM und als Käufer MI-JA YUN. Das war somit die neueste Kaufurkunde, und Mi-Ja Yun musste der Name der älteren Koreanerin sein, die sie in das Haus hineingelassen hatte. Mary las die Beschreibung des Hauses, um sicherzugehen. Ja, es handelte sich um genau dieses Haus. Als Nächstes kam der Kaufpreis: sechzigtausendzweihundertdreiβig Dollar, null Cent.

Mary bewegte den Träger nach rechts, und der vorletzte Kaufvertrag erschien auf dem Bildschirm. Das Datum lautete auf den 2. November 1962. Sie überflog ein paar Zeilen. Verkäufer war LI-PAK, Käufer LEE SAM, und der Kaufpreis betrug zweiunddreißigtausend Dollar.

Die Schrift der nächsten Urkunde sah etwas altmodischer aus, das Titelblatt trug Verzierungen. KAUFVERTRAG stand in der ersten Zeile, das Datum war der 18. April 1952. Als Verkäufer waren JOSEPH und ANGELA LOPO eingetragen, Käufer war LI-PAK. Kaufpreis war achtzehntausend Dollar. So weit, so gut. Mary näherte sich der Zeit, in der Amadeo der Eigentümer gewesen war. Wenn es nicht sehr viel mehr Eigentümer gegeben hatte, war es wahrscheinlich, dass das Wäschenetz ihm gehört hatte. Sie hatte nicht gedacht, dass es so einfach sein würde. Detektivarbeit konnte auch Spaß machen!

Die nächste Urkunde erschien auf dem Bildschirm. Verschnörkelte Schrift und das Datum: 28. November 1946. Warm, aber noch nicht heiß. Sie ging rasch zu der Zeile über, in der der Verkäufer stand. JAMES und MARIA GIANCARLO, und der Käufer: JOSEPH und MARIA LOPO. Der Kaufpreis hatte zwölftausend Dollar betragen. Der vierte Eigentümer. Der nächste musste Amadeo sein. Wenn es nur vier Eigentümer gab, war es auch äußerst wahrscheinlich, dass das Wäschenetz so lange intakt geblieben war. Und die nächste Urkunde würde ihr mitteilen, was nach seinem Tod mit dem Haus geschehen war. Ein geisterhaftes weißes Viereck tauchte auf dem Schirm auf, und Mary musste lange drehen, um die verschwommene Schrift lesen zu können.

HYPOTHEKENBANK VON PHILADELPHIA, lautete eine Zeile, und darunter stand JAMES und MARIA GIANCARLO. Also hatte es eine Zwangsvollstreckung gegeben, und das Datum auf der Urkunde lautete auf den 18. August 1942. Mary hielt inne. Einen Monat, nachdem Amadeo gestorben war, war das Haus bei einer Zwangsversteigerung verkauft worden. Sie las den Kaufpreis: fünftausendsechshundertundzwanzig Dollar. Ein schweres Gewicht machte sich in ihrer Brust bemerkbar. Sie schob den Träger weiter.

KAUFVERTRAG, hieß es in überheblichen schwarzen Blockbuchstaben, und darunter stand das Datum: 3. Juni 1940. Mary überflog einige Zeilen, bis sie den Namen des Verkäufers fand, und ihr Herz setzte aus: JOSEPH GIORNO. Sie las den Namen noch einmal. Joe Giorno, Amadeos Anwalt? Der Gründer der Kanzlei Giorno & Locaro, später Giorno & Cavuto, hatte Amadeos Haus verkauft? Sie überprüfte die Zeile, in der der Käufer stand, und es stimmte: AMADEO und THERESA BRANDOLINI. Der Preis des Hauses betrug neunhundertundzweiundachtzig Dollar.

Mary las die Urkunde noch einmal und schüttelte den Kopf. Warum hatte Frank ihr nichts davon gesagt? Wusste er davon? Sie ging zur nächsten Urkunde, um zu sehen, wie Giorno zu dem Haus gekommen war. Dann weiteten sich ihre Augen ungläubig. Der Kaufvertrag war auf den 2. April 1940 datiert – weniger als zwei Monate, bevor Giorno Amadeo das Haus verkauft hatte. Der Käufer war tatsächlich JOSEPH GIORNO, und der Verkäufer ein gewisser GAETANO CELLI, ein Name, der Mary nichts sagte. Doch dann fiel ihr Blick auf den Kaufpreis: zweitausendunddreiundzwanzig Dollar, null Cent.

Mary ging noch einmal zurück, um die vorangegangene Urkunde zu prüfen. Doch, sie hatte es richtig im Gedächtnis behalten. Der Kaufpreis auf dem Vertrag Celli-Giorno war höher als der auf dem Vertrag Giorno-Brandolini - mit anderen Worten, Joe Giorno hatte bei dem Verkauf des Hauses an Amadeo einen riesigen Verlust gemacht. Sie dachte darüber nach. Warum, in aller Welt, sollte jemand für zweitausend Dollar ein Haus kaufen, um es zwei Monate später etwa zum halben Preis wieder zu verkaufen? Mary wälzte alle möglichen Gedanken in ihrem Kopf, aber sie begriff es nicht, umso weniger, als Giorno angeblich einer der knauserigsten Männer auf dem Planeten gewesen war. Auch die Weltgeschichte konnte zu dieser Zeit keinen Einfluss auf den Preis des Hauses gehabt haben; erst am 7. Dezember 1941 war Pearl Harbor bombardiert worden. Dieser Fall wurde immer seltsamer. Mary schaltete das Gerät und die Lampe aus, nahm den Umschlag mit den Mikrofilmen und packte ihre Sachen zusammen.

Sie musste dringend in die Kanzlei.

Tote ruhen nicht

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