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»Geh weg«, sagte Mary, ohne aufzusehen. Nach einem weiteren ganzen Lesetag saß sie an ihrem üblichen Platz im Konferenzzimmer. Sie hatte Amadeos Akte immer noch nicht gefunden, und es lagen noch drei Milliarden Dokumente vor ihr. Viele Anwälte wären vor der Aufgabe zurückgeschreckt, aber nicht Mary. Sie war in Süd-Philly aufgewachsen, wo sie gelernt hatte, ihren Kaugummi knallen zu lassen, hohe Absätze zu tragen und Überstunden zu machen. Eine dieser Fähigkeiten würde sich später im Leben als nützlich erweisen. Rate mal, welche.

»Komm schon, du brauchst eine Pause«, rief eine Stimme von der Schwelle. Judy Carrier, Kollegin und beste Freundin. »Lass uns rausgehen, es ist Zeit fürs Abendessen!«

Mary beendete die Lektüre des Dokuments und ging zum nächsten über. Nur noch 2 999 999 999. Wenn ich nie mehr was esse, kann ich noch vor den Wechseljahren damit fertig sein. Jippie!

»Es ist fast sieben. Hast du keinen Hunger? Ich sterbe vor Hunger.«

»Weil du zu viel herumgelaufen bist. Sitz still. Arbeite.« Mary wusste, dass es völlig sinnlos war, das zu sagen. Judy Carrier war aus Nordkalifornien, wo sie nur so zum Spaß Berge bestiegen hatte. Mary begriff das nicht. Sie hatte mal ein Foto von Judys Familie gesehen. Alle Familienmitglieder hatten Gürtel und Seile getragen und Steigeisen an den Füßen gehabt. Mary hatte geglaubt, sie würden damit Hochspannungsmasten hinaufklettern, um Leitungen zu reparieren.

»Lass uns über die Straße gehen und Sushi essen. Ich hab gehört, dass dieser Supertyp von Dechert auch dorthin geht, er heißt Nicastro. Louis Nicastro.« Judys Gesicht hellte sich auf. »Er muss Italiener sein wie du!«

»Dann gehören wir zusammen. Du kannst uns ja schon mal beim Standesamt eintragen.«

»Und außerdem – wenn wir jetzt gleich gehen, können wir zurück sein, wenn der Tobende Tom wieder anruft. Huhu!« Judy hatte Mary den ganzen Tag damit aufgezogen und eine Schachtel mit Beruhigungstabletten auf ihren Schreibtisch gelegt.

»Das ist wirklich sehr hilfreich. Verschwinde und lass mich arbeiten. Los, geh.«

»Danke. Na schön.« Judy kam ins Konferenzzimmer und ließ sich in einen Drehstuhl fallen.

Mary sah leicht verärgert auf. Judy war auf eine offene, typisch amerikanische Weise hübsch, hatte runde, hellblaue Augen, eine kleine, gerade Nase und ein entspanntes, optimistisches Lächeln. Ihr kinnlanges Haar hatte sie vor kurzem kanariengelb gefärbt – genau die Farbe der Notizblöcke, die sie in der Kanzlei verwendeten. Mary hoffte, dass diese Tatsache reiner Zufall war. Und im Gegensatz zu Marys konventionellem, marineblauem Kostüm trug Judy ein T-Shirt mit Batikmuster, ausgefranste Jeans und gelbe Clogs, die aussahen wie überdimensionale Bananen. Es sollte wohl ein lässiger Business-Look sein, sah aber eher aus wie ein Clownskostüm. Diese Meinung behielt Mary allerdings für sich. Beste Freundinnen wissen, wann sie den Mund halten müssen. »Du willst also die ganze Zeit dasitzen und mich anglotzen?«

»Ich brauche dich eben.«

»Du verrücktes Huhn.«

»Wann gehen wir essen?«

»Wenn ich mit Amadeos Akte fertig bin.« Mary hielt das Papier hoch, das sie gerade gelesen hatte. »Das hier sind Inventarlisten und Bankaufstellungen von anderen Internierten. Wenn ich seine Inventarliste finde, werde ich erfahren, was mit seinen Booten passiert ist.«

»Hilft dir das weiter?«

»Wenn ich die Spur seiner Boote erst einmal habe, kann ich den Verlust geltend machen. All das Geld, das er in sein Geschäft gesteckt hat, und er hat alles verloren, als er interniert wurde. Wenn man den Korematsu-Fall liest, erfährt man alles über Brennans Vorgehensweise. Das gehört dazu.«

»Natürlich, aber die entscheidenden Leute waren in diesem Fall Murphy und Jackson. Du und Bennie, ihr versteht das immer falsch. Brennan war zu dieser Zeit nicht mal vor Gericht anwesend.« Judy lächelte. »Aber die Gerechtigkeit kann bis nach dem Essen warten.«

Mary wusste, dass Judy das nicht ernst meinte. Ihre Freundin hatte immer alle wichtigen Fälle und Paragraphen im Kopf. Sie hatte das Examen als Beste ihres Jahrgangs abgeschlossen, hatte als Chefredakteurin der hochangesehenen Law Review gearbeitet und war Assistentin des Obersten Richters des Neunten Revisionsgerichts gewesen; deshalb war sie in der Lage, jeden in der Kanzlei zu korrigieren, vor allem diejenigen, die für ihr Haar nur eine einfache Pflegespülung verwendeten.

»Warte mal«, sagte Judy, als sie sich die auf dem Tisch verstreuten Dokumente näher ansah. »Du musst diese Dokumente im Nationalarchiv gelesen haben. Da hast du sie doch auch kopiert. Hast du die Brandolini-Akte da nicht gesehen?«

»Nein, aber ich muss mich noch mal vergewissern. Vielleicht habe ich sie einfach übersehen. Sie muss da sein.« Mary griff nach den nächsten Papieren und schickte ein stilles Gebet zum heiligen Antonius, Patron aller verlorenen Fälle und Dokumente.

»Du sollst sie übersehen haben?« Judys blaue Augen weiteten sich ungläubig. »Du übersiehst doch nie etwas. Du bist das ordentlichste Mädchen, das ich kenne.«

»Außer bei den Unterlagen zum Korematsu-Fall. Beim Fotokopieren konnte ich mich nicht konzentrieren. Ich musste die richtigen Akten finden und konnte den Kopierer nur für jeweils fünf Minuten benutzen. Es gibt dort so viele Vorschriften, man muss alles doppelt und dreifach prüfen, und identifizieren und bekommt immer nur einen Ordner auf einmal.« Mary sagte nicht, dass die bloße Tatsache, sich im Nationalarchiv aufzuhalten, sie abgelenkt hatte. Das moderne Gebäude in Washington war ein passendes Gehäuse für die dokumentierte Geschichte ihres Landes. Jede Minute ihrer Recherche dort hatte sie genossen, alles hatte ihr gefallen, besonders die fröhlichen roten Bleistifte, die man kostenlos bekam, und das Schild, auf dem feierliche Lettern verkündeten: DIES IST DEIN ERBE!

»Du verschwendest deine Zeit, Mare.«

»Meine Zeit ist ganz offiziell wertlos. Dieser Fall ist pro bono, erinnerst du dich?« Mary las den Brief zu Ende, der wieder einmal NUTZLOS war. Sie griff nach einem Klebezettel, drückte ihn darauf und schrieb statt NUTZLOS zur Abwechslung BRINGT NICHTS darauf.

»Okay. Gut. Dann kommt jetzt eben Plan B zum Tragen.« Judy holte eine Tafel Mandelschokolade aus ihren Jeans, wickelte sie aus dem Silberpapier und biss herzhaft hinein, so dass mehrere Stücke in ihrem Mund landeten. Sie ließ sich nicht gern vorschreiben, wie viel sie sich nehmen durfte. Auch bei Schokoladetafeln nicht.

»Mach mir keine Schokoladeflecken aufs Papier«, sagte Mary, aber Judy aß bereits. Sie pickte immer zuerst die Mandeln heraus und sparte sich die nusslose Schokolade bis zuletzt auf. Es war einer ihrer Vollfett-Fetische. »Jude, hast du gehört? Das mit der Schokolade.« Mary legte ihren Brief beiseite und kritzelte BRINGT GENAUSO WENIG auf einen Klebezettel. »Fass nichts an.«

»He, was ist das?« Judy griff nach einem Stapel Papiere, aber Mary riss ihn ihr sofort aus der Hand.

»Bitte! Das sind Amadeos private Papiere.« Mary legte den Stapel auf ihre Seite des Tisches, aber als sie aufsah, griff Judy schon nach etwas anderem. »Halt! Das ist ein Original!«

»Was für ein Original?«

»Es ist ein Fremdenpass.« Mary bekam ihn zurück und war erleichtert, dass er keine Schokoladeflecken hatte. Es war ein rosafarbenes Heft, etwas größer als ihre Handfläche, und der verblasste Deckel war so weich wie der ihres alten Katechismus. Er trug einen runden roten Stempel mit dem Datum 6. März 1941. »Amadeo musste sich als Landesfeind registrieren lassen, obwohl sein Sohn für uns in den Krieg gezogen war. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Land seinen eigenen Menschen das angetan hat, zum Beispiel Amadeo. Es passt nicht zu Amerika.«

»Amadeo war kein Amerikaner.«

»O doch. Er hat dreißig Jahre hier gelebt. Er hat seinen eigenen Sohn geopfert, damit er für das Land kämpft. Wenn das kein Amerikaner ist, wer dann?«

»Aber er war nicht eingebürgert, oder?«

»Das ist kleinlich und legalistisch.«

»Ich bin Anwältin. Was erwartest du? Jetzt bitte keinen Rundumschlag.«

»Ich schlage nie. Wie muss eine Frau sein, die andere Leute dazu bringen will, zu glauben, sie würde keine Unterwäsche tragen?« Das klang verrückt, selbst für Mary, und Judy sah sie an, als sei sie reif fürs Irrenhaus. »Was ich sagen will, ist, dass ich katholisch bin, ja? Ich habe es gern, wenn sich die Unterwäsche unter den Kleidern abzeichnet.«

Judy hob die Hand. »Du hast Hunger, deshalb bist du so streitsüchtig. Also lass uns Gassi gehen und was essen.«

Mary nahm den Pass wieder in die Hand. Oben stand »Justizministerium der Vereinigten Staaten« und darunter »Identitätsnachweis«. Auf der linken Seite war ein Fingerabdruck aus schwarzer Tinte, auf der rechten ein Schwarzweißfoto von Amadeo Brandolini, der nicht schlechter aussah als ein Filmstar. Er hatte dunkle Augen unter einer vorspringenden Stirn, und sein voller Mund lächelte leicht. Sein dichtes schwarzes Haar glänzte; offensichtlich hatte er für das Treffen mit der Regierung, die er als seine eigene ansah, reichlich Pomade benutzt. Mary hielt das Foto hoch. »Sieht Amadeo nicht aus wie George Clooney?«

Judy betrachtete das daumennagelgroße Foto mit zusammengekniffenen Augen. »Nein, du Komikerin. Er hat keinerlei Ähnlichkeit mit George Clooney.«

»Doch, hat er.«

»Du wirst wirklich langsam bizarr. Bist du in ihn verliebt, oder was?«

»Rede keinen Unsinn.« Marys Blick wanderte zur rechten Seite des Passes, wo Brandolinis Körpermaße standen. Er war einen Meter zweiundsiebzig groß gewesen und hatte nur siebzig Kilo gewogen. Unter »Besondere Kennzeichen« hatte jemand geschrieben: »Narbe an der Stirn, linke Seite«. Er war am 30. August 1903 in Ascoli-Piceno geboren worden und hatte in Philadelphia in der Thompson Street Nummer 4933 gewohnt. Unter »Wohnhaft in den Vereinigten Staaten seit« hatte jemand geschrieben: »32 Jahre«. Mary schüttelte den Kopf. Zweiunddreißig Jahre in diesem Land, aber er hatte sich nie um die Einbürgerung bemüht, weil er nicht lesen und schreiben konnte. Das war sein Verderben gewesen.

»Wo hast du diesen Pass her? Der war nicht im Nationalarchiv, oder?«

»Nein, er war bei den persönlichen Hinterlassenschaften seines Sohnes Tony. Ich habe ihn von Frank Cavuto, dem Nachlassverwalter.« Mary betrachtete die letzte Seite des Passes. Auf der Linie, die die »Unterschrift des Passinhabers« verlangte, stand ein wackliges X. Daneben hatte jemand geschrieben: »Sein Zeichen.« Mary konnte nicht aufhören, dieses X zu betrachten. Das Unbekannte.

»Kinder!« Ein Schrei ertönte von der Tür, der sie beide auffahren ließ. Bennie Rosato stand in voller Lebensgröße auf der Schwelle, das dichte blonde Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt. Sie trug Jeans und ein T-Shirt ihres Rudervereins. Über der Schulter hing eine schwere Handtasche, und in der Hand trug sie einen schwarzen Koffer. Sie sah überhaupt nicht aus, als hätte sie einen Kater, und das war nur eine ihrer vielen übernatürlichen Eigenschaften, fand Mary. »Ich muss nach New York, zu einer Verhandlung am Montag. Es wird zwei Wochen dauern. Könnt ihr beiden Hübschen bis dahin die Stellung halten?«

»Kriegen wir dafür eine Gehaltserhöhung?«, fragte Judy mit einem Lächeln.

»Sehr lustig, Carrier. Jetzt pass auf, DiNunzio.« Die Chefin fixierte Mary mit ihren durchdringenden blauen Augen. »Ich habe zwei meiner Fälle auf deinen Schreibtisch gelegt. Sie müssen beide diese Woche eingereicht werden. Kümmere dich bitte darum. Danke.«

»Gut. Ja. In Ordnung.« Iigitt! »Was ist mit dem Tobenden Tom? Ich habe gehört, dass er heute wieder angerufen hat.«

»Ich war nicht am Apparat, und du gehst besser auch nicht dran, wenn ich weg bin. Er ist gestern Nacht nicht zu mir gekommen, oder? Und heute ist er nicht in der Kanzlei aufgetaucht. Siehst du, er wird es bald aufgeben. Das tun sie alle.«

Nicht der Tobende Tom. »Und was ist mit dem Mann an meinem Fenster?«, fragte Mary. Sie hatte letzte Nacht sehr schlecht geschlafen und konnte ihre miese Stimmung nicht einfach abschütteln. Selbst die Fernsehgymnastik heute Morgen hatte nichts geholfen.

»Es war ein Schatten.« Bennie schüttelte den Kopf. »Und jetzt sag mir, was es bei Alcor und Reitman Neues gibt. Ich hab gehört, sie sind aktiv geworden.«

»Nein, jetzt sind sie wieder ruhig.« Weil ich sie ignoriere.

»Ich will nicht, dass du deine ganze Zeit mit dem Brandolini-Fall verbringst, das habe ich dir bereits gesagt. Wir sind gerade erst dabei, uns vom letzten Jahr zu erholen, und dürfen jetzt nicht nachlassen.« Bennies Brauen zogen sich zusammen. »Nehmt euch ein bisschen Zeit, Ladies. Auch zahlende Mandanten verdienen Gerechtigkeit.«

»Ich verstehe. Gut.« Mary legte die Papiere vor sich hin, und Bennie gab dem Rücken von Judys Stuhl einen Tritt mit einem abgewetzten Joggingschuh.

»Carrier, fast hätte ich es vergessen. Auf deinem Schreibtisch habe ich dir die Akte der Neely Electric hinterlassen, mit meinen Anmerkungen. Ich brauche eine Zusammenfassung der letzten Urteile mit Zukunftsperspektive und Begründung als E-Mail bis Ende der Woche. Sag mir, dass das kein Problem ist.«

Judy lachte.

»Ausgezeichnet. Na gut, jetzt muss ich sehen, dass ich meinen Zug noch kriege. Ich hab Marshall gesagt, dass sie mich anrufen soll, wenn wir vom Tobenden Tom was hören. Ich habe alles im Griff. DiNunzio, vergiss die anderen Fälle nicht. Und Carrier, lass dich nicht noch mal piercen. Ciao, Kinder.« Bennie klopfte noch einmal aufmunternd an die Tür und verschwand. Die jungen Frauen schwiegen, bis sie das Ping des Aufzugs hörten, der Bennie nach unten trug; dann begannen sie hektisch zu reden.

»Du sollst dich nicht noch mal piercen lassen?« Mary beugte sich vor. »Was meint sie bloß damit? Und warum weiß sie so etwas vor mir?«

»Ich sag’s dir auf dem Weg zum Essen.« Judy sprang in ihre gelben Clogs und lief um den Tisch herum. Sie packte Mary am Ärmel ihrer Jacke und zwang sie, ihre Pumps anzuziehen. »Jetzt mal los, Süße! Raus! Du kommst jetzt mit mir zum Essen.«

»Nein, halt! Ich hasse Sushi!« Mary versuchte, sich zu wehren, aber es war NUTZLOS. Sie war ein Hydrant, aber Judy war ein tropischer Wirbelsturm.

»Wir essen kein Sushi.« Judy zerrte Mary in Richtung Tür. »Ich hab eine bessere Idee.«

»Besser, als irgendetwas zu piercen?«

»Ja!« Judy schob Mary zum Aufzug, brachte sie nach unten und zwang sie, mit ihr ein Taxi zu besteigen. Erst dann offenbarte sie ihr, wohin sie fuhren.

Und was sie gepierct hatte.

Tote ruhen nicht

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