Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 8
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ОглавлениеMary beäugte ihren neuesten Rendezvous-Partner, einen gewissen Jason Pagonis, während er die Speisekarte las. Er war hochgewachsen, ruhig und sogar ziemlich gutaussehend, mit kurz geschorenem schwarzem Haar und braunen Augen hinter einer modischen schmalen Brille. Sein Lächeln war freundlich, und er hatte gute Umgangsformen. Er war in ihrem Alter, offensichtlich bei guter Gesundheit und hatte gepflegte Zähne. Er trug ein schwarzes Sportsakko über einem schwarzen T-Shirt und Jeans. Kurz, es war nichts an ihm auszusetzen. Es würde Mary einige Mühe kosten, etwas zu finden, was gegen ihn sprach.
»Was nehmen Sie?«, fragte Jason mit einem unerwarteten Blick zu ihr.
Ertappt! Mary errötete. »Ich weiß nicht. Was ist hier zu empfehlen?«
»Alles. Ich liebe dieses Lokal. Der Koch heißt Masaharu Morimoto, er wurde im Gourmet schon öfter lobend erwähnt. Sie haben sicher von ihm gehört.«
»Klar.« Mary nickte.
»Ich liebe die Ausstattung hier, alles ist so ästhetisch. Interessant, nicht?«
»Finde ich auch.« Mary sah sich um. Sie hatte noch nie ein Restaurant wie dieses aus der Nähe gesehen, außer im Fernsehen. Tische und Stühle bestanden aus transparentem Plastik und wurden von innen mit farbigem Licht beleuchtet, so dass es aussah, als glühten sie. Und nicht nur das. Die Farbe der Tische und Stühle änderte sich dauernd. Marys Stuhl zum Beispiel war im Augenblick blau und färbte auch ihren Hintern blau, während er eben noch grün und davor hellgelb gewesen war. Mary war sich nicht sicher, ob ihr diese kräftigen Farben standen.
»Sie haben hier auch eine unglaublich gute Website.«
»Das glaube ich gern.« Mary misstraute Restaurants mit Websites. Aber eigentlich war sie heute allem gegenüber misstrauisch. Sie hatte den ganzen Tag gearbeitet, hatte ungefähr 129373 Dokumente gelesen, und der heilige Antonius hatte ihr Amadeos Akte immer noch nicht zurückgebracht. Konnte es wirklich sein, dass die Regierung sie hatte verschwinden lassen? Und stand die Regierung auch hinter dieser blödsinnigen Farborgie hier?
»Als Vorspeise nehme ich das Shira Ae.«
»Das nehme ich auch immer.«
Jason sah auf. »Sind Sie schon mal hier gewesen?«
»Nein, es war nur ein Scherz.«
»Ach so.« Er warf ihr einen mitleidigen Blick zu, und Mary gelobte augenblicklich, nie mehr einen Scherz zu machen. Scherze bedeuteten schlechter Stil, und alle würden über sie herfallen, wenn sie sich nach diesem Rendezvous wieder einmal bockig zeigte.
Jason sagte: »Shira Ae sind Spargel mit Sesamöl.«
»Hm.« Baff. »Was ist noch als Vorspeise geeignet?«
»Das Ishiyaki.«
Mary fragte sich, welche Sprache Jason sprach. Sie blinzelte auf die Speisekarte hinunter, konnte aber nichts lesen, weil das orangerote Glühen, das von dem Tisch ausging, ihr den Blick vernebelte. »Was ist das?«
»Es ist Gelber Klippdorsch auf Reis, und es schmeckt wahnsinnig gut. Und als Dessert nehme ich Togarashi.«
Mary blinzelte.
»Japanischer Süßkartoffelkuchen.«
»Wunderbar. Ich mag Kuchen. Kuchen verstehe ich. Kuchen ist großartig.« Mary klappte ihre Speisekarte zu, und Jason seine.
»Wunderbar.«
Jetzt, da alles so wunderbar war, wollte Mary gehen, aber sie wusste, dass von ihr erwartet wurde, dass sie Konversation machte. »Also, Sie haben in Stanford studiert. Und Anne war Ihre Kommilitonin?
»Ja. Wie geht’s ihr?«
»Sie macht gerade Urlaub. In St. Bart.« Kaum hatte sie das Thema Anne angeschnitten, merkte Mary, dass sie es gleich wieder fallen lassen musste. Ihre Kollegin Anne Murphy war das heißeste Mädchen, das je die juristischen Examina abgelegt hatte. Kein Mann, der an Anne dachte, würde den Wunsch haben, mit irgendjemand anderem in einem farbglühenden Restaurant zu sitzen. Mary wusste nicht, was sie sonst noch sagen konnte. Endlich fiel ihr etwas ein. »Sie haben für die Law Review gearbeitet, oder?«
»Ja, und dann hab ich gekündigt, weil ich mehr Zeit für meine Band gebraucht habe.«
Mary machte große Augen. Das Einzige, was noch cooler war, als für die Law Review zu arbeiten, war, bei der Law Review zu kündigen. »Sie hatten eine Band? Was für eine?«
»Beginner Foo Fighters. Ich spiele immer noch ein bisschen. An manchen Tagen klingen wir wie Wilco. Oder Spoon.«
»Spoon?«
»Indie Rock. Wie Flaming Lips. Je von ihnen gehört?«
»Nein.« Mary hatte keine Ahnung, worüber er sprach, und ihre Gedanken wanderten wieder zu Amadeo zurück. Wo war seine Akte? Aber sofort ermahnte sie sich selbst. Es ist kein gutes Zeichen, wenn man während eines Rendezvous ständig an die Arbeit denkt. Sie war sich sicher, dass das Ganze so nicht gemeint war.
»Und Vertical Horizon?«
»Wie? Nein.« Auf einmal kam ihr der Gedanke, dass sie Amadeos Akte vielleicht nie finden würde, dass es keine Dokumente mehr über ihn gab. Warum beunruhigte sie das so? Sie wusste es: Weil es dann so aussehen würde, als ob Amadeo nicht ins Gewicht fiel. Aber er fiel ins Gewicht. Jeder fiel ins Gewicht. Auch Mike, obwohl er nicht mehr da war. Sie liebte ihn immer noch. Schon vor langer Zeit hatte sie erfahren, dass man nicht aufhört, jemanden zu lieben, nur weil er tot ist.
»Und welche Musik mögen Sie, Mary?«
Hä?
»Mögen Sie Musik?«
»Natürlich.«
»Welche?«
Mary hatte nicht genug Zeit, sich die richtige Antwort zurechtzulegen, also musste die Wahrheit herhalten. »Sinatra«, sagte sie und sah den Satz Bitte überleg’s dir noch mal! hinter Jasons Augen aufblitzen.
»Frank Sinatra?«
Die Frage war so absurd, dass Mary nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Ich hab Frank Sinatra mal im Duett mit Bono gehört, es war wunderbar. Bono ist wunderbar, finden Sie nicht?«
Bono wünscht sich, er könnte Sinatra sein.
»Ich hab gehört, es gibt ein Wandgemälde von Frank Sinatra irgendwo in der Stadt.«
»Ja, Ecke Broad und Reed Street.« Endlich etwas, was Mary wusste. »Es ist fast sieben Stockwerke hoch. Es ist nach diesem Foto gemalt, wo er das Jackett über der Schulter trägt und den Hut schräg im Gesicht. Es ist toll.«
»Ich kenne dieses Foto nicht.«
»Ach so.« Wunderbar. Vielleicht war es nicht der beste Zeitpunkt, um auch noch einzugestehen, dass Mary jetzt, nach Yolandas Tod, das einzige Mitglied des Sinatra-Gedächtnis-Clubs unter fünfundsechzig war.
Sie schwiegen.
Mary sagte: »Auch von Mario Lanza gibt es ein Wandgemälde. Auch in der Broad Street, auf der Höhe der Dickinson Street.«
»Mario Lanza? Wer ist das?«
Autsch. Mary fühlte sich dumm, weil sie es wusste, und das war irgendwie komisch. »Mario Lanza war ein großer Tenor, und er stammt aus Philadelphia.« Sie unterließ es, ihm mitzuteilen, dass Mario Lanza der Liebling ihrer Mutter war und dass Vita seinen Klassiker »Be My Love« jahrelang immer wieder gespielt hatte, Sonntag für Sonntag, nach der Messe. Diese aussagekräftigen Details würde Jason Pagonis nie erfahren. Er verpasste die besten Teile der Unterhaltung. »Es gibt sogar ein neues Museum für ihn, in der Montrose Street.«
»Montrose Street, wo ist das?«
»In Süd-Philly.«
»Ich hab noch nie von ihm gehört«, sagte Jason überrascht. »Wann hat er gesungen? Wann ist er aufgetreten?«
»In den vierziger Jahren.«
»Sie meinen neunzehnhundertvierzig?«
Wieder wusste Mary nichts darauf zu sagen. Ja, Frank Sinatra.
»Das ist sehr lange her.«
Deshalb ist er ja ein Klassiker. Mary brach der Schweiß aus. Sie konnte sich einfach nicht entspannen. Sie brauchte einen Drink, aber sie trank nicht, besonders keinen japanischen Reiswein, der wie warmer Essig schmeckte und in Fingerhüten aus Porzellan serviert wurde. Sie waren einfach zu klein für italienische Nasen.
»Also gut.« Jason räusperte sich. »Anne hat mir gesagt, dass Sie an einem echt interessanten Fall arbeiten. Haben Sie Lust, mir davon zu erzählen?«
Nein. »Natürlich. Wir wollen Geld bekommen, Entschädigung für einen Mann, der während des Zweiten Weltkriegs interniert war und Selbstmord beging.«
Jasons Blick trübte sich. Selbstmord machte Männer nicht an, und Mary versuchte sogleich, es wieder gutzumachen.
»Ich bin im Nationalarchiv gewesen und hab mir all diese Dokumente angesehen, die noch mit Schreibmaschine geschrieben wurden. Sie waren von 1941 -«
Jason lachte leise.
»Was?«, fragte Mary und unterbrach sich. Es fiel ihr nicht schwer.
»Sie haben eine alte Seele.«
»Ja?«
»Hören Sie sich mal selbst zu.« Jason schwieg kurz. »Sie lieben alte Dinge. Alte Musik. Die Vergangenheit.«
Ist das so schlimm?, wollte Mary fragen, aber sie konnte es nicht, weil aus ihrer Kehle kein Ton mehr herauskam. Sie fühlte sich wie zusammengeschnürt und war plötzlich traurig. Traurig, weil sie hier mit Jason saß, traurig, dass sie sich seit Mikes Tod keinem Mann mehr zugehörig fühlte. Sie hatte aufgehört, irgendwo hinzugehören. Sie gehörte nicht einmal mehr zu ihrer eigenen Generation; irgendwie fühlte sie sich älter und jünger zur gleichen Zeit.
Dann dachte sie unerklärlicherweise an die geometrischen Figuren, die sie als Kind in der Schule hatte zeichnen müssen. Mehrere Teile, die sich überlappten und so ein Ganzes bildeten. Aber sie überlappte sich mit niemandem mehr. Sie blieb in ihrem eigenen Kreis, und sie hatte keine Ahnung, wie sie das ändern oder besser machen konnte. Alles, was sie wusste, war, dass sie mit jeder Faser wünschte, sie könnte heimgehen, die Kontaktlinsen herausnehmen und sich hinlegen.
»Möchten Sie jetzt bestellen?«, fragte die Bedienung, die an ihrem illuminierten Tisch auftauchte.