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ОглавлениеAm Montagmorgen ging Mary als Erstes zu Frank Cavuto, um ihm das FBI-Memorandum zu zeigen, das sie, Judy und der heilige Antonius gefunden hatten. In seiner Kanzlei saß sie ihm in einem glatten Ledersessel an seinem Schreibtisch gegenüber und wartete, bis er alles gelesen hatte. Er war glatt rasiert und roch nach einem Rasierwasser mit leichtem Pfefferminzaroma, und er trug einen Nadelstreifenanzug mit Weste, weil sich das für Anwälte in Süd-Philly noch immer so gehörte. In dieser Gegend war ein Mann stolz darauf, zur Arbeit eine Krawatte zu tragen. Eine Krawatte hieß, dass man die Highschool geschafft hatte.
»Interessantes Dokument, oder?«, fragte Mary, doch Frank hielt nur den Zeigefinger hoch, während seine großen braunen Augen die Zeilen entlangglitten. Er hatte den Kopf ein wenig hochgehoben und sah durch eine schwarzgeränderte Lesebrille. Sie fragte sich, warum er so lange brauchte. Es waren doch nur zwei Absätze.
Ungeduldig sah sie sich in seinem Büro um, in dem zu viele Möbel standen und das ein wenig schäbig und schmutzig wirkte wie die Kanzleien vieler Anwälte in diesem Stadtteil. Mit Testamenten, Verträgen und gelegentlichen Insolvenzverfahren verdienten sie gutes Geld, aber das zeigte sich nicht in der Ausstattung ihrer Kanzleien. Die Wände waren mit einer dünnen, billigen Täfelung bedeckt, es gab ein paar Urkunden von der juristischen Fakultät einer katholischen Universität in Wechselrahmen aus dem Kaufhaus. Darüber hinaus hingen dort Dankesschreiben diverser Klubs und karitativer Unternehmungen, die deutlich machten, dass Frank ein weiches Herz hatte.
Unter einem Gruppenfoto einer Mädchen-Volleyballmannschaft in roten Trikots war zu lesen, dass er diese Mädchen über ein Jahr lang gesponsort hatte. In der dritten Reihe der Mädchen stand die neunjährige Mary DiNunzio neben ihrer ehemals besten Freundin Marti Funnell. Ihr Gesicht wurde von einer undefinierbaren staubigen Pflanze verborgen, die sich auf Franks Schreibtisch dem Licht entgegenstreckte. Der Tisch selbst war dunkel furniert und übersät mit Briefen, Aktenordnern und Kassetten aus dem Diktiergerät. Es gab in dem ganzen Büro kein einziges Gesetzbuch. In Süd-Philly brauchte man keine Bücher, wenn man eine Krawatte trug.
Frank legte das Papier vor sich auf den Tisch und nahm die Brille ab. »Also, was sagten Sie?«
»Das FBI hat Amadeo im Lager abgehört. Überrascht Sie das nicht?«
»Doch, natürlich.«
»In dem Memorandum steht, dass Joe Giorno zu Amadeo kam, um ihm den Tod seiner Frau mitzuteilen. Hat Joe Amadeo vertreten?«
»Ich glaube, ja.«
Mary zog die Brauen zusammen. »Das hatten Sie mir noch nicht gesagt. Sie sagten, dass Sie seinen Sohn Tony vertreten, aber nicht, dass Joe Amadeo vertrat.«
»Ich hatte mich nicht daran erinnert, oder ich glaubte, es sei nicht erwähnenswert. Meine Kanzlei repräsentiert die Familie. Schon lange. Na und?« Frank zuckte die Schultern, was Mary zu der Vermutung Anlass gab, dass sie ihn zwar schon eine lange Zeit kannte, doch vielleicht nicht allzu gut.
»In welcher Beziehung stand Joe zu Ihrer Kanzlei?«
»Joe hat sie gegründet. Zuerst hieß sie Giorno & Locaro, dann wurde sie Giorno & Cavuto.« Frank lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Joe war derjenige, der dieses Gebäude hier auswählte und es zum niedrigstmöglichen Preis kaufte, was entscheidend war. Der Mann war einfach sagenhaft. Er besaß eine Menge Grundstücke hier, und er sah voraus, wie wichtig der Standort des Büros sein würde, verstehen Sie?«
»Natürlich.« Mary verstand. Die Kanzlei Giorno & Cavuto besetzte eine wichtige Ecke — dort, wo sich die Broad Street und die Columbus Street bei einem steinernen viktorianischen Haus trafen, das die Grenze des italienischen Viertels markierte. Das in der Zeit der Jahrhundertwende gebaute Türmchen des Hauses ähnelte einem Leuchtturm, besonders für die Leute aus Süd-Philadelphia, die noch nie einen Leuchtturm gesehen hatten. »Wie gut kannten Sie Joe?«
»Nicht besonders gut. Ich bin alt, aber so alt auch wieder nicht.« Frank lächelte. Er war etwa fünfundfünfzig, hatte eine Mähne aus dichtem schwarzem Haar, widerspenstig wie Wildschweinborsten und nicht mit Haarwasser geglättet. Krähenfüße tauchten auf, sobald er lächelte, was er so häufig tat wie ein Lokalpolitiker, und seine braunen Augen waren von dunklen, fast kreisrunden Schatten umgeben. »Joe war ein schlauer Mann, ein guter Anwalt. Und immer musste alles billig sein! Ja, er war der knauserigste Mann auf dem Planeten.«
»Wie das?«
»Als ich kam, musste ich zuerst alle Installationen und die ganze Elektrik erneuern. Alle drei Stockwerke neu streichen. Einen neuen Boiler einbauen lassen, neue Toiletten, denn die alten verbrauchten zu viel Wasser. Jahrelang hat kein Mensch hier etwas gemacht.« Frank gestikulierte, zeigte hierhin und dorthin, und der Ring an seinem kleinen Finger glänzte im schwachen Sonnenlicht, das durch ein schmutziges Fenster drang. Der Verkehr auf der Broad Street wurde dichter und lärmender und zeichnete sich schattenhaft auf den Scheiben ab. »Aber was wollen Sie machen? Menschen sind keine Engel.«
Mary lächelte gegen ihren Willen. Jeder in Süd-Philly sagte solche Dinge, die man für Äußerungen der Zufriedenheit hätte halten können. Sie hätte antworten können: Ja, ja, Menschen sind keine Engel, sagte aber stattdessen: »Wissen Sie, als ich dieses Memorandum fand, habe ich mich gewundert. Warum sollte Joe die lange Reise nach Montana machen, um Amadeo mitzuteilen, dass Theresa gestorben ist? Es ist eine sehr lange Strecke, besonders in Kriegszeiten. Und es muss eine Menge gekostet haben, vor allem für einen Mann, der es gern billig hat.«
»Joe hätte die Reise ohne Zweifel dem Mandanten in Rechnung gestellt.« Frank hielt kurz inne. »Ich weiß nicht, warum er hingefahren ist, vielleicht einfach, um nett zu ihm zu sein.«
»So nett hört er sich in dem Memorandum nicht an.« Mary hatte letzte Nacht nicht geschlafen, weil sie ständig daran und an den dunklen Escalade in der Parklücke hatte denken müssen. »Ich meine, ist es wirklich nett, zu sagen: Ihre Frau ist tot, Sie sollten schnell darüber hinwegkommen.«
»Vielleicht ist er hingefahren, weil er Theresas Testamentsvollstrecker war. Ich weiß es nicht.«
»War er das? Hatte Theresa ein Testament gemacht?«
»Ich weiß nicht.«
Mary schüttelte verwirrt den Kopf. »Es ist Ihre Kanzlei, Frank. Hätten Sie es nicht erfahren, wenn sie eine Mandantin war? Wenn der Gründer Ihrer Kanzlei ihr Testamentsvollstrecker war, hätten Sie das nicht gewusst?«
»Kommt darauf an. Wann ist sie gestorben?«
»1942, kurz nachdem Amadeo ins Lager gekommen war. Tony war an der Front.«
»Wir sprechen über das Jahr 1942, nicht, Mare? Liebe Güte!« Frank streckte abwehrend die Hand aus. »Wenn es wirklich ein Testament gab, würde ich es nicht mehr haben. Ich habe schon im Tresor nachgesehen, wo wir alle Testamente aufbewahren, aber aus diesen Jahren ist nichts dabei. Es ist zu alt. Es ist nicht mehr wichtig.«
Es wäre auf jeden Fall wichtig, wollte Mary sagen, tat es dann aber nicht. Sie wusste, dass es Geld kostete, juristische Unterlagen zu archivieren, und Anwälte wie Frank verfügten nicht über die Mittel einer Kanzlei wie Rosato & Associates.
»Es ist alles weg, genau wie die Firmenunterlagen der Brandolinis. Ich bin erst 1985 in die Kanzlei eingetreten. Für mich ist schon 1980 ein Archivjahr. Und 1943 ist nirgendwo. « Frank schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Als Joe 1981 die Kanzlei verließ, hat er die alten Akten mitgenommen. So haben sie es gehandhabt, er und Locaro. Haben Mandanten und Akten untereinander aufgeteilt, und dann ist jeder eigene Wege gegangen. Das war 1981. Joe muss die Akten von Theresa und Amadeo gehabt haben, aber wer weiß, wo sie jetzt sind. Sie ist an Krebs gestorben, oder?«
»Nein, es heißt in dem Memorandum, dass sie in ihrem Haus die Treppe hinuntergefallen ist. Ich nehme an, sie hat sich das Genick gebrochen.«
»Eine Sünde.« Frank machte wieder das schnalzende Geräusch mit der Zunge. »Armer Tony, Krebs ist auch kein Spaziergang. Aber das war das Ende für ihn. Sie wussten das, richtig? Aber wenigstens ist es schnell gegangen.«
Mary dachte an ihre Mutter, schob den Gedanken aber schnell beiseite. »Waren Sie bei Tonys Beerdigung? Wo ist er begraben?«
»Natürlich war ich dort.« Frank sah auf die Uhr, die schwer und aus falschem Gold war, doch Mary wusste, dass es noch nicht einmal neun war. Er schüttelte sie an ihren Platz am Handgelenk zurück und hüstelte. »Er liegt auf dem Friedhof Our Lady of Angels.«
Es war der Friedhof des Viertels. Nur Mike war dort nicht begraben worden, weil sie es so gewollt hatte. »Und Amadeo? Liegt er auch dort?«
»Nein. Theresa ja, er nicht.«
Das bedeutete, dass Amadeo wahrscheinlich in Montana begraben worden war, wie jener andere Lagerinsasse.
»Wenn ich es mir recht überlege, bezweifle ich, dass sie ein Testament hatten. Sie hatten nicht viel Geld, so viel weiß ich.« Frank kicherte leise. »Amadeo bezahlte Joe gewöhnlich mit Krabben, die er gefangen hatte. Sie sind im ganzen Büro herumgelaufen, so schief, wie Krabben laufen, verstehen Sie?«
»Gut. Also wissen wir nicht, ob sie ein Testament hatten, und wir wissen nicht, warum Joe nach Montana fuhr. Wissen Sie, was ich noch nicht begreife?«
»Was, Mare?«
»Ich begreife nicht, warum Tony in dem Augenblick, als er einen Anwalt brauchte, um ein Testament zu machen, zu Ihnen gekommen ist und nicht zu Joe. Joe war der Familienanwalt, aber als Tony einen Anwalt brauchte, um den Besitz seines Vaters ausfindig zu machen, kam er zu Ihnen.«
»Joe war damals schon pensioniert. Außerdem bin ich als Anwalt viel besser, als Joe je war, das können Sie mir glauben. Aber ich will nichts Böses über ihn sagen, er soll in Frieden ruhen.« Frank bekreuzigte sich.
»Hatte Joe irgendwelche Partner, die vielleicht wissen, wo die Akte oder ein Testament sein könnten?«
»Nein. Joe hat immer allein gearbeitet und ist dann in den Ruhestand gegangen. Das hatte ich Ihnen doch schon gesagt. Diese Dinge waren damals anders, Mare.«
»Ja, offenbar.« Mary fügte nicht hinzu: Und es klingt alles verdammt falsch. Zum wiederholten Mal dachte sie, dass sie in der letzten Zeit nichts anderes tat, als nach unauffindbaren Akten zu suchen. »Könnten Sie noch einmal nachschauen? Ich weiß nicht, ob sie das Haus in der Nutt Street als Eigentümer oder als Mieter bewohnten, und ich kann die Bankauszüge nicht finden, weder die privaten noch die von Amadeos Geschäft. Früher befand sich in der Nutt Street eine Girard-Bank, mein Vater erinnert sich daran. Es war die Filiale in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft, und wahrscheinlich hatten sie dort ein Konto.«
»Na, sehen Sie.«
»Aber die Girard-Bank ist von der Mellon-Bank aufgekauft und die Filiale ist geschlossen worden, und bei Mellon kann kein Mensch Unterlagen über Amadeo oder Theresa Brandolini finden. Damals hat es natürlich noch keine Computer gegeben. Es gab nur Tinte und Papier.«
»Ich bin beeindruckt, Mare. Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.«
Mary seufzte. Ihre Hausaufgaben zu machen war ihre zweite Natur. Auf diese Weise machte sie alle ihre Schwächen wett.
Frank sah noch einmal auf die Uhr. Erst zwei Minuten waren vergangen. »Sie sagten, dass Sie keinerlei Geschäftsunterlagen im Kongressarchiv fanden?«
»Im Nationalarchiv. Nein.«
Er reichte ihr das FBI-Dokument. »Man darf nicht zu viel verlangen.«
Ich verlange nicht zu viel, wollte sie sagen. Ist das etwa zu viel verlangt? Sie schob das Papier wieder in ihre Aktentasche. Dann holte sie Amadeos schwarze Brieftasche heraus. Sie öffnete sie und gab Frank die Zettel mit den Zeichnungen. »Letzte Frage. Erinnern Sie sich an diese Zeichnungen? Sie waren in der Kiste mit den Sachen, die Sie mir von Tony gaben, als Sie mich baten, der Angelegenheit nachzugehen.«
»Nein, an die Sachen in der Kiste erinnere ich mich nicht.« Frank warf nur einen kurzen Blick auf die Zeichnungen, bevor er sie wieder in die Brieftasche steckte und ihr zurückgab.
»Es ist erst letztes Jahr gewesen. Sie haben sie mir gegeben, nachdem Tony gestorben war.«
»Mare, hören Sie, ich habe nicht in diese Kiste reingeschaut.« Frank lehnte sich mit aufgestützten Armen auf den Tisch. Dabei schob er die Schultern vor, so dass die Ärmelnähte aussahen, als würden sie gleich platzen. »Wissen Sie, wie viele Leute hier in mein Büro kommen und mir eine Zigarrenkiste bringen? Eine Schuhschachtel? Eine zerknitterte Einkaufstüte von irgendeinem Billigladen? Wissen Sie, was die Leute da ansammeln, jahrzehntelang? Glauben Sie, ich schaue mir dieses Zeug an?« Franks Stimme wurde vor Ärger immer lauter, aber Mary war daran gewöhnt, dass man sich über sie ärgerte. Immer, wenn sie ein wenig mehr verlangte, als üblich war, fingen die Leute an, sich über sie zu ärgern.
»Wissen Sie, ob die Kiste noch aus der Zeit stammte, bevor Amadeo ins Lager kam? Oder aus der Zeit danach?«
»Das weiß ich nicht. Tony hat sie mir gegeben und gesagt, es seien die Sachen seines Vaters. Das ist alles, was ich weiß. Jetzt können Sie mir einen Strick daraus drehen, wenn Sie wollen.«
Mary sah sich die Zeichnungen noch einmal an. Die groben Bleistiftlinien. Die Kreise. »Ich glaube, Amadeo hat das gezeichnet, und ich glaube, dass diese Sachen ihm etwas bedeuteten. Was denken Sie?«
»Ich denke, dass ich jetzt zu arbeiten habe. Jetzt gleich.« Frank räusperte sich. »Ich muss meine Brötchen verdienen.«
»Nur noch eine Minute. Wissen Sie, was diese Zeichnungen hier bedeuten?« Mary deutete auf einen der Kreise.
»Nein.«
»Sie sehen wie etwas ganz Bestimmtes aus, nicht?«
»Nein.«
»Wie können Sie das sagen, wenn Sie nicht einmal Ihre Brille aufhaben?«
»Ach, zum Teufel.« Frank nahm die Brille, setzte sie auf und blätterte die Zettel durch. Mary beobachtete ihn. War er nur nervös, oder war etwas an den Zeichnungen, das ihm missfiel? Er schien in diesem Augenblick noch reizbarer zu sein als vorher.
»Wie Sie sehen, hat er diese Kreise mehrmals gezeichnet. Es sieht doch aus wie ein Kreis, oder?«
»Nein, es ist nur so ein Gekritzel. Er malt einfach irgendetwas immer wieder.« Frank warf ihr über den Rand seiner Brille einen herausfordernden Blick zu. »Das war’s. Schluss, aus, Ende.«
»Na gut, ich lasse Sie jetzt arbeiten.« Mary nahm die Zeichnungen, faltete sie zusammen und steckte sie wieder in die Brieftasche. »Danke, dass Sie mir so viel Zeit geopfert haben.«
»Nein, was ich meinte, war: Schluss mit den Brandolinis. Es ist Zeit, die Sache aufzugeben, Mare.« Frank stand auf und rückte seinen Gürtel zurecht. Mary hörte Münzen in seiner Tasche klimpern. »Sie haben versucht, für die Stiftung Entschädigungen zu erhalten. Das ist fehlgeschlagen. Dafür müssen Sie sich nicht schämen. Sie sind sogar nach Washington gefahren und haben das alles für uns getan.«
»Ich gebe nicht auf, Frank«, sagte Mary überrascht.
»Es tut mir Leid, dass ich Sie auf diese Fährte gesetzt habe, die ins Nichts führt. Jetzt ist es Zeit, die Sache ruhen zu lassen und sich auf profitablere Dinge zu konzentrieren.«
»Es geht mir nicht um Geld. Es macht mir Spaß, und irgendwann werde ich etwas herausfinden. Sie kennen mich. Ich gebe nie auf. Erinnern Sie sich an das Spiel gegen die Mannschaft von Vecchia? Wie wir da am Schluss noch mal losgestürmt sind?«
Falls Frank sich daran erinnerte, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. »Es ist alles mein Fehler. Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Ich wollte Tonys letzten Wunsch erfüllen. Gerechtigkeit für seinen Vater und so weiter, und Sie wissen ja, wie das ist, wenn die ganze Nachbarschaft sich plötzlich solidarisiert. Ich werde ihnen sagen, dass damit jetzt Schluss ist. Sie müssen die Vergangenheit ruhen lassen. Okay?«
Aber Mary konnte ihm nicht zustimmen. »Sie können ihnen das nicht vorwerfen. Die Vergangenheit ist immer auch die Gegenwart.« So etwas Tiefschürfendes hatte sie noch nie gesagt. Wurde sie allmählich weise?
»Wir werden eine große Party machen, der ganze Circolo, um Ihnen für Ihre aufopferungsvolle Arbeit zu danken.« Frank fuhr fort, als ob er sie nicht gehört hätte, wie ein Anwalt, der vor Gericht steht und sich seiner Sache absolut sicher ist. »Sie haben einen Vorschuss bekommen. Nun muss ich Ihnen sagen, dass es leider nicht möglich ist, Sie weiter zu bezahlen. Der beste Zeitpunkt, um aufzuhören.«
»Wollen Sie mir damit sagen, dass Sie mich feuern?« Mary spürte, dass ihr der Mund aufklappte, und Frank sah auf sie herunter. Er war größer, als sie gedacht hatte. Sie stand ebenfalls auf, mit der Aktentasche in der Hand. Er war wirklich erstaunlich groß.
»Ich feuere Sie nicht. Ich sage Ihnen nur, dass Sie aufhören sollen.«
»Ich will nicht aufhören.«
»Mein Mandant ist der Circolo, und wir können Sie nicht länger bezahlen. Das Geld, das Tony dafür bestimmt hat, ist aufgebraucht.«
»Sie haben mich nicht bezahlt. Ich arbeite an diesem Fall schon seit einem Monat ehrenamtlich.«
»Und Rosato ist einverstanden?« Frank ließ ein unbehagliches Lachen hören, und Mary fühlte einen Verdacht in sich aufflammen. Warum sollte er eine Anwältin feuern, die umsonst arbeitet? Doch sie verzog keine Miene.
»Wir werden sehen. Können Sie inzwischen die Akten prüfen und mir die Fragen beantworten, die ich Ihnen gestellt habe?«
»Nein, das werde ich nicht tun.« Frank hatte sich wieder hingesetzt, aber Mary glaubte ihm kein Wort. Falls er etwas vor ihr verbarg, war er sogar ein noch schlechterer Schauspieler als ihr Vater. Frank wollte, dass sie die Finger von diesem Fall ließ, und irgendetwas daran roch fauler als die faulste Jerseykrabbe. Mary konnte es nicht glauben. Das Bild, das sie von Frank hatte, passte einfach nicht dazu. Früher hatte er das ganze Volleyballteam zu Kirscheis an einem Stand in der Wolf Street eingeladen, Eis in Pappbechern, in denen bunte Plastikschirmchen steckten. Aber offensichtlich war das sehr lange her. Sie sah ihn herausfordernd an, nahm ihre Aktentasche, Handtasche und eine weiße Schachtel mit Kuchen, die sie in der Bäckerei gegenüber gekauft hatte, und warf ihm ein typisches Mary-Lächeln zu.
»Frank. Sie werden mir diese Fragen beantworten, oder ich werde das Ganze meiner Mutter erzählen.«
»Unterstehen Sie sich!«, sagte er mit einem trockenen Lachen, und Mary ging hinaus.
Sie hörte sein Lachen noch im Treppenhaus.