Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 5
1
Оглавление»Rosato & Associates«, sagte Mary DiNunzio in den Hörer und hätte sich gleich danach am liebsten selbst in den Hintern getreten, weil sie abgenommen hatte. Der Anrufer war der Tobende Tom, ein Mann, der die Polizei von Philadelphia, den Kongress der Vereinigten Staaten und einen stadtbekannten Homosexuellen verklagen wollte. Er hatte das Büro schon zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten angerufen, und Mary hatte Mitleid mit ihm. Offensichtlich hatte er heute seine Beruhigungspillen nicht genommen. Aber soeben hatte er eine der wenigen Anwältinnen der Stadt erreicht, die es ablehnten, gegen Homosexuelle zu Felde zu ziehen.
»Hier spricht Mr. Thomas Cott!«, schrie er. »Und wer sind Sie?«
»Mary DiNunzio. Wir haben gestern miteinander telefoniert –«
»Holen Sie Ms. Benedetta Rosato!«
»Ms. Rosato ist bereits nach Hause gegangen, Sir.« Mary sah auf die Uhr. 22 Uhr 16. Schon vor Stunden waren alle gegangen, und bis jetzt waren die Büroräume herrlich ruhig gewesen. »Das Büro ist geschlossen.«
»Was machen Sie dann noch dort, Ms. Mary DiNunzio?«
Gute Frage, Mr. Thomas Cott. Mary machte wieder einmal Überstunden, las, bis ihre braunen Augen rot waren und ihre Kontaktlinsen so trocken wie knusprige Cornflakes. Die Papiere lagen wild verstreut auf dem Konferenztisch, der aussah, als sei ein juristischer Schneesturm darüber hinweggefegt, und ihr kräftiger Körper war so lange in dem Drehstuhl eingezwängt gewesen, dass sie sich wie ein Hackfleischbällchen fühlte. »Mr. Cott. Ich werde Ihre Nachricht entgegennehmen und Bennie sagen –«
»Ich weigere mich, eine einzige weitere. Nachricht zu hinterlassen! Holen Sie Ms. Benedetta Rosato ans Telefon! Ich verlange Auskunft darüber, warum sie mich nicht vertreten will! Sie ist auf Verfassungsrecht spezialisiert, das steht im Computer!«
»Im Computer?«
»In der Bibliothek! Auf der Website, Ihrer Website! Genau dort! Das nennt man Irreführung der Öffentlichkeit! Was ist mit meinen verfassungsmäßigen Rechten? Sie haben nichts zu bedeuten? Ich bedeute nichts?«
»Mr. Cott. Kein Anwalt kann jeden Fall annehmen«, antwortete Mary und zögerte dann. Bennie hatte ihren Angestellten eingeschärft, sich mit dem Tobenden Tom nicht einzulassen, aber wenn sie es ihm erklären konnte, würde er vielleicht aufhören, sie ständig anzurufen. »Ich glaube, Bennie hat Ihnen bereits erläutert, dass sie nicht glaubt, dass Ihr Fall vor Gericht bestehen kann. Sie hat schon viele Prozesse geführt, und ihr Ruf in Fragen des Verfassungsrechts ist ausgezeichnet, also –«
»Diese Richter haben doch Dreck am Stecken! Jeder von denen spielt ein falsches Spiel, jeder! Die ganze Justiz ist ein einziger Sumpf aus Untreue und Korruption! Sie stecken alle mit dem Bürgermeister unter einer Decke!«
»Mr. Cott. Die Richter unseres Bezirksgerichts spielen kein falsches Spiel, und Ihr Fall käme sowieso vor das Bundesgericht –«
»Ihr könnt mich nicht für dumm verkaufen, ihr alle! Holen Sie Ms. Benedetta Rosato sofort ans Telefon! Ich weiß, dass sie da ist! Sie muss da sein, denn sie ist nicht zu Hause!«
Mary zog die Augenbrauen zusammen. »Woher wissen Sie, dass sie nicht zu Hause –«
»Ich bin hingegangen! Zu ihrem Haus! Ich hab an die Tür geklopft, hab darauf gewartet, dass sie mir aufmacht! Die Fenster waren dunkel!«
Mary spannte unwillkürlich die Arme an. »Woher hatten Sie ihre Adresse?«
»Sie steht im Telefonbuch, ich hab nachgeschaut! Glauben Sie etwa, ich bin unfähig? Ich habe vielleicht keinen Doktortitel, aber ich bin nicht unfähig, MS. MARY DINUNZIO!«
Mary hatte plötzlich kein Mitleid mehr mit ihm. Er schrie immer lauter, brüllte fast.
»ICH SAGTE, HOLEN SIE MS. BENEDETTA ROSATO ANS TELEFON, UND ZWAR SOFORT! ICH WEISS, dass sie bei Ihnen ist!«
»Mr. Cott, wenn Sie sich bitte mäßigen –«
»LÜGEN SIE MICH NICHT AN! Wagen Sie es bloß nicht, MICH ANZULÜGEN!«
»Mr. Cott, das tue ich –«
»Ich komme zu Ihnen, Sie verdammte verlogene Hure! Ich komme zu Ihnen und ERSCHIESSE SIE –«
Mary legte auf. Sie konnte nicht mehr. Plötzlich senkte sich Stille über den Konferenzraum. Die Luft fühlte sich stickig an. Es dauerte einen Moment, bis sie rekapitulieren konnte, was gerade passiert war. Nun gut, der Tobende Tom hatte wahrscheinlich zu viele Pillen genommen und hatte sich in einen echten Psycho verwandelt, und das war gar nicht lustig. Bennie war bei einem Abendessen des Anwaltsvereins, das aber bald zu Ende sein würde. Sie war vielleicht schon auf dem Heimweg. Mary musste sie warnen. Sie streckte die Hand aus, um ihre Chefin auf dem Handy zu erwischen.
Brrrrr, Brrrrrr! Unter ihrer Hand klingelte das Telefon, was an ihren Nerven zerrte. Brrrr! Sie biss die Zähne zusammen und ließ es noch zweimal klingeln, bis sich der Anrufbeantworter einschaltete. Sie hätte sich nie auf den Tobenden Tom einlassen sollen. Wann würde sie so etwas endlich lernen? Ihre Reflexe waren die des braven Mädchens – sei hilfreich, edel und gut, und sag immer die Wahrheit! – , doch in der Praxis der Rechtsprechung taugten sie nicht das Geringste.
Mary drückte auf die Taste ihres Direktanschlusses und rief Bennie an, aber Bennie antwortete nicht. Sie hinterließ eine ausführliche Nachricht und legte mit einem unbehaglichen Gefühl wieder auf. Sie würde sie in fünf Minuten noch einmal anrufen, um sicherzugehen, dass ihre Chefin die Nachricht erhalten hatte.
Sie lehnte sich in ihrem Drehstuhl zurück und wünschte auf einmal, sie wäre nicht allein im Büro. Sie blickte zur Tür des Konferenzzimmers und war überrascht, dass von draußen kein Licht hereinfiel. Wer hatte das Licht am Empfang ausgeschaltet? Vielleicht die Putzfrauen, als sie gegangen waren.
Ich komme zu Ihnen und erschieße Sie.
Sie blickte unverwandt zum Telefon, forderte es zum erneuten Klingeln heraus. Sie nahm den Hörer nicht vom Apparat, denn in der Kanzlei waren alle gehalten, Drohanrufe aufzuzeichnen, damit sie als Beweismittel verwendet werden konnten, falls man Beweismittel brauchte. Mary stellte sich flüchtig die Frage, ob es nicht auch andere Karrieremöglichkeiten für sie gab als in dieser Branche, in der man ständig die Wut von allen möglichen Leuten auf sich zog und als Klischeefigur in Werbespots auftauchte.
Dann beschloss sie, sich zu beruhigen. Der Tobende Tom hatte ein bisschen Dampf abgelassen, und in der Eingangshalle des Gebäudes gab es Sicherheitsleute. Der Wachmann würde niemanden nach oben lassen, ohne sie vorher anzurufen, besonders zu dieser nachtschlafenden Zeit. Heutzutage kam man ohne Ausweis und Pfandbrief an den Sicherheitsleuten nicht mehr vorbei.
Sie machte sich wieder an die Arbeit, steckte eine dunkelblonde Locke in ihren lose gebundenen Zopf zurück und nahm das Dokument wieder in die Hand, das sie gerade studiert hatte. Es war ein Brief vom 17. Dezember 1941 vom Büro des Kommandeurs der Militärpolizei, einer Bundesbehörde, die es nicht mehr gab. Das Schriftbild ließ zu wünschen übrig, weil es die Fotokopie einer abfotografierten Karbonkopie war, und unter anderen Umständen hätte Mary das schiere Alter des Dokuments vielleicht in Begeisterung versetzt. Jeder in der Kanzlei nannte ihren Fall den »Historienschinken«, aber sie liebte Historienschinken. Sie liebte den Fernsehsender für historische Geschichten.
Auf einen gelben Klebezettel kritzelte sie NUTZLOS, dann klebte sie ihn auf den Brief und legte diesen auf den NUTZLOS-Stapel vor ihr. Sie wollte gar nicht genau wissen, wie hoch der NUTZLOS-Stapel schon war, weil es NUTZLOS wäre. Sie war von Dokumenten und Papieren umgeben, auf dem Tisch und in Kisten an der Wand des Konferenzzimmers. Irgendwo in diesen Unterlagen befand sich die Akte eines Mannes namens Amadeo Brandolini. Amadeo war aus Italien nach Philadelphia eingewandert, wo er geheiratet, einen Sohn bekommen und ein kleines Fischereigeschäft aufgebaut hatte. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war er vom FBI verhaftet und zusammen mit Zehntausenden weiterer Italo-Amerikaner gefangen genommen worden – mit Hilfe eines Gesetzes, das dafür bekannt geworden war, dass es die Internierung der Japaner in Amerika ermöglicht hatte. Amadeo hatte alles verloren und schließlich im Lager Selbstmord begangen. Der Nachlassverwalter seines Sohnes hatte Mary engagiert, damit sie Entschädigungsgelder einklagte. Sie empfand Trauer, wenn sie an ihn dachte. Sehr wenige Historienschinken im Fernsehen hatten ein Happy End, das war schließlich der Grund dafür, warum die Zuschauerzahlen konstant niedrig blieben.
Brrrrr! Das Telefon klingelte, und Mary sprang auf. Es musste der Tobende Tom sein, der sich wieder meldete, denn sie hatte Bennie gebeten, sie auf ihrem Handy anzurufen, und es gab niemand anderen, der sie um diese Zeit anrufen würde, deshalb war sie ja noch hier und arbeitete. Vielleicht bestand zwischen den letzten beiden Tatsachen noch eine andere Verbindung, doch Mary hatte im Augenblick wenig Lust, privaten Fragen nachzugehen. Ihre Arme, ihre Schultern, ihr Nacken, alles war völlig verspannt. Brrrrrr! Brrrrrrrrrrr!
Endlich hörte das Klingeln auf. Wieder herrschte Schweigen im Konferenzzimmer. Mary wartete darauf, dass das Schweigen seinen furchterregenden Charakter verlor, aber das geschah nicht. Der Empfangsbereich war immer noch dunkel. Sie versuchte, sich zu entspannen, aber es gelang ihr nicht. Trotz der Tatsache, dass sie sich zweiunddreißig Stockwerke über dem Erdboden befand, ertappte sie sich dabei, dass sie ständig ängstliche Blicke über die Schulter warf. Draußen war es dunkel, und im Spiegel der Fenster sah sie das funkelnde neue Konferenzzimmer, einen Tisch voller Pappbecher und eine tragische Heldin, die Anwältin war.
Ich komme zu Ihnen und erschieße Sie.
Mary drehte sich um, nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer von Bennies Handy. Wieder hörte sie nur die Automatenstimme der Mailbox; sie hinterließ eine weitere Nachricht, diesmal in leicht hysterischem Ton. Dann legte sie auf und sah noch einmal auf die Uhr. 22 Uhr 36. Es war spät. Sie wollte nicht hier sitzen und warten, bis er wieder anrief. Sie konnte sich ohnehin nicht mehr konzentrieren. Es war Zeit, zu gehen. Sie stand auf, stopfte ihre Aktentasche mit Papieren voll, nahm ihre Handtasche und verließ das Konferenzzimmer. Ledersessel und Couch waren schwarze Schatten vor der dunklen Empfangstheke, und Mary hastete daran vorbei zum Aufzug, der minutenlang nicht kommen wollte. Als er endlich vor ihr hielt und sie einstieg, fiel ihr das Atmen etwas leichter, und als er die Eingangshalle erreichte, stieg sie aus und sah sich um, und ihr Puls schlug allmählich wieder mit normaler Geschwindigkeit.
Die mit falschem Marmor ausgelegte Halle war hell und leer, bis auf einen Wachmann hinter der Sicherheitstheke, ebenfalls aus falschem Marmor. Er war für ihr gegenwärtiges Sicherheitsbedürfnis ein wenig zu schläfrig. Sie kannte ihn. Es war Bobby Troncello, ein Amateurboxer aus der Nachbarschaft, und er war offensichtlich über der Sportseite der Zeitung eingenickt.
»Wach auf, Bobby«, sagte sie, indem sie geradewegs auf die Sicherheitstheke zusteuerte. Sie stellte ihre Aktentasche auf der polierten Oberfläche ab und sah den Mann streng an. »Wir haben ein Problem.«
»Was meinen Sie?« Bobby sah auf und rückte die dunkelrote Kappe über seinen dicken schwarzen Augenbrauen zurecht. Der Blick seiner braunen Augen war glasig, seine Nase breit und großporig; seine Lippen waren ausnahmsweise einmal nicht vom Training angeschwollen. Die Daily News lagen ausgebreitet auf der Theke vor ihm, die Seiten waren zerknittert, aber das Bikinimädchen war noch gut zu erkennen. Daneben stand eine Dose warmen Colas und eine Styroporschachtel, in der sein Abendessen gewesen war – ein Cheeseburger, von dem nur noch ein Rest bräunlichen Brotes, in Soße eingeweicht, übrig war.
»Ich habe gerade einen Anruf von einem sehr zornigen Mann namens Tom Cott erhalten. Ich weiß nicht, wie er aussieht, aber er hat damit gedroht, herzukommen und mich zu erschießen.«
»O je.« Bobbys Stirn legte sich in unglückliche Falten.
»Sie sagen mir doch jetzt sicher, dass ich mir keine Sorgen machen soll.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Mare. Bennie hat uns schon gesagt, dass wir auf diesen Cott aufpassen sollen. Niemand gelangt nach oben, das wissen Sie. Wenn er hierher kommt, kümmere ich mich persönlich um ihn. Ich würde es doch keinem erlauben, sich an ein Mädchen wie Sie ranzumachen.«
Mary lächelte. Fast fühlte sie sich wieder sicher. »Heute Abend ist er zu Bennie nach Hause gegangen. Er hat gesagt, dass er die Adresse im Telefonbuch gefunden hat. Ich hab sie angerufen und eine Nachricht hinterlassen, die sie warnen soll, aber ich mache mir trotzdem Sorgen.«
»Um Rosato? Ich würde mir mehr Sorgen um ihn machen.« Bobby lachte und stand auf. Er streckte seine Arme, und die Muskeln zeichneten sich unter dem Stoff seines dunkelroten Blazers ab. Eine schwindelerregende Duftmischung aus billigem Rasierwasser und gebratenen Zwiebeln ging von ihm aus, als er sagte: »Wenn dieser Waschlappen sich mit mir anlegen will, sorge ich dafür, dass sie ihn mit einem Arschtritt von hier bis in die Broad Street befördern kann.«
»Aber er sagte, dass er mich erschießen will – oder uns, glaube ich.« Mary erinnerte sich kaum mehr an das, was der Tobende Tom noch gesagt hatte. Dass er sie eine Hure genannt hatte, beunruhigte sie mehr, als sie zugeben wollte, besonders in Zusammenhang mit der Todesdrohung. »Was ist, wenn er eine Pistole hat? Was ist, wenn er mit dieser Pistole zu Bennie geht?«
»Was soll sein? Rosato hat auch eine.« Bobby schnaubte. »Sie pustet ihn um, bevor er Zeit hat, seine Hand in die Tasche zu stecken.«
Komisch, das macht es nicht besser. »Glauben Sie das wirklich, Bobby?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, alles ist in Ordnung. Sie sind überarbeitet. Jede Nacht bleiben Sie so lange. Ich rufe Ihnen ein Taxi.« Er griff nach ihrer Aktentasche, ging um die Theke herum und legte einen aromatisch duftenden Arm um ihre Schultern. »Übrigens – haben Sie sich schon entschieden wegen meinem Freund Jimmy? Soll ich einen Termin mit ihm vereinbaren?«
Mary verbarg ihre Bestürzung. Bobby versuchte schon seit langem, sie mit seinen Boxkollegen zu verkuppeln, einer Endlosschleife von Joeys, Billys und einem Mann namens Cooch. In letzter Zeit wollte überhaupt jeder sie verkuppeln, als seien alle plötzlich übereingekommen, dass Mary keine junge Witwe mehr bleiben konnte. Sie hatte nicht gewusst, dass es eine Sperrfrist dafür gab.
»Ich habe Ihnen doch schon von Jimmy erzählt. Wir waren zusammen bei Bischof Neumann, er ist wirklich ein netter Kerl. Er arbeitet als Installateur im Geschäft von seinem Vater, hat ein schönes Auto. Ist auf die Philadelphia Eagles abonniert, geht immer hin, wenn sie hier spielen. Sie könnten mitgehen, Mare.«
»Danke, aber ich glaube, ich möchte lieber nicht.«
»Sind Sie sicher?« Bobby führte sie zu der Tür aus goldglänzendem Metall, öffnete sie für sie und ging mit ihr hinaus auf den Gehsteig. Die Nachtluft fühlte sich rau an, und es gab fast keinen Verkehr mehr. Rosato & Associates waren in neue Büroräume in einem besseren Viertel gezogen, seitdem sie durch etliche Sammelklagen viel Geld verdient hatten, und hier in der vornehmen Gegend bekam man schneller ein Taxi. Bobby gelang es, fast sofort eines anzuhalten. »Kommen Sie schon, Mare, warum wollen Sie Jimmy nicht mal eine Chance geben? Er ist schon ganz schwermütig vom langen Warten.«
Mary lächelte. »Klingt echt romantisch.«
»Nein, wirklich, Sie müssen wieder in den Ring.« Bobby öffnete ihr augenzwinkernd die Autotür. »Kann ich ihm Bescheid geben, dass Sie mit ihm ausgehen?«
»Ein andermal vielleicht. Danke.« Mary machte es sich auf dem Rücksitz bequem, winkte Bobby einen Abschiedsgruß zu und gab dem Fahrer ihre Adresse. Es war ein älterer, kahlköpfiger Mann. Als Antwort nickte er bloß. Für einen Taxifahrer von Philadelphia war er merkwürdig schweigsam, und eine Sekunde dachte sie, dass er vielleicht kein Englisch konnte, doch auf seinem Ausweis stand »John Tucker«. Mit einem Ruck fuhr er los, und sie ratterten durch die dunklen, leeren Straßen der Stadt. Das Innere des Wagens fühlte sich seltsam hohl an. Vielleicht war es einfach nur zu sauber. Der schwarze Bodenbelag roch nach Erdbeerspray, der Kunstlederbezug der Sitze schimmerte, als sei er eben erst poliert worden, und der Sicherheitsgurt funktionierte wie geschmiert. Es war alles so untypisch für Philly, dass Mary sich ganz desorientiert fühlte.
»Sie halten Ihren Wagen sehr sauber«, sagte sie freundlich, aber er gab keine Antwort. Vielleicht hatte er sie nicht gehört.
»Dieses Taxi ist so ordentlich!«, sagte sie etwas lauter, aber er gab immer noch keine Antwort. Sie rutschte tiefer in den Sitz und sah aus dem Fenster, als sie, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln, an den dunklen Schaufenstern von Burberry’s und Kiehl’s vorbeikamen. Einige Geschäftsleute liefen die Straße entlang, die Männer mit gelockerten Krawatten, die Frauen mit schwingenden Handtaschen. An der Ecke Eighteenth/Walnut Street schrie ein zerlumpter Obdachloser irgendetwas; er erinnerte Mary an den Tobenden Tom. Sie holte ihr Handy aus der Handtasche und drückte die Wahlwiederholungstaste. Wieder war Bennie nicht zu erreichen, und sie hinterließ noch eine Nachricht. Sie klappte das Handy zu und beobachtete im Rückspiegel die Reaktion des Fahrers. Er sagte nichts, und sein Blick blieb starr nach vorn gerichtet. Schweigend fuhren sie, bis sie in ihrem Viertel angelangt waren und er mit mehr Schwung als nötig in ihre Straße einbog. Mary hatte unerklärlicherweise das Gefühl, ihm Unrecht getan zu haben, und als er vor ihrem Haus hielt, gab sie ihm einen Zehndollarschein, obwohl die Fahrt nur sechs Dollar gekostet hatte.
»Der Rest ist für Sie«, sagte sie, aber wieder nickte er bloß. Sie öffnete die Tür, nahm ihre Taschen und war kaum aus dem Wagen geklettert, als er aufs Gas drückte und lospreschte.
Ich komme zu Ihnen und erschieße Sie.
Die Stimme hallte in Marys Kopf, und dann kam ihr der schreckliche Gedanke: Der Tobende Tom konnte herausgefunden haben, wo sie wohnte. Er kannte ihren Namen; außerdem stand sie im Telefonbuch. Die Erkenntnis erschütterte sie, und dann fragte sie sich, warum sie nicht schon früher darauf gekommen war. Er konnte hier sein, in ihrer Straße. Sie beobachten. Jetzt, in diesem Moment. Mit einer Pistole.
Sie ließ ihren Blick die Straße entlangschweifen. Es war eine schmale Straße mit kleinen Backsteinhäusern. Die eine Straßenlampe am anderen Ende war nicht hell genug, um ihre Furcht verschwinden zu lassen. Einige ihrer Nachbarn hatten Lampen neben ihren Eingängen anbringen lassen, doch deren Licht reichte lediglich dazu, die Türen und Treppenstufen zu beleuchten. Die Gehsteige waren leer. Alle waren jetzt zu Hause. Ein paar Bäume, die dicht am Randstein wuchsen, rauschten im Nachtwind, und Mary betrachtete sie. Die Stämme waren zu schmal, als dass sich jemand hinter ihnen hätte verstecken können, aber der Tobende Tom war vielleicht dünn.
Ich komme zu Ihnen und erschieße Sie.
Mary hatte jetzt nur noch den dringenden Wunsch, ins Innere des Hauses zu gelangen, wo ihre Wohnung war. Das Licht über dem Eingang war ausgeschaltet, und im Dunklen rannte sie die Stufen der Vortreppe hoch und hatte schon die Hand in der Tasche, um den Schlüssel herauszuziehen. Zwei Häuser weiter, wo die Mendozas wohnten, gab es einen Streit; sie hörte es und fand es gleich darauf sonderbar, denn die Mendozas stritten sonst nie. Alles in dieser Nacht war sonderbar. War Vollmond, oder was? Sie zerrte den Schlüsselring aus ihrer Tasche, als sie drinnen das Telefon klingeln hörte. Sie ließ den Schlüssel ins Schloss gleiten, drehte ihn um und rannte hinein, rannte durch ihr dunkles Wohnzimmer zum Telefon. »Hallo«, sagte sie. Es war Bennie. Sie lachte.
»Du hörst nicht zu, DiNunzio. Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt mit diesem Kerl nicht reden.«
»Ich dachte, ich könnte ihm helfen. Ich bin gerade heimgekommen. Wo bist du?« Mary war noch nie so erleichtert gewesen, die Stimme ihrer Chefin zu hören.
»Ich bin zu Hause, gesund und munter.«
»Ist der Tobende Tom bei dir?«
»Natürlich nicht. Aber danke, dass du dir so viele Sorgen um mich machst. Erinnere mich daran, wenn es wieder mal Prämien gibt.« Bennie lachte erneut, und Mary nahm an, dass es ein schönes Abendessen gewesen war, bei dem ihre Chefin bestimmt ihr verfassungsmäßiges Recht auf Schokomartinis durchgesetzt hatte.
»Bennie, ich glaube, du solltest das hier etwas ernster nehmen.«
»Entspann dich, meine Liebe. Wegen Tom musst du dir keine Gedanken machen. Er redet nur.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Ich weiß es eben.«
»Hundertpro?« Mary fügte nicht hinzu, dass sie sich auch wegen sich selbst ein wenig Sorgen machte. Und dass der Tobende Tom sie mit einem Begriff bezeichnet hatte, der sie tief verletzte. »Er ist so ein elender Mistkerl!«
»Das ist er allerdings. Er ist ein Mistkerl, aber daran ist nichts zu ändern.«
Fast getröstet ließ sich Mary auf ihre Couch fallen, drückte auf den Schalter der Glaslampe auf dem Tisch und streifte ihre Pumps ab. Ein Schuh fiel auf den Teppich, und der linke landete mit dem Absatz nach oben vor der Eingangstür. Sie folgte ihm mit dem Blick und sah einen schmalen Lichtstreif unter der Tür. Hatte sie sie nicht richtig hinter sich zugezogen?
»Vertrau mir, mein Kind«, sagte Bennie. »Ich habe schon so viele Mordfälle gehabt. Es gibt die Kerle, bei denen man sich Sorgen macht, und die anderen, die völlig harmlos sind. Ich sag dir, wann es Zeit ist, wirklich beunruhigt zu sein.«
Mary beobachtete die Tür. Stand sie offen? Wo waren ihre Schlüssel? Ihre Hand war leer, sie hatte sie nicht bei sich. Sie musste sie in der Tür stecken lassen haben.
»Die Kerle, bei denen man sich Sorgen machen muss, sind die, die dich nicht bedrohen. Glaub mir, es gibt wirklich gefährliche Typen. Aber es sind die, die es nicht rausposaunen oder dir Warnungen zukommen lassen.«
Die Eingangstür des Hauses ging langsam auf. Mary erstarrte. War es der Wind? Oder stand jemand dort draußen? Jemand, der dabei war, ihre Tür zu öffnen!
»Die Gefährlichen, die wirklichen Mörder, die warten geduldig. Und dann, wenn der richtige Moment gekommen ist, schlagen sie zu.«
»Halt!«, rief Mary, ließ das Telefon fallen und sprang auf. Sie stürzte durchs Zimmer, riss die Schlüssel aus dem Schloss und warf die Tür mit beiden Händen zu. Gut. Ja. Puh. Sie lachte voll hektischer Erleichterung. Dann verriegelte sie die Tür und legte die Kette vor. Als sie sich umdrehte, um zum Telefon zurückzugehen, sah sie ihn.
Der Schatten eines Mannes, der am vorderen Fenster vorbeihuschte.
Mary erstarrte. Dann war er weg. Sie lauschte. Es gab kein Geräusch, keine Schritte, aber die Mauern ihres Hauses waren auch sehr dick. Vielleicht sollte sie die Tür öffnen und nachsehen?
Natürlich nicht! Bist du total verrückt geworden? Sie hetzte zum Telefon zurück und konnte ihre panische Angst nicht mehr unterdrücken.
»Bennie«, sagte sie atemlos. »Eben ist etwas Unheimliches passiert! Ein Mann ist ganz dicht an meinem Fenster vorbeigelaufen!«
»Wie sah er aus?«
»Wie ein Schatten!«
»Bleib ganz ruhig. War jemand draußen, als du heimgekommen bist?«
»Nein.«
»Und du bist eben erst gekommen.«
»Ja.«
Bennie lachte. »Dann ist jetzt sicher niemand da draußen.«
»Aber ich habe ihn gesehen!«
»Ein Schatten. Ein Schatten ist kein Mann, DiNunzio.«
»Und wenn es der Tobende Tom war? Er hat herausgefunden, wo du wohnst, dann kann er auch meine Adresse herausgefunden haben. Zu alldem ist er durchaus fähig.«
»Ach, Mary, wie du redest.« Bennie seufzte. »Du steigerst dich da in was hinein. Es ist Nacht, da gibt es Schatten. Du siehst Gespenster.«
Gespenster?
»Also, ist jetzt alles in Ordnung, oder muss ich kommen?«
Nein! »Ja!«
»Gut, dann geh ins Bett. Morgen früh werde ich mich um unseren netten Freund kümmern. Überlass ihn nur mir, und danke noch mal für den Anruf. Gute Nacht, Kleines.«
»Gute Nacht«, sagte Mary, aber als sie auflegte, war sie immer noch unruhig. Hatte sie einen Mann am Fenster gesehen? Hatte er die Tür geöffnet? Hatte sie sich das alles nur eingebildet? War es der Tobende Tom? Sie stand leicht schwankend auf und ging barfuß zum Fenster. Die Läden waren in der Mitte nicht zusammengehakt, und sie spähte durch den schmalen Spalt zwischen ihnen. Was sie sehen konnte, war nur ein Stück Straße; einen Streifen roten Backstein vom gegenüberliegenden Haus, ein Stück Dach und darüber schwarzer Himmel. Schwere Wolken verbargen die Sterne und den Mond.
Es war unwahrscheinlich, dass der Tobende Tom dort draußen herumlief, aber es war nicht unmöglich. Es gab gefährliche Menschen in dieser Stadt; das wusste sie, weil einer von ihnen ihren Mann umgebracht hatte. Sie waren nur zwei Jahre verheiratet gewesen, und Mike war ermordet worden, als er auf seinem Fahrrad den West River Drive entlanggefahren war. Ein Auto hatte ihn gezielt erfasst. Dass der Mörder mittlerweile in Haft saß, tröstete Mary nicht. Sie war Anwältin, und als solche versuchte sie noch immer, die Bedeutung von Recht und Gerechtigkeit zu begreifen. Doch das Einzige, was sie wirklich begriff, war die Bedeutung eines Verlusts.
Sie hakte die Läden zusammen, ging zum Schalter und löschte das Licht.
Und versank alsbald in der vertrauten Dunkelheit.