Читать книгу Tote ruhen nicht - Lisa Scott - Страница 12
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ОглавлениеMary wartete an der Bushaltestelle vor dem Gebäude, in dem Frank seine Kanzlei hatte. Zu dieser Zeit gab es nicht wenige Busse, die die Broad Street hinunterfuhren, und normalerweise hätte sie den nächsten genommen und wäre in zehn Minuten im Büro gewesen. Doch an diesem Morgen schob sich der Verkehr unendlich langsam vorwärts, und der richtige Bus war noch fünf Blocks weit entfernt. Während sie auf ihn wartete, ordneten sich ihre Gedanken. Frank wollte, dass sie die Finger von diesem Fall ließ. Warum?
Tuuut! Beim lauten Hupgeräusch eines erbosten Taxifahrers, der auf einen zerbeulten alten Transporter aufgefahren war, schreckte Mary hoch. Der Verkehr war offenbar völlig zum Erliegen gekommen. Die Autos standen Stoßstange an Stoßstange, die Straße war minutenlang von einer langen, bunten, hupenden Raupe erfüllt. Die Ampeln schalteten auf Grün, dann auf Rot, doch nichts bewegte sich. Mary hielt nach einem dunklen Escalade Ausschau. Keiner in Sicht. Sehr gut.
Es war sonnig, kühl und klar, gutes Wetter für eine Stadt, in der es vier Jahreszeiten gab: Herbst, Winter, Frühling und Feuchtigkeit. Sie entschloss sich zu einem Fußmarsch. Ihre Aktentasche war heute nicht besonders schwer, der Kuchen auch nicht. Philly war so klein, dass sie in zwanzig Minuten im Zentrum sein konnte, und damit würde sie vielleicht sogar schneller sein als der Bus. Sie machte sich in nördliche Richtung auf den Weg, ging an Leuten mit frischen Hemden und gebügelten Hosen vorbei, die Zeitungen und Papptassen mit Kaffee trugen. Sie alle arbeiteten in den Werkzeuggeschäften, Beerdigungsinstituten und Reinigungen hier in der Straße. Eine Kellnerin in schwarz-weißer Arbeitskleidung lief an ihr vorbei und betrat das große Café in der Broad Street; außer der Fliege, die sie trug, hatte niemand hier etwas Krawattenähnliches um den Hals.
Mary erreichte die Kreuzung und ging bei Rot auf die andere Seite; alle taten das, denn der Verkehr stand noch immer still. Die Autos krochen an ihr vorbei, und sie blickte über ihre Schulter. Der Bus war nur noch drei Blocks von ihr entfernt, er hupte laut, damit die Autos vor ihm die Spur frei machten. Schon als sie hier in die Schule gegangen war, hatte Mary ihren Bus überholt. Dann aber vergaß sie den Bus – hinter ihm stand ein schwarzer Escalade.
Sie beobachtete den Wagen und ging langsamer, um einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen. Ihr Herz pochte laut und schnell, aber sie schwang mit betonter Lässigkeit die Schachtel mit dem Kuchen. Dann fuhren die Autos ein paar Meter weiter, und sie verlangsamte noch einmal ihren Schritt. In der nächsten Minute sah sie ins Innere des Escalade – und nahm ein Paar auffällig korallenrot geschminkte Lippen wahr. Das gleiche Auto, aber ein anderer Fahrer. Sie atmete tief aus vor Erleichterung. Nein, sie hatte keinen Verfolgungswahn. Vielleicht irrte sie sich. Vielleicht hatte der Escalade letzte Nacht ganz zufällig vor ihrem Haus gehalten.
Sie beschleunigte ihren Schritt und blieb erst an der nächsten Kreuzung wieder stehen. Die Ampel zeigte rot, und daneben stand ein Straßenschild mit der Aufschrift »Nutt Street«. Amadeos Straße. Er hatte mit Theresa hier in einem Haus gelebt, sechs Blocks weiter in Richtung Osten. Mary bewegte sich nicht, als die Ampel auf Grün schaltete und all die Zeitungen und Pappkaffeebecher die Straße überquerten. Es würde nicht lange dauern. Der Bus hielt an einer Haltestelle, spuckte schwarzen Rauch aus dem Auspuff und gab einen lauten hydraulischen Rülpser von sich. Die Türen öffneten sich, Leute stiegen ein, aber Mary war nicht unter ihnen.
Sie bog nach rechts in die Nutt Street ein. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal auf dieser Seite der Broad Street gewesen war, aber sie wusste, dass es früher hier ganz anders ausgesehen hatte. Viele der ein- und zweistöckigen Häuser, die die Straße säumten, waren nur noch Ruinen. Die Vordertüren waren mit Brettern vernagelt, die Fensterscheiben zertrümmert; Graffiti überzog die Ziegelfassaden, und überall lag Abfall auf den Gehsteigen. Mary krampfte sich das Herz zusammen. Das Rathaus der Stadt war zu Fuß nur zehn Minuten weit entfernt. Wie war es zu diesem Verfall gekommen? Nach weiteren drei Blocks hatte sie ein Gefühl im Bauch, das viel schlimmer war als die Abneigung gegen Veränderung. Es war das Gefühl des Verlusts. Einfach und schlicht: Verlust.
Zwei halbwüchsige Jungen kamen ihr entgegen, in überlangen und überweiten T-Shirts über tief sitzenden, weiten Jeans. Es waren Inder oder Pakistanis, mit rabenschwarzem, glänzend gegeltem Haar, und als sie näher kamen, hörte Mary sie in ihrer Sprache miteinander sprechen. Als sie sie erreicht hatte, musterten sie sie von oben bis unten: eine weiße Anwältin mit Aktentasche und Kuchenschachtel. Misstrauisch beäugten sie ihr dunkelblaues Kostüm und die farblich passenden Pumps, die mit Straßenschmutz bedeckt waren. Als sie ein paar Schritte an ihr vorbeigegangen waren, brachen sie in Lachen aus. Sie war eine Fremde in dieser Gegend.
Die Nutt Street, die Mary in ihrer Jugend gekannt hatte, war damals fest in italienischer Hand gewesen; jetzt wohnten asiatische Einwanderer hier. Sie ging an einem kleinen Laden vorbei. Ein Schild aus leuchtendem gelbem Plastik war mit koreanischen Schriftzeichen bedruckt. Gegenüber war ein Perückengeschäft, in dessen Fenster platinblondes Haar auf charakterlosen Styroporköpfen feilgeboten wurde. Darunter wieder Schilder mit koreanischer Aufschrift. Mary kämpfte gegen die politisch unkorrekte Sehnsucht nach italienischen Bäckereien und Gemüseläden an, die hier einst gewesen waren, dann begriff sie, was eigentlich auf der Hand lag: Asiaten waren die neuen Einwanderer, und sie kamen aus den gleichen Gründen wie diejenigen, die vor ihnen hier gelebt hatten. Zum Beispiel Amadeo. Das war das, was bei allen Veränderungen gleich geblieben war. Und in der nächsten Minute stand Mary vor dem Haus Nutt Street Nr. 630.
Amadeos Haus. Sie betrachtete es zuerst von der gegenüberliegenden Straßenseite aus. Eine Front zeigte nach Osten und war jetzt von der Morgensonne beschienen. Es hatte zwei Stockwerke, und im Erkerfenster hingen abgenutzte dünne Vorhänge. Die beiden Schlafzimmerfenster des ersten Stocks hatten Läden, in denen einzelne Bretter fehlten. Die Ziegelfassade brauchte dringend eine Renovierung, der Mörtel bröckelte wie Zucker, und von der Eingangstür blätterte die schwarze Farbe ab. Neben dem Schloss gab es zwei kräftige Riegel, die die Tür versperrten. Auf der obersten Treppenstufe lag eine abgetretene schwarze Gummimatte.
Geh rein, sagte sich Mary.